Ihr Sie

»Auch beim Vögeln«, schrie sie, »kommt ihr nicht über euer Spiegelstadium hinaus! …« Und weiter schrieb sie: »Ihr wollt uns immer nur stückweise haben, nur als Provinz, als Provokation, Kopf oder Bauch, Hand oder Fuß, immer den Ausschnitt, der in euren Rahmen paßt. Mal annektiert ihr die innere, mal die äußere Mongolei. Ständig verändert ihr die Karte, weil ihr die Wirklichkeit nicht ertragen könnt; weil ihr euch selber nicht ertragen könnt. Weil euch die Erde zu schwer ist. Weil wir für euch zu viele sind. Also greift ihr durch. Also braucht ihr Gewalt. Und wäre es auch nur in jener sanfteren Form: geliebt sein zu wollen; um selbst ganz zu sein! Wie Trümmerflora kriecht ihr über uns hinweg und wachst durch uns hindurch und wuchert in uns fort. Ihr seid immer ein klein wenig mehr als was ihr habt; mehr als nur ›ich‹. Während wir viel weniger haben als wir sind. Und dieses Wenige, versteht sich, das ist es, was ihr euch nehmt. Und was bleibt uns? Was uns bleibt, ist nichts; nichts anderes als was ihr bleiben laßt: Rest. Alle sind wir für euch gleich. Alle sind wir ›die da‹ –, die Frau. Denn eine Frau, was wäre das schon? wer? wir vielleicht? Noch schöner! Was aber, wenn auch ›wir‹ plötzlich nur noch ›ich‹ sein wollten? Statt einfach so gelebt zu werden; selber sein. So. Komm. Aber komm mir nicht zu nah. Ich will, daß du mich ganz hast. So wie du bist.«

 

aus: Felix Philipp Ingold: Haupts Werk Das Leben
Ein Koordinatenbuch vom vorläufig letzten bis zum ersten Kapitel.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

0:00
0:00