»Spitze!«, hört man jetzt oft sagen: »Das ist Spitze!« Das oder jenes; immer neutral: »es« auch dort, wo es um Personen geht. Die Spitze ist nämlich meist adverbiell gerichtet; auf die Technik, vielleicht auf Bedeutung, nie auf den Sinn.
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Und genauso schreibt man doch auch – ganz vorn, zuäußerst am Körper, mit der Hand, dem Fuß, dem Mund; ja über die Extremität hinaus: mit der Spitze des Stifts, der den prekären Grenzstrich zwischen Wissen und Unwissen ritzt, die Schrift; Spitze, welche, einmal angesetzt, den Punkt bestimmt, in dem das eine mit dem andern – alles mit allem – zusammenfällt.
Um das Gegenüber auf seine Idiotie aufmerksam zu machen, weist man mit gerecktem Zeigefinger sich selbst auf die Stirn; und macht sich – da diese Spitze das fremde Unwissen nur dadurch zu markieren vermag, daß sie das eigene Wissen bezichtigt – zum Gegner, wird zum Gespött.
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Das Ideal, heute, ist das perfekte »gewußt wie!«, und nicht mehr das naive »weißt du was?«; es werden, in solchem Verständnis, Problemlösungen idealisiert, keinesfalls Sinngebungen. »Spitze« ist das jeweils Treibende und Treffende, ist Innovation. Und selbst wenn von einer Person gesagt wird, sie (oder er) sei »Spitze«, kann nur die Art und Weise gemeint sein, wie jemand mit einer Sache fertiggeworden ist; was also zählt, ist die »Spitze« als Spitzenleistung, wobei weder das Ergebnis noch die Konsequenzen einer solchen idealen Leistung in Betracht gezogen werden, sondern einzig die Leistung als »Spitze«, die Leistung als reine Tat, als Premiere oder Zufallstreffer, als Superlativ oder als Rekord.
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Oder? Vielleicht treibt der Affe, wenn er seinesgleichen laust, das auf die Spitze, was wir lesen nennen? Und vielleicht ist solche Fingerspitzenleistung gar nicht so verschieden von der tastenden und tippenden Mikrogeste, mit der wir uns an elektronischen Geräten zu schaffen machen? Von jener unheimlichen Geste des Auslösens und Auslöschens, welche die gestalterische Kraft der Hand zusammenfaßt im sanften Druck der Fingerkuppe! Von jener Geste also, mit der wir uns aus dem linearen Universum der Texte – und das heißt: aus der Geschichte – hinaus tasten, hinüber in eine aperspektivische Welt, die mehr und mehr in Punkte zerfällt, in Punkten sich auflöst; die auch bald nur noch punktuell – im Vereinzelten – erfaßbar sein wird und doch bereits heute – als Ganzes – vernichtet werden könnte durch einen Fingerdruck, der den Punkt setzen würde hinter die Geschichte, indem er sie der Welt beraubte! Ja, die Fingerspitze ist weiter von der Hand entfernt als das Auge, das Ohr; nein, wir bauen nicht mehr an der Welt, wir machen uns kein Bild mehr von ihr, und da wir sie nicht mehr linear erfahren, nicht mehr lesen, nur noch tastend registrieren können, haben wir auch nichts mehr über sie zu sagen. Statt Geschichten – einst Schauplatz und Depot unserer Erinnerungen – werden Programme produziert, aus denen sich wie von selbst die fiktionale Realität einer qualitativ ganz neuen, weil rein quantitativ angelegten Schein-Welt aufbaut.
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»Spitze« wäre somit das auf die Spitze getriebene Gute; das postmoderne Glück, dem letztlich nur im Weg steht, wer es »geschafft« und folglich zu ertragen hat: der Mensch.
aus: Felix Philipp Ingold: Haupts Werk Das Leben
Ein Koordinatenbuch vom vorläufig letzten bis zum ersten Kapitel.
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