Zuendezudenken

I

In der russischen philosophischen Kultur des 20. Jahrhunderts nimmt Lew Schestow – geboren 1866 in Kiew, gestorben 1938 als Exilant in Paris – eine singuläre Stellung ein. Als Philosophen kann man ihn nur bedingt bezeichnen, hat er doch weder ein philosophisches Studium absolviert, noch jemals einer philosophischen Schule angehört oder gar eine solche begründet, und es gibt auch kein einziges philosophisches Werk von ihm, das man vorbehaltslos als sein eignes bezeichnen möchte. Denn Schestow hat sich durchweg an Fremdtexten abgearbeitet, die er konsequent wider den Strich las, um sie, fast ausnahmslos, einer ebenso respektvollen wie vernichtenden Kritik zu unterziehen.
Wenn kaum einem Denker zwischen Platon und Husserl solche Kritik erspart geblieben ist, so aus dem einfachen Grund, weil Schestow am Leitfaden ihrer Schriften die Philosophie selbst grundsätzlich in Frage stellte und deren Erkenntnis-, Ordnungs- und Wahrheitsanspruch kompromisslos verwarf. Die Philosophie, verstanden als «System» oder als «Lehre», wollte er abgelöst sehn durch die permanente Tätigkeit freien Philosophierens, die keineswegs den Meisterdenkern vorbehalten bleiben, sondern von jedermann praktiziert werden sollte. Selbständiges kritisches Nachdenken und subjektive skeptische Nachdenklichkeit hielt Schestow für seine Daueraufgabe angesichts der «grossen Erzählungen», mit denen, seiner Überzeugung nach, die abendländische Philosophie die Lebens- wie auch die Glaubenswelt der Menschen eher verdunkelt denn aufgehellt und ausgedeutet habe. Durch freies eigensinniges Philosophieren, das durchaus widersprüchlich, aber auch poetisch sein durfte, sollten die deterministischen und reduktionistischen Lehrgebäude der Schulphilosophie zumindest erschüttert, wenn nicht gesprengt werden.
Und mehr als das – Schestows erkenntniskritischer Furor ging über die Philosophie weit hinaus, er liess keinerlei Konventionen, Normen, Dogmen, Gesetze gelten, lehnte sich nicht nur gegen jede Rationalität auf, sondern auch, ganz pauschal, gegen die auf formaler Logik und Kausalität gegründete «Autokratie der Vernunft», welche das menschliche Leben begradigt, es der Notwendigkeit unterworfen habe. Das Notwendige, das Allgemeine, das vermeintlich Evidente, kurz – das Abstrakte, also das von der gelebten Wirklichkeit «Abgezogene» war für Schestow «das Nichtige par excellence». Jeglicher dekretierten Ordnung zog er das Chaos vor, jeglicher Normalität den Taumel und die Raserei, jeder Gewohnheit den spontanen (ob schöpferischen oder destruktiven) Akt, jedem überlegten, verbindlich sein wollenden Wort – den Schrei, das Lachen, das Weinen, den liebenden Blick, die stumme helfende Geste oder das beredte Schweigen.
Die Sprache und vollends die Rhetorik konnte nach Schestow niemals der Wahrheit, bestenfalls der Richtigkeit dienstbar sein, und diese wiederum war für ihn nur als «Lüge» denkbar, als Verrat am Lebendigen, als Missachtung des «Allerwichtigsten». Einzig der Musik gestand der Philosoph die Fähigkeit zu, das «Allerwichtigste» adäquat zum Ausdruck zu bringen. Er selbst hatte einst Sänger werden wollen, überforderte sich jedoch beim Üben so masslos, dass er seine Stimme ruinierte und in der Folge zeitlebens an chronischer Heiserkeit litt – ein mehr als anekdotisches Faktum, das für seine Lebensauffassung wie für seinen Denkstil gleichermassen beispielhaft ist.

