Die Poesie zum Beispiel, sagte Tolstoj eines Tages, ist sie nicht die beste Antwort auf letzte Fragen? – Da unterbrach Mandelstam seinen Rundgang durch die Instanzen, seine Hand ballte sich zur Faust, entspannte sich dann, und er gab dem Grafen eine Ohrfeige. – Dies war die Fermate. Tolstoj sah, wie sich erweisen sollte, endgültig ein, daß die Poesie keineswegs die beste Antwort auf letzte Fragen ist; Mandelstam begriff sofort (und dennoch viel zu spät), wie wirkungsvoll, wie verheerend eine Ohrfeige im rechten Augenblick sein kann, so daß mit seinem pathetischen Beispiel schließlich niemandem gedient war; es sei denn der Poesie.
(Szene aus der Geschichte der höheren Vernunft; nach K. I. Seritzky)
Die bisher vorliegenden Untersuchungsergebnisse können nun wie folgt berichtigt und ergänzt werden:
Nicht die Ohrfeige, die Ossip Mandelstam (1891–1938) dem Roten Grafen in Anwesenheit des Blockwarts und einiger zufälligen Passanten aus nichtigem Anlaß verpaßte, 1 sondern die Tatsache, daß er, als Dichter, die Beleidigung mit Worten wieder gutzumachen suchte, war der eigentliche Grund für sein vorzeitiges Ende.
Der Prozeß der Sechzehn und die Zerschlagung mehrerer staatsfeindlicher Parallelzentren in den späten dreißiger Jahren war, man weiß es, von einer massiven Säuberungswelle begleitet, durch die in der Folge, nach offiziellen Angaben, ganze »Hekatomben von abweichlerischen oder aufrührerischen Elementen« – namentlich Altbolschewiken, Armeeoffiziere, Hochschullehrer und Kulturschaffende – »unschädlich gemacht« wurden.
Nachdem Mandelstam bereits zweimal verhaftet gewesen, schlimm verhört, völlig unerwartet jedoch wieder freigelassen worden war, entschloß er sich, um einer weiteren Festnahme und dem mit großer Wahrscheinlichkeit zu erwartenden Todesurteil zu entgehen, im Spätherbst 1937 zu einer verzweifelten Bewährungsprobe, indem er den Grafen Tolstoj, der ein Jahr zuvor, als Nachfolger Gorkijs, das Präsidium des Allunionsschriftstellerverbands übernommen hatte, im Kontor aufsuchte, um ihm ein Gedicht vorzutragen, welches er, obwohl mit Druckverbot belegt, dem Führer zu widmen gedachte und diesem durch Tolstojs Vermittlung zur Kenntnis bringen wollte. Zwar gelang es Mandelstam, beim Grafen vorgelassen zu werden und seinen Text, wohl nach einer formellen Entschuldigung für den Vorfall vom 1. Mai 1934, vollumfänglich zu verlesen, doch scheint Tolstoj das mehrstrophige Führerlob äußerst kühl aufgenommen zu haben. Jedenfalls kehrte Mandelstam in der Überzeugung nach Twer zurück, daß sein Versuch gescheitert, sein Leben verwirkt sei. Er sollte recht behalten.
Am 2. Mai 1938 wurde Mandelstam erneut verhaftet. Bevor man ihn abholte, fand er eben noch Zeit, Natascha Stempel ein Bündel von Manuskripten – darunter auch die Reinschrift seiner Verse an den Führer – zu übergeben mit der Bitte, sie möge die Papiere vernichten. Am 2. August wurde Mandelstam von einem Sondergericht wegen konterrevolutionärer Aktivitäten zu fünf Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Am 27. Dezember starb er in einem fernöstlichen Durchgangslager.
