Zu den Postulaten der klassischen literarischen Avantgarde gehörte die Befreiung des Worts von der Last konventioneller Bedeutung, mithin der Rückgriff auf «das Wort als solches». Um dem Wort ausserhalb und trotz seiner Bedeutung Eigenständigkeit zu verleihn, es also in seiner Laut- und Schriftgestalt hervortreten zu lassen, haben avantgardistische Dichter – Futuristen, Dadaisten, Surrealisten, Konstruktivisten – zwei unterschiedliche Verfahren angewandt, ein graphisches und ein sprachkünstlerisches.
Das sprachkünstlerische Verfahren besteht darin, Wörter entweder so zu assortieren, dass ihre Bedeutung verfremdet beziehungsweise aufgehoben wird («Kleeklang schwingt weiss wozu»; «Terenz in Gent / erntet nur Teer»; usf.), oder sie als bedeutungsleere Hülsen neu zu bilden, um dadurch die Aufmerksamkeit auf ihre sinnlich erfahrbaren Qualitäten zu lenken, ihre Klanglichkeit, ihre Buchstäblichkeit. Die meistzitierte Verszeile des russischen Kubofuturismus lautet: «dyrr bull stschüll»; ihr Autor, Aleksej Krutschonych, hat sie 1913 als reines, von jeglicher Bedeutung abgekoppeltes Klangereignis konzipiert und somit nicht nur dem Verständnis, sondern auch der Übersetzbarkeit bewusst entzogen, um einzig die lautliche Dimension der Wörter zur Geltung zu bringen. In andern Fällen wird auch diese Dimension ausgeblendet, so dass die Wörter nur noch visuell, also in ihrer Schriftbildlichkeit wahrgenommen werden können. Zu den bekanntesten Beispielen dieser Art gehören Raoul Hausmanns Gedichtzeile p g g i v – .. ? m ü, von Ardengo Soffici der unaussprechliche Slogan B Ï F § Z F + 18 oder von Kurt Schwitters die arationale Wortfolge Fümms bö wö tää zää Uu, pög iff, kw ii Ee.
Die Umlenkung der Lektüre auf «das Wort als solches» kann auch mit graphischen beziehungsweise typographischen Mitteln erfolgen, etwa durch die besondre Auszeichnung einzelner Wörter, Silben, Buchstaben (z.B. in Versalien, in Fettdruck usf.), durch die Verwendung disparater Schrifttypen und Schriftgrade, durch Abweichungen vom Satzspiegel und von der Linearität der Zeilen (z.B. gekrümmt geführte oder senkrecht gestellte Verse), durch Unterstreichung oder gar Durchstreichungen u.ä.m.
Gemeinhin – und fälschlicherweise – werden derartige Experimente als «Unsinnspoesie» rubriziert; die Austreibung der Bedeutung aus Wörtern und Versen verhindert wohl deren Verständnis, erleichtert aber ihre sinnliche, somit ästhetische Wahrnehmung und eröffnet dem Leser, der nun auch als Hörer und Betrachter gefragt ist, die eigne Sinnbildung.
aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern
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