II

Dass sich Schestow bei seinem polemischen «Begriffssturm» nicht des üblichen akademischen Diskurses bedienen mochte, leuchtet ein. Wohl hat er rund ein Dutzend Bücher vorgelegt, doch handelt es sich dabei durchweg um heterogene, bisweilen sich überschneidende Textsammlungen, die er aus Essays, Aphorismen, Anekdoten, Lektürenotizen, Vortragsskripten oder Rezensionen locker komponiert hat, am ehesten vergleichbar mit Pascals Gedanken, Kierkegaards Brocken oder Nietzsches philosophischen Prosagedichten. Das umfangreiche, fragmentarisch gebliebne Werk Lew Schestows macht denn auch insgesamt den Eindruck, als würden hier, über Jahrzehnte hin, ein paar wenige Grundfragen unter wechselnden Gesichtspunkten lediglich variiert, ohne dass der Autor – und mit ihm der Leser – einer Antwort oder gar der Wahrheit näherkäme.
Schestow ging es aber gerade nicht um «richtige» Antworten, nicht um «gültige» Wahrheiten, sein Anliegen bestand darin, alt- hergebrachte Fragen unter dem Gesichtspunkt des «Allerwichtigsten» immer wieder anders zu stellen, bis zu der kritischen Grenze, an der sie – die Fragen nach dem Sinn des Lebens, des Leidens, des Sterbens, nach dem Schicksal des einzelnen Men
schen, nach dem Wesen des einen Gottes – sich als unbeantwortbar erweisen mussten. Erst dort, an der Schwelle zum Jenseits des Wissens, tut sich die Einsicht auf, dass die Wahrheit einzig durch Offenbarung zu erschliessen und nur im Glauben zu bewahren sei. Erst dort verliert die Last des Faktischen wie auch die Macht der Evidenz ihre Schwerkraft, ist aufgehoben in der Allgegenwart des Wunders.
Ein Wunder kommt hienieden ebenso selten vor wie eine geniale Schöpfertat, es ist rational nicht zu erklären, wird gemeinhin der Phantasie, bestenfalls dem Zufall zugeschrieben, hat deswegen aber keinen geringeren Wirklichkeitsstatus als die automatisierte Alltagsrealität und ist, Schestow betont es immer wieder, «unvergleichlich viel wertvoller» als diese. Das Wunder als Quelle aller Offenbarung ist dem Gläubigen vorbehalten und bleibt dem Wissenden – dem, der wissen will – verschlossen. Wissen schafft Notwendigkeit, macht also, nach Schestow, unfrei, wohingegen der Glaube jegliche Notwendigkeit aufhebt und dem Menschen die Freiheit überhaupt erst erschliesst.
Wer glaubt, ist versöhnt mit der Sinnwidrigkeit des Absurden, gerät unausweichlich in Konflikt mit jeder Art von Normalität und wird sich dem gesunden Menschenverstand ebenso entziehen wie den Gesetzen der klassischen Physik. Für den Gläubigen ist die angeblich falsche Gleichung 2 x 2 = 5 eine härtere Tatsache als die beweis- und anwendbare Rechnung 2 x 2 = 4. Im Gottglauben erreicht die Absurdität und damit die unverfälschte Wahrheit für Schestow ihren Gipfelpunkt, ist er doch dadurch bekräftigt und wachgehalten, dass Gott niemals antwortet, nichts bewirkt, nichts verhindert, nie seine Präsenz zu erkennen gibt. Und gerade darin besteht Gottes Allmacht – dass er nichts tut, obwohl er alles tun könnte, so wie das grösste Wunder Jesu darin bestand, dass er der Verführung, Steine in Brot zu verwandeln, nicht erlegen ist.
Das Wunder, meint Schestow, ist Wunder genug in der Möglichkeitsform, denn wo es tatsächlich eintrete, sei der Mensch in 
seinem Glauben und Streben nicht mehr frei. Nur durch Schmerz und Verzicht, durch Furcht und Zittern könne man dem «Allerwichtigsten» wie auch sich selbst näherkommen, nur durch Klage und Beichte und Gebet, nicht aber durch rationale Erkenntnis. Ein Leben ohne Schlaf und mit körperlicher Kasteiung, wie Blaise Pascal es zu führen versuchte, ein Leben in ständiger Seelenqual und sexueller Impotenz, wie es Sören Kierkegaard beschieden war, ein Leben zwischen Wahnsinn, Angst und schmerzlicher Luzidität wie dasjenige Friedrich Nietzsches – dies entsprach Schestows Vorstellung von Wahrheitssuche. Denn Wahrheit konnte nur unter Einsatz des eignen Lebens fassbar werden, und nicht durch irgendwelche noch so ingeniösen Definitionen oder Beweise.