Daß Natascha Stempel die ihr anvertrauten Manuskripte Mandelstams nicht beseitigt, sondern – unter eigener Lebensgefahr – über den Weltkrieg hinaus verwahrt hat, ist erst bekannt geworden, als in der Zeitschrift Russica Hierosolymitana (1975, IV) unter dem Titel »Gedicht« Mandelstams Verse auf den Führer – mit dem Hinweis auf deren Herkunft aus dem Stempelschen Archiv – im Druck erschienen. Auf diese Publikation folgte wenig später an abgelegener Stelle (Judeo-Slavica, 1976, XII) ein um vier Verszeilen (IV: 13–16) ergänzter Nachdruck, der nun unlängst – nicht ohne textkritische Vorbehalte – auch in den Zusatzband zur Werkausgabe Ossip Mandelstams (Paris 1981) aufgenommen wurde. Dem »Gedicht«-Text ist hier die nachstehende, mit St. signierte und vom 5. – oder 6.? – März 1953 datierte Notiz beigegeben:
»Der Mensch, an den das ›Gedicht‹ Mandelstams gerichtet war, beherrschte seine – wie auch unsere – Gedanken und Vorstellungen so stark, daß Äußerungen über dessen Person selbst an solchen Stellen verborgen sind, wo man es am wenigsten erwartet. Mandelstam hatte feststehende, immer wiederkehrende Assoziationen, die ihn, da sie für jedermann unmittelbar verständlich waren, früher oder später verraten mußten. Ein Gedicht vom Dezember 1936 handelt beispielsweise von einem Götzen, der im Innern eines Berges lebt und sich an die Tage zu erinnern versucht, als er noch ein Mensch war; die assoziative Verbindung zwischen ›Berg‹ und ›Kreml‹ ergibt sich bei Mandelstam über die Themawörter ›Kiesel‹ (kremen) und ›Stein‹ (kamen). Von solchen Anspielungen ist auch Mandelstams ›Gedicht‹ auf den Führer nicht ganz frei, obwohl er diesen Text – nach dem Zeugnis seiner Witwe – als ›letzten Rettungsversuch vor dem endgültigen Untergang‹ betrachtete. Doch in einem Land, das den Führerkult zu seiner neuen Religion erhoben hatte, war es ganz und gar unmöglich, an den Führer nicht zu denken. Insofern ist das ›Gedicht‹, bei aller künstlerischen Zweifelhaftigkeit, ein Zeitdokument ersten Ranges. Viele Menschen – Freunde Mandelstams – raten mir jetzt, den Text zu verheimlichen, so zu tun, als habe es ihn nie gegeben. Ich entschließe mich aber zum Gegenteil, um der historischen Wahrheit die Ehre zu geben. Denn das Doppelleben war ein unumstößliches Faktum jener Epoche; niemand konnte sich ihm entziehen – auch nicht der Dichter.«
St[empel?]
An dieser Stelle sei nun, in textgetreuer Übertragung aus dem Russischen, der volle Wortlaut von Mandelstams »Gedicht« ( Sticholtworenije] eingerückt:
Des Führers Blick versetzt den Berg
Und läßt die Ebenen erzittern.
Das Wetter setzt Er selbst ins Werk,
Die Sonne weiß Er zu erschüttern.
Pflug und Schwert führt Er zugleich,
Er hat das Lächeln eines Schnitters.
Das Korn fällt Er mit einem Streich,
Er ist der Lenker des Gewitters.
Ist erst die Ernte eingebracht,
Die Scheune voll, das Faß verschlossen –
Der Führer hat es wahrgemacht:
Für uns – Genossinnen! Genossen!
O Dichter, widme Ihm dein Lied,2
Denn auch für dich ist Er ein Vater,
Der mehr denn nur sein Amt versieht:
Er ist dein Freund und dein Berater!
Seit seinem Erscheinen ist dieser Text Gegenstand heftiger Auseinandersetzungen; die einen halten ihn für das »schlechterdings beste Gedicht«, das dem Führer jemals gewidmet worden sei, die anderen bedauern zutiefst, daß er – als »Zeugnis für den Verrat eines großen Dichters an seiner heiligsten Mission, dem Dienst an der Wahrheit« – die Zeit überdauert und den Weg in die westliche Presse gefunden habe.
Niemandem scheint aber bislang aufgefallen zu sein, daß Mandelstams »Gedicht« fast wörtlich mit einer lyrischen Adresse übereinstimmt, welche der einflußreiche revolutionär-demokratische Publizist Nikolaj Nekrassow (1821–1877) in den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts zur Feier des Zaren an die junge Dichtergeneration Rußlands gerichtet haben soll und die auch tatsächlich unter seinem Namen in diverse Werkausgaben und Anthologien eingegangen ist. Nekrassow hatte das Gedicht im Frühjahr 1865 auf einem Empfang zu Ehren des Grafen Tolstoj – eines hohen Regierungsbeamten, von dem er sich Protektion für seine Arbeit als Herausgeber des progressiven »Zeitgenossen« (Sowremennik) erhoffte – in engem Kreis vorgetragen, offenbar jedoch ohne Erfolg, denn schon wenig später wurde die Zeitschrift behördlich eingestellt; auch findet sich in seinem Nachlaß keinerlei Hinweis auf jenen Text, so daß man annehmen muß, er habe ihn vernichtet, was schon deshalb naheliegt, weil Nekrassow sich bei seinen Lesern als Verfasser eines zarenfreundliehen Sendschreibens zweifellos kompromittiert hätte.
