(Die wahre Methode, sich einen Goethe gegenwärtig zu machen, besteht darin, ihn in unserem Raume – nicht uns in seinem – vorzustellen. So tut’s die Literaturgeschichte, so auch die Anekdote. Goethe, so vorgestellt, duldet keine vermittelnde Konstruktion aus »großen Zusammenhängen«; nicht wir versetzen uns in ihn, er tritt in unser Leben.)
Es wird erzählt, daß Goethe an schwerer, mehr oder minder regelmäßig wiederkehrender Hypochondrie litt. Ganze Tage und Nächte saß er dann allein, in völliger Dunkelheit und Untätigkeit, und niemand hatte Zugang zu seinem Gemach. Am Hofe wurde dieses Leiden nicht erwähnt, man wußte, daß jede Anspielung darauf die Ungnade des Herzogs nach sich ziehen konnte.
Einmal, als Goethe sich in solchem Zustand befand, häuften sich in den Registraturen zahlreiche Akten, die eine unverzügliche Entscheidung verlangten, ohne seine Unterschrift jedoch nicht erledigt werden konnten. Aber niemand wagte es, mit einem Vortrag bei ihm einzutreten; die hohen Beamten wußten sich nicht zu helfen. Da geriet durch einen Zufall der Kanzlist Eckermann in die Vorzimmer des Verwaltungsgebäudes, wo die Staatsräte, leise klagend, beisammen standen.
»Was gibt es, Excellenzen? Womit kann ich Excellenzen dienen?« fragte der Kanzlist eilfertig und aufgeräumt.
Man erklärte ihm den Fall und bedauerte, von seinen Diensten keinen Gebrauch machen zu können.
»Wenn es weiter nichts ist, meine Herren«, antwortete Eckermann, »überlassen Sie mir die fraglichen Akten; ich bitte darum…«
Die Staatsräte, die kaum noch etwas zu verlieren hatten, ließen sich nicht ungern zur Übergabe einiger besonders dringlichen Akten an den rührigen Kanzlisten bewegen. Und dieser begab sich denn auch, das Konvolut unterm Arm, geradewegs zum Zimmer des Finanzkammerpräsidenten. Ohne anzuklopfen, ja ohne haltzumachen drückte er die Türklinke nieder; das Zimmer war unverschlossen.
Goethe saß, wegen der Verdunkelung zunächst kaum zu erkennen, im Schlafrock, zusammengekauert, hinter dem Schreibtisch; er war barfuß, stützte sein Kinn auf das linke hochgezogene Knie und kaute, in Nachdenken versunken, an den Fingernägeln. Eckermann trat zum Pult, tauchte die Feder ein und schob sie wortlos Goethe in die Hand, während er gleichzeitig ein erstes Schriftstück vor ihn auf den Tisch legte. Nach einem abwesenden Blick auf den Kanzlisten unterschrieb Goethe schweigend das Papier, dann ein weiteres, schließlich auch das letzte. Eckermann, seinerseits schweigend, verneigte sich und verließ ohne Umschweife den Amtsraum, um sich triumphierend in die Wartehalle zu begeben, wo voller Ungeduld die Staatsräte warteten.
»Unterschrieben!« rief er schon von weitem durch den Korridor: »Unterschrieben!…«
Die Staatsräte stürzten auf ihn zu und rissen ihm die Papiere aus den Händen.
»Unterschrieben? Ja?«
Atemlos beugten sie sich über die Akten. Niemand wagte mehr ein Wort. Als der Kanzlist, der doch wohl ein Lob erwarten durfte, nach einer Anstandspause näher trat, hoben die Herren, einer nach dem andern, sehr langsam den Kopf, und auch Eckermann konnte nun sehen – – – nein, er traute seinen Augen nicht – – – ja, sämtliche Akten waren unterzeichnet – – – aber kein Zweifel – – – da stand – – –
Und laut begann er nun zu lesen:
Eckermann …
aaaaaaaaaaaaEckermann …
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaEckermann …
(Mag der Kanzlist in seinem guten Willen scheitern an Goethes dämonischer Klugheit, das letzte Wort ist nicht gesprochen; es steht, als Signatur, geschrieben und ließe sich – wenn man wollte, und man sollte wollen – so verstehen, daß es das Schweigen gibt und das Schreiben, aber auch den Rest, welcher im Schweigen geborgen ist und aus dem Schreiben erst geboren wird; den Namen – des »Autors« …)
aus: Felix Philipp Ingold: Haupts Werk Das Leben
Ein Koordinatenbuch vom vorläufig letzten bis zum ersten Kapitel.
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