III

Mit manchen seiner Überlegungen und Behauptungen scheint Schestow, der sich zum Lebensende hin ernsthaft dem Hinduismus zuwandte, esoterischen Bedürfnissen und einem naiven Wunderglauben nachzuhängen, weshalb ihn seine Kritiker denn auch als Träumer, Mystiker oder einfach als schusseligen Querdenker abqualifiziert haben – eine sicherlich verfehlte Einschätzung. Schestow war ein tragischer Denker und er war ein Denker des Tragischen insofern, als er das Denken (wie die menschliche Vernunft schlechthin) nur als eine Krankheit zu begreifen vermochte, die es konsequent bis zum Ende durchzustehn galt, weil einzig deren Überwindung die Einsicht in das «Allerwichtigste» eröffnen konnte. Dass er selbst die Überwindung des Denkens und die Kassation der Vernunft stets unter Einsatz eben dieses Denkens und eben dieser Vernunft betreiben musste, weil ihm keinerlei Offenbarungen, mithin auch keine Wunder zuteil wurden, war die Tragik seiner philosophischen Existenz – er blieb auf sein Wissen angewiesen und war in ihm befangen, nicht anders als seine Gegner an der Vernunftfront; nie fand er zu dem Glauben, der ihm zur Transzendierung aller Rationalität verholfen hätte.
Die schlichtesten, zugleich die gewaltigsten «Wahrheiten» waren für Schestow das Jesuswort «mein Gott, warum hast du mich verlassen» und das sokratische Diktum «ich weiss, dass ich nichts weiss». Sokrates wie Jesus haben ihre Verkündigungen mit dem Leben bezahlt. Dieser ist, verlassen von seinen Jüngern, in elender Gottesferne am Kreuz gestorben, jener nahm, umgeben von seinen Sympathisanten, mit souveräner Geste den Schierlingsbecher und gab sich, unablässig dozierend, den Tod. Beide haben, ohne je eine Zeile geschrieben zu haben, ihr Leben beispielhaft zum «Werk» gemacht und es auch folgerichtig durch ihr Sterben beglaubigt. Jesus freilich ist «auferstanden», hat sich im «Wunder» offenbart, «lebt» weiter und bleibt ein «Geheimnis», während Sokrates – hierin ein Mensch wie du und ich – definitiv gestorben ist und einzig in seiner aufklärerischen Lehre überdauert, die der Vernunft und dem Wissen Vorrang gibt vor der Offenbarung und dem Glauben. Dass Sokrates als der Weiseste aller Philosophen öffentlich sein Nichtwissen eingestand, hält Schestow für eine rhetorische Koketterie, durch die eine wahre Einsicht leichtfertig zur Lüge verfälscht werde. Anders Jesus, der angesichts des Äussersten und «Allerwichtigsten» keine Weisheiten mehr von sich gab, der vielmehr durch tiefste Zerknirschung ans Ende der Weisheit gelangte und damit auch zur Wahrheit, die «bei Gott» war.

