In Genf, auf der Durchreise hierher, M. S. getroffen, der mir E. N. vorstellte, der kurz zuvor, als Tourist in Moskau, mit dem alten M. R. zusammengetroffen war, der in den dreißiger und vierziger Jahren, im Auftrag Stalins mehrere Filme nach antiken Stoffen gedreht habe, in denen der Generalsekretär persönlich – meist als Kaiser, gelegentlich auch als Feldherr oder, entsprechend verkleidet, als Schauspieler – aufgetreten sei. Die Filme hätten jedoch nicht kopiert und immer nur einmal – in einem speziell dafür eingerichteten unterirdischen Projektionsraum auf Stalins Landsitz – vorgeführt werden dürfen, so daß sie lediglich den jeweiligen Mitgliedern des Politbüros und einigen Familienangehörigen des Hausherrn bekanntgeworden seien. Ob sich die Originale erhalten hätten und wo sie allenfalls aufbewahrt würden, habe M. R. nicht sagen, vielleicht auch nicht wissen wollen. Immerhin sei er schließlich bereit gewesen, den Inhalt eines jener Filme – das Drehbuch soll von einem jüdischen Komiker namens Erdman oder Großman im Stil eines Buffomysteriums verfaßt worden sein und den Titel »Abendmahl« getragen haben – nachzuerzählen.
Was E. N. mir darüber berichtete, fasse ich hier, das heißt gleich jetzt als Nacherzählung seiner Nacherzählung einer Nacherzählung zusammen, wobei ich mir der Zweifelhaftigkeit, ja der Verrücktheit des Unterfangens durchaus bewußt bleibe; denn was ist schon von solchen Erinnerungen zu halten, die lediglich auf Erinnerungen abgestützt sind, die lediglich auf Erinnerungen abgestützt sind, auch wenn ich selbst es bin, der sich – nun endlich! aber wie? – erinnert: vor allem das beachtend, was nicht ins Bild zu passen scheint.
Etwa dies: Bei einer besonders festlichen Gelegenheit – es mag sich um die Geburt des Thronfolgers, vielleicht auch um einen bedeutenden Sieg auf dem Schlachtfeld gehandelt haben – lädt Stalin, nunmehr in der Rolle des römischen Kaisers Domitian, telephonisch einige der ihm nahestehenden Minister und Sekretäre zu sich auf seinen Landsitz ein.
Die erste Einstellung zeigt ihn, in eine weiße wallende Toga gekleidet, vor dem an der Wand befestigten Fernsprechapparat. In rascher Folge und ohne irgendwelchen Emotionen Ausdruck zu geben, ruft er nun seine engsten Mitarbeiter an. Jeden begrüßt er auf dieselbe Weise, jeder empfängt denselben Befehl: Ich bin es, lade ein zum Abendmahl, ohne Gefolge, heute nacht, hier … Schnitt. Stalin läßt von seinen Turksklaven, die er mit stummen dezidierten Gesten befehligt, einen Raum herrichten, an dem alles – Decke, Wände, Fußboden – schwarz ist. Auch werden mehrere schwarze Liegen bereitgestellt. Eine Lichtquelle ist nicht auszumachen. Allein Stalins strahlend weiße Toga scheint den Raum zu erhellen. Schnitt. Der Raum, in dem das Abendmahl stattfinden soll, ist jetzt vollständig ausgestattet. An jeder Liege lehnt, in der Art eines Grabsteins, eine große kreisförmige Platte aus schwarzem Marmor. Die einzelnen Platten sind von kleinen, an der Decke befestigten und bis auf Kniehöhe herabhängenden elektrischen Lampen erleuchtet, so daß man den jeweiligen Namen des geladenen Gastes – einer nach dem andern kommt ins Bild – ablesen kann. Schnitt. Die Gäste hocken, abwartend, auf ihren ungepolsterten Liegen. Stalin steht reglos im Raum. Stille. Plötzlich Lärm – Schreie, laute Hack- und Schmatzgeräusche von draußen. Der Kaiser lächelt. Jetzt bricht eine Meute schwarz bemalter, fast nackter Knaben von allen Seiten – die Wände sind offenbar aus Papier oder aus leichtem Stoff gefertigt – in den Raum ein und fängt ekstatisch zu tanzen an. Jeder der Knaben stellt sich schließlich neben einem der Gäste auf. Schnitt. Das Abendmahl beginnt. Es werden Speisen gereicht, die man gewöhnlich bei den Opferhandlungen für die Geister der Verstorbenen aufträgt, alles schwarz und in Schüsseln von ebenfalls schwarzer Farbe. Die verängstigten Gäste – lauter Männer – kommen nun der Reihe nach ins Bild. In fast unbewegten Großaufnahmen sieht man ihre weit aufgerissenen Augen, ihre verkniffenen Münder, die schweißfeuchten Schläfen, die zerrauften Haare. Es entsteht so der beklemmende, vom Regisseur zweifellos gewollte Eindruck, als würde den Anwesenden – uns Zuschauern – nun gleich die Kehle durchgetrennt oder als könnten sie – oder auch wir – dazu gezwungen werden, es selber zu tun. Stille.
Schnitt. Der Kaiser jetzt allein im Bild. Das tödliche, von ihm selbst inszenierte Schweigen der Gäste ist die Bestätigung dafür, daß er (und nur er) das Sagen hat. Und so ergeht er sich denn in drohenden oder auch klagenden Reden über Tod und Gemetzel und so fort bis zur völligen Erschöpfung seines Publikums. Schnitt. Die Gäste sind entlassen, sie drängen zum Ausgang, zur Garderobe, doch finden sie dort nicht ihre eigenen Leibwächter, sondern jene des Kaisers vor, was sie mit noch größerer Angst erfüllt. Von den ihnen unbekannten Leuten Stalins werden sie nach Hause gefahren. Schnitt. Kaum sind die Gäste wieder daheim, wird auch schon – bei jedem einzeln – ein Kurier Stalins gemeldet, was wohl nichts anderes bedeuten kann, als abgeholt zu werden. Aber schon trägt da jemand die Grabtafel mit dem eingravierten Namen herein; andere kommen mit andern Gegenständen nach, darunter die schweren kostbaren Schüsseln, die man den Geladenen vorgesetzt hatte. Zuletzt erscheint bei jedem Gast noch jener Knabe (jetzt abgeschminkt und frisch gekleidet), der ihm als Komparse zugeteilt war … Schnitt. Während auf der Leinwand in flackernden Lettern das
ENDE
erscheint, hört man nochmals Stalins näselnde Stimme mit ihrem unverkennbaren vulgärlateinischen Akzent: »Nachdem ihr die ganze Nacht in Todesangst verbracht habt, empfangt ihr nun meine Geschenke …«
aus: Felix Philipp Ingold: Haupts Werk Das Leben
Ein Koordinatenbuch vom vorläufig letzten bis zum ersten Kapitel.
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