Zuhören

Früh morgens; zum Bahnhof mit der ersten Straßenbahn. Ich stehe im hinteren Teil des Wagens; es hat nur wenige Fahrgäste, meistens Skitouristen. Vor mir sitzt eine vielleicht vierzigjährige Frau; sie ist mit einiger Eleganz gekleidet, jedoch viel zu aufwendig geschminkt und frisiert. Die Frau redet ziemlich lebhaft auf ihre Nachbarin ein, wird immer lauter, fängt zu lachen an, steht auf, geht schwankend durch die Reihen nach vorn, wendet sich plötzlich um und beginnt, während sie die verschlafenen Fahrgäste, einen nach dem andern – so auch mich – mit wildem Blick fixiert, zu schreien; und schreit:

»Nein, keiner hört zu, niemand von denen hört mir zu, keiner, niemand, nicht einer …«

Einige der Fahrgäste wechseln bedeutungsvolle – verständnislose – Blicke, schütteln den Kopf; keiner sagt ein Wort. Die Frau steigt aus und hüpft, ohne sich umzusehen, auf hohen Absätzen durch den Neuschnee davon. Erst jetzt fällt mir auf, daß sie weder Mantel noch Kopfbedeckung trägt. Während die Wagentür zuschnurrt, höre ich noch, wie sie jubelnd ausruft:

»Nein, keiner hört mir zu …«

 

aus: Felix Philipp Ingold: Haupts Werk Das Leben
Ein Koordinatenbuch vom vorläufig letzten bis zum ersten Kapitel.

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