IV

In Sokrates und Jesus sieht Schestow den Gegensatz von «Athen» und «Jerusalem» verkörpert, der für die Geisteswelt Europas prägend geworden sei und für zwei unterschiedliche Denkperspektiven stehe. Die von «Athen» eröffnete Perspektive eines rational fundierten systembildenden Denkens ist markiert durch Namen wie Aristoteles, Plotin, Augustin, Spinoza, Leibniz, Hegel oder Kant, während die von «Jerusalem» ausgehende vernunftkritische Richtung ihre führenden Vertreter unter andern in Luther und Shakespeare, Dostojewskij und Kierkegaard, Ibsen und Nietzsche findet. Dass «Jerusalem» – anders als «Athen» – auch den Dichtern offensteht und dass hier literarischen Texten sowie Mythen oder biblischen Geschichten ein besonderer Erkenntniswert zugestanden wird, weiss Schestow philosophisch produktiv zu nutzen: Wer in Bildern und nicht bloss in Begriffen zu denken versteht, kommt dem «Allerwichtigsten» allemal näher.
Die rationale «Erkenntnis, die sich uns als Zwang, als Gewalt über den Geist enthüllt», verwirft Schestow pauschal zu Gunsten eines mythischen Denkens, das allein jene Atmosphäre zu schaffen vermag, «worin der unterdrückte Geist frei wird und sich entspannt», und das damit auch eine «neue Erfahrung» erschliesst, «neue unmittelbare Gegebenheiten des Bewusstseins, eine neue Wirklichkeit und neue Möglichkeiten». Kraft dieser «affektiven Kategorie» können all die andern «seit Jahrhunderten eingeimpften intellektuellen Kategorien» durchbrochen werden. «Innerhalb der ‹Grenzen der Vernunft› (also in Athen) kann man eine Wissenschaft, eine hohe Moral, sogar eine Religion schaffen», meint Schestow: «Um aber Gott zu finden, muss man sich den Bezauberungen der Vernunft mit ihren physischen und moralischen Zwängen entwinden, um zu einer anderen Quelle (also nach Jerusalem) zu gehen.» Nur via «Jerusalem» vermöge das Denken auf das Leben eines je einzelnen Menschen einzuwirken, könne dessen Sinn erhellen, könne es ändern oder wenigstens erträglich machen, wogegen «Athen» als lebensfernes, wenn nicht lebensfeindliches Konstrukt keinerlei Einwirkung habe auf die Eigengesetzlichkeiten und Zufälligkeiten des menschlichen Daseins.
Keinem noch so «vernünftigen» Satz von Descartes oder Voltaire oder Kant würde Schestow irgendeine Relevanz für die alltägliche Lebenspraxis zuerkennen, sehr wohl indes einem Drama von Shakespeare oder Tschechow, einem Gedicht von Goethe oder Puschkin, einem Aphorismus von Nietzsche, denn Vision, Inspiration, Fiktion kommen, nach seiner Überzeugung, der Wahrheit allemal näher als begriffliche Argumente und Beweise.

V

Lew Schestows einzelkämpferische Generalattacke auf die Grundfesten «Athens» und damit auf die zentrale Bastion des abendländischen Denkens ist weitgehend folgenlos geblieben. Die althergebrachten Hilfskonstruktionen der Schulphilosophie sollten nicht dem Kahlschlag eines russischen «Gottesnarren» ausgesetzt werden, den man folglich lieber belächelte, als dass man ihn ernst genommen hätte. Dies ist wohl der Hauptgrund dafür, dass Schestow weder zu Lebzeiten noch postum nachhaltige akademische Anerkennung fand, ein Grund aber auch dafür, dass er – anders als seine universitären Verächter – eine weltweite, obzwar marginale Lesergemeinde zu erschliessen vermochte, für die sein Denken zur Überlebenshilfe, wenn nicht gar zu einer Disziplin asketischer Lebenskunst wurde, sei’s in den Vorstädten von Caracas oder Saõ Paulo, sei’s in Riga oder Yokohama.
Eine Gesamtausgabe von Schestows Schriften steht bis heute aus. Von der postsowjetischen Renaissance der Religionsphilosophie in Russland hat er kaum profitiert. Niemand hat als Partner oder Schüler seines Denkens überdauert. Selbst sein bestimmender Einfluss auf die französische Existenzphilosophie und die Literatur des Absurden, vorab auf Albert Camus, sowie auf Autoren vom Rang eines Georges Bataille, eines E.M. Cioran oder Eugène Ionesco ist weitgehend unerkannt geblieben, weil kaum jemand diesen Einfluss explizit gemacht hat – Schestow, dessen Hauptschriften schon früh ins Französische, Deutsche, Spanische übersetzt wurden, blieb allzu lang ein Geheimtipp, auf den man sich nicht eigens berufen musste und der sich entsprechend problemlos nutzen liess. Namentlich Jean-Paul Sartre und Albert Camus gehören zu diesen seinen allzu diskreten Nutzniessern – ohne Lew Schestows einsame Vorarbeit hätten Meistertexte wie Der Fremde, Der Mythos von Sisyphos oder Die Wand nicht entstehen können.

 

aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

0:00
0:00