Die ungeheuerliche Bedeutung, die Poe für uns behält und stets von neuem gewinnt, liegt nicht nur darin, daß er die juristische Wahrheitsfindung – das Verhör – als das einzig praktikable und deshalb allgemein verbindliche Kommunikations- beziehungsweise Instruktionsmodell der Zukunft erkannt hat (ein Modell, das heute in der Werbung weltweit Verwendung findet und in Form des massenmedialen Quiz bereits zur Alltagstrivialität geworden ist), sondern auch darin, daß er die Kriminal-, die Abenteuer-, die Gespenstergeschichte als erster in der Art wissenschaftlicher Versuchsanordnungen konzipiert hat, um allen Ernstes die Frage nach dem Autor – genauer: die Frage nach der Autorität des denkenden und sprechenden Menschen – zu stellen. Maelzels Schachspieler ist dafür ebenso beispielhaft wie der Stellv. Brigadegeneral John A. B. C. Smith, welch letzterer schon durch Rang und Namen als ein auktorialer Jedermann ausgewiesen ist, der stellvertretend für andere mit dem ABC umzugehen pflegt: der nurmehr als Kopf funktionierende, im übrigen aus lauter Prothesen bestehende Smith ist der Prototyp des modernen Schriftstellers, The Man That Was Used Up, der »Vernutzte«, wie Poe ihn bezeichnet, ein Ahne und zugleich das Vor-Bild Haupts.
(Es gab noch eine Möglichkeit, eine einzige, um Licht in das Leben des Autors zu bringen; um seine Existenz ein wenig aufzuhellen. Ich konnte ihn persönlich aufsuchen und von ihm ohne Umschweife die Lösung des lästigen Geheimnisses erbitten. Aus seinem Mund waren jedenfalls keine Zweideutigkeiten zu erwarten. Ich würde ganz offen mit ihm reden, in eindringlichem Ton, in knapp gefaßten Worten.
Es war noch früh, als ich mich melden ließ; der Autor war mit der Morgentoilette beschäftigt. Auf meine Einwendung, die Angelegenheit – ich sagte wohl: die Sache – sei dringend und dulde keinen Aufschub, wurde ich jedoch unverzüglich von seinem alten Sekretär, der während meines ganzen Besuchs anwesend blieb, in das Schlafzimmer des Autors geführt.
Natürlich schaute ich mich gleich schon beim Eintreten nach John A. B. C. Smith um, der mir von einigen seiner Fernsehauftritte als gutaussehender hochgewachsener Mann in Erinnerung war, konnte ihn aber nicht entdecken. Nur ein merkwürdig anmutendes, etwas zerschlissenes Bündel – ein großes, mehrfach verschnürtes Konvolut von Manuskripten, wie ich zunächst annahm – lag dicht vor meinen Füßen auf dem Teppich, und da ich mich nicht eben in der besten Stimmung befand, räumte ich es mit einem Fußtritt aus dem Weg.
»He, Sie da! Eigenartige Höflichkeit das, ich muß schon sagen …«, ertönte es halb quieckend, halb pfeifend aus dem Bündel: »Eh – ahem! …«
Beinahe hätte ich aufgeschrien, unterdrückte aber meinen Schrecken und ließ mich schwer in den am Fußende des Bettes stehenden Sessel fallen, um – ich vermute starren Blicks und offenen Munds – des Rätsels Lösung abzuwarten …
… stellte es sich heraus, daß Smith bei einem schweren Verkehrsunfall nicht nur sämtliche Extremitäten, sondern auch Teile des Rumpfs eingebüßt hatte, so daß seine körperliche Existenzform auf die lebenswichtigen Bauch- und Brustorgane sowie auf den Kopf eingeschränkt wurde, wobei dieser ebenfalls durch erhebliche Dauerschäden gezeichnet war.
Doch für alles – selbst für den zertrümmerten Gaumen – hatte sich Smith Ersatz verschafft; zu achtzig Prozent bestand er nun [oder setzte sich zusammen] aus diversen Edelhölzern, aus rostfreiem Stahl und Porzellan – Materialien, die für die Herstellung seiner Prothesen verwendet worden waren. Seit Smiths Unfall war es die Hauptaufgabe seines Sekretärs, ihm morgens die künstlichen Glieder und Organe zu montieren und ihn abends wieder zu zerlegen; ihn zur Ruhe zu bringen.
»Es war mir ein Vergnügen!« Mit diesen Worten wurde ich von Smith, nachdem ich seiner morgendlichen Auferstehung schweigend beigewohnt und dabei alle meine Fragen vergessen hatte, verabschiedet.
Ich bedankte mich in aller Form für seine Freundlichkeit und zog mich eilends zurück – vollkommen unterrichtet über den wahren, den wirklichen Stand der Dinge und gänzlich aufgeklärt über das Geheimnis, das mich so lange beunruhigt hatte …)
aus: Felix Philipp Ingold: Haupts Werk Das Leben
Ein Koordinatenbuch vom vorläufig letzten bis zum ersten Kapitel.
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