21. MÄRZ. In den Mittagsnachrichten, vor dem abschließenden Wetterbericht, heute die Meldung, es sei am frühen Morgen – rein zufällig – in einer Zweizimmerwohnung im neunten Stockwerk eines großen, am nördlichen Stadtrand von W. gelegenen Mehrfamilienhauses die Leiche eines achtzehn Monate alten Kindes männlichen Geschlechts entdeckt worden. Der Knabe sei nach ersten Erkenntnissen der Polizei verhungert, nachdem ihn seine Mutter, eine sechsundzwanzigjährige unverheiratete Frau, die inzwischen bereits verhaftet worden sei, vor etwa drei Monaten in der Wohnung eingeschlossen habe. Zur Begründung ihres Verhaltens habe die Frau angegeben, sie sei es überdrüssig gewesen, jeden Abend nach Arbeitsschluß – sie war Telephonistin bei einer Reiseagentur – gleich nach Hause zurückzukehren, um nach ihrem Sohn zu sehen. Ein Kindermädchen habe sie sich nicht leisten können, mit den Nachbarn habe sie keinen Kontakt gehabt. Kurz vor Weihnachten habe sie sich dann entschlossen, nicht mehr in die Wohnung zurückzukehren, sich statt dessen in ihrem Büro häuslich einzurichten und die Nächte, je nach Gelegenheit, bei Freundinnen oder Bekannten zu verbringen. Damit sei für sie das Problem gelöst gewesen.
Im Anschluß an die Nachrichtensendung war ein Interview zu hören, in dessen Verlauf einige Mieter jenes Wohnblocks darüber befragt wurden, welchen Eindruck sie denn von Frau B. gehabt hätten. Doch hat offenbar niemand Frau B. persönlich gekannt, es sei denn ganz flüchtig, vom Sehen. Ihre unmittelbare Wohnungsnachbarin erklärte auf die Frage, ob ihr denn die ganzen Wochen und Monate hindurch nichts aufgefallen sei, mit wütend unterdrückter Erregung, sie selbst habe vier Kinder zu versorgen, nein, aufgefallen sei ihr nichts, und überhaupt, wozu auch, jeder habe schließlich seine eigenen Sorgen, nun ja, aufgefallen sei ihr nur, aber das habe ganz sicher nichts zu bedeuten, sei ihr in den Weihnachtstagen aufgefallen, daß, ja, so ein Kratzen an der Wand, kein Geschrei, nichts gerufen, ein paarmal in der Nacht, so gegen vier, das Kratzen, es habe einfach so gekratzt, nein, nicht geweint, kein Weinen, kein Rufen gehört, nichts, nur ein bißchen gekratzt habe das, aber da könne man doch nicht gleich die Polizei holen, wo kämen wir da hin, und sowieso habe das dann aufgehört mit diesem Kratzen, und sie habe nicht weiter darüber nachgedacht, denn schließlich habe sie – »ich selber« – doch vier Kinder, »was bleibt da noch Zeit«, und so habe sie diese Sache da eben vergessen. Schluß.
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Seit einer Woche ungefähr, jeweils so gegen zehn Uhr vormittags, radelt hier vor meinem Fenster – ich wohne jetzt ziemlich weit draußen auf dem Land – mit entschiedenem Tritt eine vielleicht fünfzehn-, sechzehnjährige Frau in schwarzen Jeans vorbei, die auf ihrem weit nach vorn über den Lenker gebeugten Rücken ein Maschinengewehr mit sich führt, das ihr seitlich schwer an die Hüfte schlägt; ob es sich dabei um ihre Waffe handelt oder ob sie solche Waffen, Stück um Stück, von einem Versteck in ein anderes schafft – das freilich ist aus meiner Schreibtischperspektive nicht zu erkennen; es geschieht, hat also nichts zu bedeuten.
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Im Tagblatt, auf der letzten Seite unten rechts, finde ich heute eine knappe Notiz über den Unfalltod eines neunzehnjährigen Schwerbehinderten, der nach einem Frühlingsgewitter zusammen mit seiner ebenfalls schwerbehinderten jungen Frau im Rollstuhl eine abendliche Ausfahrt unternommen habe, in deren Verlauf er bei einem Wendemanöver aus dem Gleichgewicht geraten, kopfüber zu Boden gefallen und – vor den Augen der hilflosen Begleiterin – in einer mit Regenwasser vollgelaufenen Radspur von kaum zehn Zentimeter Tiefe ertrunken sei.
Die Meldung ist datiert vom 1. April; was diesen unfaßbar komischen Todesfall in seiner Tragik erst eigentlich glaubhaft macht.
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V. H., eben aus Brasilien zurückgekehrt, berichtet von einer neuen Erscheinungsform des Gewaltverbrechens in Sao Paulo.
