Szene II
( Zwischentitel: )
»Der Mann im fremden Mantel«
(Hastiges Keuchen.) (Gedämpftes Rattern.) (Eine Fabriksirene, weit entfernt.) (LESER I und LESER 2 summen zweistimmig eine sentimentale Melodie; hin und wieder rezitieren sie, vielleicht um sich selber eine forschere Gangart beizubringen, gemeinsam einen Vers von Majakowskij oder eine geschichtsphilosophische These von Benjamin; doch dies kaum vernehmlich.) LESER 1: Ein Fuß! LESER 2: Ein Bein! LESER 1: Tot? LESER 2: Tot. (Beide schweigen eine Weile; dann lachen sie laut auf) AUTOR: Ich bin es. Ohne Mantel. Sie haben mich ausgeraubt. Fort. Beide verschwunden. Schluß. (Sie lachen alle drei.) ALLE DREI: Jajaja! So ist das. Genau so. Fort und Schluß.
LESER I und LESER 2: Wir bringen Sie nach Haus. |
Früher Morgen. Schnee. Ein Straßenzug, der sich zu beleben beginnt. Vereinzelte Passanten. Hin und wieder ein Panzerfahrzeug. Dann, plötzlich ganz nah, zwei glimmende Punkte; Zigarettenglut; zwei Gesichter, Wange an Wange. Schließlich die beiden wankenden Gestalten, einander stützend, stehenbleibend, sich umarmend, weitertaumelnd. Es sind die LESER, jetzt wohl betrunken, vielleicht auf dem Rückweg, jedenfalls sorglos. Doch schon erschrecken sie beide (oder sind auch nur erstaunt); sie bleiben stehen, halten sich gegenseitig an den Ellenbogen, tasten mit den Schuhabsätzen eine kleine Schneewächte ab, die ihnen genau an der Stelle, wo sie auf eine Querstraße hinaustreten wollen, im Weg liegt. Die beiden LESER halten inne, greifen sich an den Kopf, sehen einander prüfend in die Augen, schauen forschend in den Schnee zu ihren Füßen.
Aus der Wächte erhebt sich langsam, den trockenen Schnee von der Kleidung schüttelnd, der AUTOR.
Die LESER nehmen den durchfrorenen AUTOR in die Mitte und machen sich wieder auf den Weg. |
(Der Verkehr wird dichter. Der Straßenlärm nimmt zu. Erneut leichter Schneefall. Passanten. Noch ein Panzerwagen, viel weniger auffällig jetzt. Nochmals, schon etwas näher, die Fabriksirene.)
LESER I: Also nach Haus. LESER 2: Wo Sie wohnen. LESER I: Nach Haus! LESER 2: Nach Haus! AUTOR: Da! Da ist es gewesen! Da ist es passiert!
LESER 1: Da. Nimm meinen Mantel. Doch, nehmen Sie, Sie sind ganz…
AUTOR: Und Sie? Und Sie beide? Werden Sie denn nicht frieren? Sehen Sie, mir hat man den Mantel weggenommen, und ich wäre fast erfroren da draußen, tausend Dank, na sehen Sie, wie der mir steht, Ihr Mantel da, der sitzt wie angegossen, ein schöner Mantel, ja! |
Die LESER scheinen ziemlich ernüchtert zu sein; es sieht nun tatsächlich so aus, als brächten die beiden einen schwer betrunkenen Freund nach Haus. Der AUTOR strauchelt immer wieder, bleibt stehen, setzt sich in den Schnee, will sitzen bleiben, doch die LESER lassen nicht von ihm ab, ziehen ihn hinter sich her, während er bald diesen, bald jenen Passanten anquatscht, um seine Geschichte an den Mann zu bringen. Da hält der eine LESER plötzlich inne, sieht an sich hinunter, schaut den andern LESER an, knöpft seinen Mantel auf, zieht ihn aus, bietet ihn dem AUTOR an.
Der AUTOR wendet sich ab, kehrt den LESERN den Rücken zu, breitet nun die Arme aus, läßt sich den Mantel, als gehöre er ihm selbst, vom einen LESER überziehen, während er auf den andern einzureden beginnt.
Als wüßten sie, wohin ihr Weg sie führt, schreiten die beiden LESER und der AUTOR nunmehr tüchtig aus, und bald sind sie in der Menge, die sich hinter ihnen wie ein schwarzer Vorhang schließt, verschwunden. |
aus: Felix Philipp Ingold: Haupts Werk Das Leben
Ein Koordinatenbuch vom vorläufig letzten bis zum ersten Kapitel.
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