»Das geistige Sehen geht von den sinnlichen Wahrnehmungen aus, ist deren Kombination, verfährt durch Analogien, ist der sinnlichen Wahrnehmungen Erweiterung. Und zwar sind seiner Erweiterung keine Grenzen gesetzt. ›Wenn Phantasie sich … zum Ewigen erweitert.: Was ist Phantasie? Das Wort bezeichnet nur einen Grad des geistigen Sehens. Darum ist zwischen geistigem Sehen und sinnlichem Wahrnehmen die Grenze nie genau zu bestimmen. Im letztgenannten ist schon geistiges Sehen.« (Ludwig Hohl)
Was uns die Kunst (als bildende Kunst) »zu sagen« hat, bleibt beschränkt auf das, was sie über sich selbst und ihr Verhältnis zur Wirklichkeit aussagt, der sie intim angehört und die sie demzufolge nur vorstellen, nicht darstellen kann. – Und nur dort, wo sich das Gebilde als »Bild« dem Blick des Betrachters aussetzt und erschließt (nicht aber dort, wo figürliche oder gegenständliche Realitätsbezüge das Bild als »Darstellung« auf die von ihm dargestellte Wirklichkeit festlegen), wird ein intelligentes Sehen möglich, in dem sich Empfinden und Denken versöhnen und welches nicht allein das Auge, sondern den ganzen Menschen – den Menschen als ein Ganzes – aktiviert: den Augenmenschen. – Indem die Kunst (als konstruktive Kunst) darauf verzichtet, irgendetwas außerhalb ihrer selbst Liegendes abzubilden, einzubilden oder auch nur zu enthüllen, macht sie sich zur Offenbarung dessen, was sie – mit Bezug auf die Welt, in der wir leben – nicht mehr zu leisten vermag: sie repräsentiert nicht mehr, sie ist; sie bedeutet nicht mehr, sie präsentiert.
Nein, die Bilder bedeuten nicht mehr; sie bedeuten – wie Blanchot im Hinblick auf die Literatur der »Moderne« einmal angemerkt hat – nicht mehr den Schalten, auch nicht die Erde; sie repräsentieren nicht mehr jene Abwesenheit des Schattens der Erde, die der Sinn, die Klarheit des Schattens und die Transparenz der Erde ist. Ihre Antwort ist Undurchsichtigkeit … Die Verwandlung hat stattgefunden.
Ja, um das Bild sichtbar werden zu lassen, muß es undurchsichtig gemacht werden; denn das »durchsichtige« Bild (das altgewohnte »realistische« Maiwerk, welches »Durchblicke« in die Wirklichkeit gewährt) kann nur wahrgenommen werden als das, was es darstellt, während Undurchsichtigkeit dem Bild dazu verhilft, als das was es ist (und nicht mehr nur als das, was es bedeutet) wahrgenommen zu werden: als abstrakt-konkretes Kunst-Ding.
Doch der Vorsatz des Kunstwerks, ein Ding sein zu wollen; seine stumme Weigerung, bedeutungsträchtig zu werden, Zeichen oder auch bloß Signale zu setzen für etwas, das außerhalb – jenseits – seiner Erscheinungs-Form zu suchen wäre; der Treffer, vielleicht gar das Schicksal, zu dem es wird, indem es niemandes – weder des Künstlers, noch des Betrachters – Bild sein will, sondern lediglich Licht eines »ich«-losen Bewußtseins, sinnleeres Begehren, in sich zu gehen, sich selbst zu bergen, um sich zu verbergen vor – oder hinter – der Tatsache, daß es in Erscheinung tritt: all dies tut sich in ihm kund und ist ihm, wenn wir nur genug Augenmerk haben dafür, zu entnehmen.
Solche Kunst aber – das hat schon Mondriaan festgehalten – »trägt in sich das Ende der Kunst«, will sagen: das Ende der darstellenden, nachahmenden, literarischen, kurz – der kulinarischen Kunst, an der sich die Menschheit während Jahrhunderten schadlos hielt, indem sie sie nach Inhalten aller Art abfragte, ohne sich um das Verständnis jener spezifischen Formen-Sprache zu bemühen, welche allein durch aktives Sehen (und das heißt: durch das Sichtbar-Machen des Un-Sichtbaren) erschlossen werden kann. Es würden – dessen war sich Mondrian bewußt – »noch viele Jahre vergehen, bis die Menschheit die gegenstandslos-konstruktive Kunst (die er Neoplastizismus nannte) in ihrer ganzen Tragweite akzeptiert haben würde«.
Indessen setzt die gegenstandslose Bildgestaltung nicht nur jeglicher Art von Wirklichkeitsdarstellung in Malerei und Plastik ein ebenso logisches wie definitives Ende; vielmehr eröffnet sie, auf der andern Seite, eine neue und erneuernde Etappe der europäischen Kunstentwicklung insgesamt, die in der Folge einen derart radikalen Wandel räumlicher Vorstellungskraft und räumlicher Darstellungsweisen mit sich bringen wird: ein neues räumliches Bewußtsein, wie es – befreit von jeglichem literarischen und psychologischen Ballast – in den kosmischen, um eine vierte, ja eine fünfte Dimension erweiterten Welt-Bildern eines Malewitsch zum Ausdruck kommt, aber auch zum Ausdruck wird.
Die Kunst, so könnte man sagen, hat sich damit über den Sinn der Bilder hinweggesetzt; und was sie im Bildraum unterhalb aller Sinngebung – nämlich auf seiner Oberfläche – vorfand, war und ist der Ding gewordene Sinn ihrer selbst, eine leere Macht, mit der nichts mehr anzufangen ist, die schiere Ohnmacht, den Geist aufzugeben, mithin die eigentliche Bestimmung unbestimmter und sinnlos gewordener Existenz. Durch die Verdichtung und Verdinglichung ihres Sinns sind die Bilder zu opaken Tafeln – Ikonen – erstarrt und versteinert; sie haben gleichsam die Sprache verloren und sind im Verstummen, reine Erscheinung geworden.
Jedenfalls – so lautet der Entschluß des Malers – beeile ich mich und gehe heim und fange dann mit Malen an, wenn ich nichts mehr zu sagen, nichts auszuspeien und nichts von der Welt zu rekonstruieren habe. Der Mensch ändert sich …
… und mit ihm die Kunst; die Kunst des Sehens.
aus: Felix Philipp Ingold: Haupts Werk Das Leben
Ein Koordinatenbuch vom vorläufig letzten bis zum ersten Kapitel.
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