Gelegentlich wird zwischen Buch und Haupt kein Unterschied gemacht. Das Buch ist aber ein Objekt der äußern Welt, dem Haupt begegnet – das ihm begegnet – auf seinem Weg hin zum Tod. Ein Objekt freilich, das ihn am Fortkommen hindert und ihm seine Aussicht – die Aussicht aufs Ende – verunklärt, vermiest, indem es sie erweitert und zur Hoffnung werden läßt.
Die Gesamtheit der Bücher ist gleich jenem Buch, das die Welt bedeutet. Sieht Haupt sich einem Buch gegenüber, kann er es mit Händen greifen, kann es erfassen, kann es sich vor Augen halten, sei’s als Fernglas, sei’s als Lupe: als Brille. Und so, nur so läßt das Buch sich abheben von Haupts Weg; nur so kann er es benutzen, bezwingen: besitzen.
Haupts Lebensweg also ist gesäumt von Büchern, die er benutzt, bezwungen hat. Diese – jene – Bücher sind seine Vergangenheit; sie haben durch seine Lektüre ihre »Lösung« gefunden, sind also keine Probleme mehr. Die Bücher, von denen er umgeben (befangen) ist, ohne daß er ihnen jemals begegnet wäre oder sie sogar gelesen hätte, sind seine erinnerte Zukunft. Also sind sie – nicht zuletzt! – seine ungelösten Probleme.
Und hinter all den ungelesenen Büchern (es sind ihrer: beliebig viele) liegt lauernd der Tod; ihr gemeinsamer Horizont.
Doch gibt es auch Phänomene, denen Haupt begegnen kann und die ihm ihrerseits begegnen. Phänomene, die unberührbar, unabbildbar, mithin unbegreiflich sind; denn sie stellen sich ihm nicht entgegen wie die Bücher, vielmehr begleiten sie ihn, sie gehn an seiner Seite, sie gehn nicht vor, nicht hinter ihm, sie gehn mit ihm weiter; fort. Erkennbar sind sie ihm bloß als Schatten, bald länger, bald kürzer werdend, kaum zu unterscheiden von dem Schatten, den er selber wirft; der ihn hält.
Und niemals wird Haupt dieses Phänomen – irgendeinen Autor – begreifen können, denn in ihm erkennt er immer nur sich selbst; den Andern.
aus: Felix Philipp Ingold: Haupts Werk Das Leben
Ein Koordinatenbuch vom vorläufig letzten bis zum ersten Kapitel.
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