Noch Lenin, Agnostiker und Mann der Tat, glaubte Geschichte zu machen, indem er Fakten schuf – das fait accompli hielt er für die einzige, die schlechterdings unumstößliche Wahrheit; er hat sich geirrt. Geschichtliche (auch zeitgeschichtliche) Fakten sind inzwischen in einer Weise und in einem Ausmaß manipulierbar geworden, daß sie durchaus – die Beispiele liegen auf der Hand – in ihr Gegenteil verkehrt werden können. Das eigentlich Schreckliche ist nicht mehr der reale Schrecken des Kriegs und des Terrors (denn dieser bleibt ohnehin – schon rein statistisch – unfaßbar), sondern die Tatsache, daß das faktisch Geschehene durch systematische Desinformation, die ihrerseits einem verbreiteten Bedürfnis nach moralischer Selbstimmunisierung entgegenkommt, seinen Wirklichkeitsstatus einbüßt und schließlich zur Fiktion wird. »Das Schrecklichste«, so hatte bereits Orwell in seinem antiutopischen Gesellschaftsentwurf für »1984« festgestellt, werde sein, »daß einfach alles wahr und falsch sein könnte.«
Dieses Phänomen der Ausblendung historischer Faktizität analysiert Stanislaw Lem in einem scharfsinnigen (als Rezension getarnten) ideologiekritischen Essay am Beispiel des millionenfachen Judenmords durch die Nationalsozialisten.1 Für Lem ist der Holocaust nicht bloß ein besonders düsteres, in seinen Konsequenzen noch weitgehend unbewältigtes Kapitel aus der Geschichte des Antisemitismus, sondern auch – und vor allem – ein metaphysisches Problem, eine nach wie vor bedrängende Herausforderung des philosophischen und theologischen Denkens: Welches waren die Gründe dafür, daß der Völkermord an der europäischen Judenschaft einerseits mit großem materiellem Aufwand betrieben und fast vollständig verwirklicht wurde, daß er aber anderseits – gemäß offizieller Darstellung – doch nicht wahr sein durfte?
Es ist dokumentarisch belegt, daß – und wie – der Nationalsozialismus sich beim Genozid an ein von Westen nach Osten (zwischen dem »Pol der Geheimhaltung« und dem »Pol der Öffentlichkeit«) verlaufendes Gradationsmuster gehalten hat, welches die gesamte moralische Bandbreite »vom verschämten bis zum schamlosen Mord« umfaßte: »Den unterjochten Völkern, die wie die slawischen dezimiert werden sollten, wurde ein Teil der Exekutionen öffentlich angekündigt, den total zu liquidierenden Gruppen hingegen, wie den Juden und den Zigeunern, wurden die Hinrichtungen nicht in analoger Weise zur Kenntnis gebracht. Je totaler ein Mord, um so mehr wurde er mit Geheimhaltung umgeben.« Die nationalsozialistische Propaganda hat jedenfalls bis zuletzt ihre euphemistische Sprachregelung beibehalten und die Deportationen als »Umsiedelung«, die Massenerschießungen, -vergasungen und -verbrennungen als »Endlösung« bezeichnet. Horst Aspernicus, der von Lem vorgeschobene fiktive Autor der Holocaust-Theorie, ist der Auffassung, »daß in dieser Doppelzüngigkeit der Versuch zum Ausdruck kommt, dasjenige miteinander zu vereinbaren, was unvereinbar ist. Die Deutschen sollten edle Arier sein, die ersten unter den Europäern, heldenhafte Sieger, und gleichzeitig Mörder von Wehrlosen. Das eine verkündeten sie, das andere aber taten sie …« Und er fährt, seine Argumentation polemisch zuspitzend, fort: »Gerade diese Verlogenheit zeigt nach dem Urteil des Autors – allen Aspirationen des Nazi-Regimes zum Trotz – die Zugehörigkeit der Deutschen zur christlichen Kultur: Sie waren von dieser Kultur derart stark geprägt, daß es ihnen trotz aller Anstrengungen nicht gelang, sich in jeder Hinsicht außerhalb des Evangeliums zu stellen. Selbst wenn man in diesem Kulturkreis alles tun kann, bemerkt unser Autor, so heißt dies noch nicht, daß man auch alles sagen kann.« (Diese polemische Argumentationslinie zieht Lem in der Folge weiter aus – bis hin zur kühnen Vermutung, daß es sich beim Völkermord an den Juden letztlich um ein Attentat auf Gott gehandelt habe, gewissermaßen also um den Versuch, den »jüdischen Gottesmord« durch den kollektiven Mord am »auserwählten Volk« abzugelten und zu übertrumpfen.)