Täglich, bei Einbruch der Dunkelheit, fluten Tausende von arbeitslosen Jugendlichen aus den peripheren Elendsquartieren in die Stadt um sich durch Einbrüche, Raubüberfälle, Entreißdiebstähle ihren Lebensunterhalt zu sichern. War es bis vor kurzem allgemein üblich, daß bei derartigen Aktionen die Opfer auf offener Straße brutal niedergemacht wurden, indem man sie von hinten in Hüfthöhe umfaßte und ihnen von links und von rechts ein Messer in den Unterleib stieß, so scheinen die Täter neuerdings, zumindest teilweise, zu einer sanfteren und eben deshalb weit entsetzlicheren Art der Gewaltanwendung übergegangen zu sein die darin besteht, das Opfer nach Möglichkeit nicht zu erschrecken, es freundlich zur Herausgabe seiner Habseligkeiten – Brieftasche, Schmuck, Uhr – aufzufordern und ihm gleichzeitig mit ruhiger Hand, fast zärtlich, über das Gesicht zu streichen, wobei dieses von den Rasierklingen, welche die Täter sich zuvor zwischen die Finger geklemmt haben, mehrfach aufgeschnitten und in eine einzige Wunde verwandelt wird.
Mag sein, daß in dieser neuen Erscheinungsform von krimineller Gewaltanwendung eine Tendenz zum Ausdruck kommt, die sich auch in den Rüstungsvorhaben der Großmächte – Giftregen, Neutronenwaffe, Nervengas – durchzusetzen beginnt.
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MÜNCHEN, 4. JUNI (AP). Von den Nachbarn unbehelligt, hat der Rentner Gerhard König sieben Jahre lang tot in seiner Einzimmerwohnung im Münchner Stadtteil Laim gelegen. Wie die Polizei am Freitag mitteilte, wurde die Leiche des 1907 geborenen Mannes erst entdeckt, nachdem sich die Bank des Rentners mehrfach an die Hausverwaltung gewandt hatte, weil sie über längere Zeit keinerlei Bewegung auf dem Konto Königs verzeichnete. Jeden Monat wurde lediglich die Rente überwiesen und die Miete abgebucht. Schließlich hat man die Wohnungstür mit einem Nachschlüssel der Hausverwaltung geöffnet. Die völlig zerfallene Leiche des vermutlich schon 1975 verstorbenen König lag im Bett, vor dem ein Häuflein verbrannten Unrats gefunden wurde. Ein Polizeisprecher meinte dazu, der Mann sei möglicherweise in betrunkenem Zustand zu Bett gegangen, habe sich eine Zigarette angesteckt und sei rauchend eingeschlafen; König dürfte demnach am Rauch erstickt sein. In der Wohnung fand man, aufgehängt an einer Wäscheleine, zahlreiche Ansichtskarten, die sich der Verstorbene in seinen letzten Lebensjahren aus verschiedenen Urlaubsorten im Schwarzwald jeweils selber zugesandt hatte.
(Das Sozialverhalten seiner Umwelt, sagte der Polizeisprecher weiter, sei vorbildlich gewesen: gute sieben Jahre lang sei Königs letzte Ruhe ungestört geblieben; auch in den ersten Wochen nach seinem Tod, als die Nachbarn einem penetranten Verwesungsgeruch ausgesetzt gewesen seien, habe niemand daran gedacht, in Königs Wohnung einzudringen oder die Leiche behördlich wegschaffen zu lassen. Das plötzliche Verschwinden des Mannes der mit ihnen im Haus gelebt hatte, und die völlig verschmutzten Fenster gaben ihnen nicht etwa zu denken, sondern erregten ihr Mitgefühl.)
Spiegel – die Katze von nebenan – hat diesmal eine kleine Eidechse mitgebracht; jetzt spielt sie mit ihr auf unsrer Terrasse hätschelt sie ein paarmal mit der weichen Pfote, faßt sie, etwas härter, im Genick, wirft sie hoch, hascht nach ihr, jagt sie in die Ecke, packt sie wieder, beißt ihr den Schwanz weg, läßt sie nochmals laufen, hastet ihr nach, schlägt und greift nach ihr, stellt sich mit den Vorderfüßen auf den zappelnden ledrigen Leib, den sie ruhig beschnuppert, kappt dann mit präzisen Bissen ein Beinchen nach dem andern, bis die Echse, wie ein Fisch sich windend, auf den Rücken rollt und für einen Augenblick ihren silbrig glänzenden, halb schon aufgerissenen Bauch zeigt, bevor Spiegel erneut über sie herfällt und ihr den Kopf abreißt.
Was macht das Grauen einer solchen Hinrichtung aus?
Daß sie spielerisch vollzogen und ohne jeden Schmerzenslaut erlitten wird.
Im Hombrechtikon gibt es, wie ich von T. H. erfahre, einen Zeitgenossen, der seit Jahren sämtliche Nachrichtensendungen des Zweiten Deutschen Fernsehens aufzeichnet und nach Sachgebieten archiviert. Die Videobänder verwendet er gern zur Erheiterung seiner Gäste, indem er, dem jeweiligen Anlaß – Hochzeit, Heimsieg, Geburtstag, Silvester – angepaßt, das Attentat auf den Papst, eine sensationelle Zoogeburt, die Verführung Walesas, Szenen aus dem Libanonkrieg, ein Endspiel aus Wimbledon oder die Wetterkarte vom 21. März 1982 über seinen Bildschirm flimmern läßt.
aus: Felix Philipp Ingold: Haupts Werk Das Leben
Ein Koordinatenbuch vom vorläufig letzten bis zum ersten Kapitel.
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