Nun ist es aber so, daß eben jenes Sendschreiben mehrere Jahre nach dem Tod des Autors – unter dem Titel »Verse N. A. Nekrassows zu Handen des Grafen M. N. Tolstoj« – im Russischen Archiv (Russkij archiw, 1885, II/6) erstmals zum Abdruck gelangte; dem Text war folgende redaktionelle Notiz vorangestellt:
»Die Verdienste, welche Graf M. N. Tolstoj um unser Staatswesen erworben hat, sind so gewaltig, die Sympathien, die ihm allüberall entgegenbranden, so groß, daß sogar Leute, die ihm kraft ihrer Tätigkeit und Überzeugung feindlich gestimmt sein mußten, es für ihre Pflicht hielten, ihm Ehre zu erweisen. So hat sich etwa der Dichter Nekrassow, ehemaliger Herausgeber des ›Zeitgenossen‹, mit den nachstehend abgedruckten Versen vertrauensvoll an ihn gewandt und ihn um deren Übermittlung an den Zaren gebeten. Dies begab sich am 27. April 1865 im Englischen Club zu Sankt-Petersburg (damals noch an der Fontanka befindlich), wo für den Grafen Tolstoj ein Empfang mit anschließendem Festmahl gegeben wurde. Nach dem Essen ging der greise Graf in Begleitung einiger Mitarbeiter seines Departements auf den Balkon hinaus, um eine Pfeife zu rauchen. Plötzlich trat Nekrassow auf ihn zu und bat ihn um Erlaubnis, ihm ein Widmungsgedicht an den Zaren vorlesen zu dürfen. Auf dem engen Balkon unmittelbar vor Tolstoj stehend deklamierte Nekrassow seine Verse und fragte: ›Ob Ihre Excellenz bereit wären, Dieses dem Zaren zu übermitteln‹: Worauf Tolstoj trocken zur Antwort gab: ›Dieses ist Ihr Eigentum, verfügen Sie darüber …‹ Was Nekrassow denn auch tat, so daß sein Gedicht erst heute in der Presse erscheinen kann. Nach dem Bericht eines Augenzeugen soll die Szene auf dem Balkon des Englischen Clubs recht peinlich gewesen sein; daß Nekrassow gleichwohl unbehelligt blieb, dürfte auf die geringe Anzahl derer zurückzuführen sein, welche sich durch seinen Auftritt betroffen fühlen mußten. Der erwähnte Augenzeuge hat im übrigen berichtet, daß sich der Graf gegenüber Nekrassow in harschen Worten über die politische Richtung des ›Zeitgenossen‹ geäußert und mit dessen Schließung gedroht habe.« P. B.
Die von Tolstoj bemängelten »Verse« (Stichi) Nekrassows, über deren Herkunft auch das Russische Archiv nichts mitteilt, lauten in der nach dem Erstdruck gefertigten Übersetzung wie folgt:
Des Zaren Blick versetzt den Berg
Und läßt die Ebenen erzittern.
Als Retter setzt Er selbst ins Werk
Die Taten, die den Feind erschüttern.
Pflug und Schwert führt Er zugleich,
Er hat den sichern Gang des Schnitters.
Das Korn fällt Er mit einem Streich
Noch vor dem Ausbruch des Gewitters.
Ist dann die Ernte eingebracht,
Die Scheune voll, das Faß verschlossen:
Der Herrscher hat es wahrgemacht –
Für Millionen Zeitgenossen.
O Dichter! Widme Ihm dein Lied!
Er ist ein Anwalt, ein Berater,
Der mehr als seine Pflicht versieht,
Denn für uns alle ist Er – Vater!