Der Holocaust gehörte wesentlich zur Alltagsrealität im Dritten Reich, und doch wollte zuletzt niemand davon gewußt haben oder gar daran mitschuldig gewesen sein – ein Faktum, welches bis in die jüngste Zeit durch zahlreiche NS-Prozesse bezeugt ist und das neuerdings eine zusätzliche Dimension dadurch erhalten hat, daß die Existenz von Konzentrationslagern und Gaskammern im nationalsozialistischen Deutschland durch Autoren unterschiedlichster politischer Herkunft immer häufiger in Abrede gestellt oder zumindest bagatellisiert wird. – Tatsächlich findet sich in den Programm- und Propagandaschriften der NS-Ideologen kein Hinweis und schon gar kein artikulierter Anspruch auf Konzentrationslager und Gaskammern zur »Industrialisierung des Todes« im Sinn der »Endlösung«: »Grundsätzlich konnte man auch ohne Verbrechen auskommen – so behaupten jene, die heute die Deutschen und die übrige Welt mit Büchern beruhigen und deren Interpretation so aussieht: Hitler wußte nicht, bemerkte nicht, wollte nicht, hatte keine Zeit sich zu beschäftigen, übersah, wurde mißverstanden, vergaß, unterließ; in seinem Kopf geschah alles mögliche, was aber auch immer dort herumgeisterte, Mord war es mit Sicherheit niemals.«
So fällt das Unerklärliche ein weiteres Mal der Verklärung anheim, und es besteht die Gefahr, daß der Slogan »Niemals vergessen« zum ideologischen Transparent wird und die zu leistende Trauerarbeit überblendet und verdrängt; dann freilich wäre es nur noch ein Schritt bis zur Legitimierung der »Endlösung« als Erlösung – als Selbsterlösung von jenem Bösen, das sich den Kriterien von Schuld und Sühne weiterhin entzieht, da es die adäquate Ethik dazu bisher nicht gibt: eine paradoxale Lehre vom Guten, welche dem Mörder den Status des Richters dem Opfer jenen des Schuldigen zuzuerkennen vermöchte. »Der Tod«, schreibt Lem alias Aspernicus, »sollte also nicht im Namen seiner Wiedereingliederung in die Kultur verabreicht werden sondern im Namen des Guten, des Lebens und der Rettung; und eben dieses Konzept erhob der Nationalsozialismus in den Rang einer Staatsdoktrin.«
(Es entspricht dies, so könnte man beifügen, auch dem Konzept des heutigen Terrorismus, der die allgemeine Angst vor dem Tod in der Euphorie des Tötens aufzuheben versucht und den Mord als »gute« Tat legitimiert, indem er – zumeist mit effizienter Unterstützung durch die Massenmedien – die »Schuld« seiner Opfer und damit die eigene »Unschuld« nachweist. Mord wird als Vollzug der Gerechtigkeit spektakulär in Szene gesetzt, während gleichzeitig die Mörder selbst, als Liquidatoren des Bösen, die Autorität von sogenannten »Volksgerichtshöfen« für sich beanspruchen – ein Paradigma kriminellen Machtmißbrauchs, wie es auch für den Nationalsozialismus und die stalinistische Diktatur Geltung hatte, mit dem gewichtigen Unterschied allerdings, daß die RAF- und RB-Terroristen das, was die totalitären Unrechtsstaaten nur unter höchster Geheimhaltung, im Vernichtungsghetto der KZs und des Gulag, zu tun wagten, in aller Offenheit mit pathetischer Geste »vollstrecken«: »Mord in der Maske der Pflicht, der Entsagung und des gerechten Zorns …«)
Lems Fazit lautet denn auch: »Der Tod, der anderen mit kaltblütiger Entschlossenheit pflichtgemäß zugefügt wird, hat in der Kultur dank seiner sekundären Utilisierung wieder einen erhabenen Platz erobert, denn weggestoßen von der Kultur und aus ihr verbannt, ist er zurückgekehrt.«
aus: Felix Philipp Ingold: Haupts Werk Das Leben
Ein Koordinatenbuch vom vorläufig letzten bis zum ersten Kapitel.
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