Die an Identität grenzende Ähnlichkeit zwischen Mandelstams »Gedicht« und Nekrassows »Versen« liegt auf der Hand; die wenigen – formal durchweg unbedeutenden, inhaltlich jedoch recht bemerkenswerten – Unterschiede bestehen im wesentlichen darin, daß die von Nekrassow mit Bezug auf die Niederwerfung des Polenaufstands (1863) verwendete Kriegsmetaphorik – »Schnitter« für Feldherr, »Korn« für (feindliche) Armee, »Gewitter« für (feindlichen) Angriff, »Ernte« für (siegreiche) Schlacht – bei Mandelstam insofern deutlich abgeschwächt wird, als sie den »Führer«, unter Verzicht auf jede zeitgeschichtliche Relativierung, nurmehr in der stereotypen Rolle des Volksfreunds und Volksernährers zu charakterisieren hat.
Nachdem die Authentizität der Nekrassowschen »Verse« während Jahrzehnten unbestritten geblieben und im übrigen dadurch beglaubigt war, daß der Text in mehreren Werkausgaben Aufnahme gefunden hatte, wurde sie 1927 erstmals in Zweifel gezogen. Ein anonymer Rezensent der Academia-Edition hielt nämlich (in der Prawda) kritisch fest, daß es sich bei den »Versen« weder um das von Nekrassow im Englischen Club verlesene Gefälligkeitsgedicht, noch überhaupt um ein Gedicht Nekrassows handeln könne: »Der im Russischen Archiv abgedruckte Text enthält keinerlei Anspielung auf das kurz zuvor von Karamasow verübte Zaren-Attentat und die in diesem Zusammenhang erfolgte Ernennung des Grafen Tolstoj zum Großinquisitor der mit der Abklärung des Vorfalls betrauten Regierungskommission; dafür aber nimmt er Bezug auf die damals fast schon vergessenen polnischen Ereignisse, mit denen Tolstoj nicht das geringste zu schaffen hatte. Ganz zu schweigen davon, daß die ›Verse‹ (insbesondere deren erste und letzte Strophe) schon aus künstlerischen Erwägungen keinem unserer bekannteren Dichter des vergangenen Jahrhunderts zugemutet werden können.«
Solchen Vorbehalten zum Trotz sind die »Verse« auch in spätere Nekrassow-Ausgaben eingegangen, wobei freilich im einen Fall die letzte Strophe fortgelassen und im andern die Bemerkung hinzugefügt wurde, es handle sich um »ein Nekrassow zugeschriebenes Gedicht«. Während langer Zeit galt daraufhin Nekrassows Autorschaft an jenen ominösen »Versen« als ungesichert; sie konnte weder nachgewiesen noch widerlegt werden, bis Buchstab unlängst Klarheit schuf, 3 indem er aufzeigte, daß der Autor des angeblich von Nekrassow verfaßten Sendschreibens längst bekannt ist; daß er seinerzeit sogar öffentlich gegen Nekrassows postumes »Plagiat« protestiert und sich selbst als Urheber legitimiert hat; daß diese publizistischen Vorgänge aber offenbar von der zünftigen Literaturwissenschaft nicht zur Kenntnis genommen worden sind. Aufgrund von ausgedehnten Archivstudien hat Buchstab nun den aus Warschau stammenden kaiserlichen Ministerialreferenten Jossif Mandelstam (1809–1889), der in den sechziger Jahren unter dem russifizierten Namen Iwan Mindalin vorübergehend in Tolstojs »Sonderkanzlei« (Osobaja Kanceljarija) Dienst tat, als Verfasser der oben zitierten »Verse« eruiert. Und ergänzend teilt er mit, Mandelstam habe sein Gedicht »nicht ohne Erfolg« aus Anlaß des erwähnten Banketts vom 27. April 1865 im Englischen Club vorgetragen, zu dem auch Nekrassow eingeladen war. Die »Verse« jedoch, mit denen Nekrassow nach dem offiziellen Teil der Veranstaltung Tolstojs Unwillen erregt haben soll, müßten als verschollen gelten. Ob anderseits Ossip Mandelstam das Gelegenheitsgedicht seines Onkels als solches erkannt und weiterverwertet hat; oder ob auch er der Überzeugung war, es mit einem wenig bekannten Text Nekrassows zu tun zu haben, bleibt ungewiß; sicher ist nur, daß er als vermeintlicher Verfasser des »Gedichts« seiner Sache geschadet, sein Ende beschleunigt hat.
aus: Felix Philipp Ingold: Haupts Werk Das Leben
Ein Koordinatenbuch vom vorläufig letzten bis zum ersten Kapitel.
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