Begriffsbildung als Übersetzungsverfahren – Jacques Derridas poetische Rhetorik (6)

Dass und wie Derrida solche Sprachfaxen ohne jede Scheu vor dem platten Kalauer praktiziert, ist besonders augenfällig belegt durch einen seiner letzten, gleichsam testamentarischen Texte, der 2004 − in seinem Todesjahr – unter dem Titel „Pardonner“ (Vergeben) herauskam. Auch diese Schrift geht auf einen mehrfach gehaltenen, weit ausufernden Vortrag zurück, und auch hier, vielleicht noch mehr als anderswo, dominiert das ambivalente, letztlich tragikomische Bestreben, möglichst viel zu reden, um möglichst nichts zu sagen: „Vergebung! Vergeben Sie mir, Ihre Zeit so lange und so gnadenlos in Anspruch genommen zu haben!… Im Grunde genommen werden Sie nie wissen, was ich Ihnen sage, wenn ich Ihnen, um zu schließen, wie zu Beginn sage: ,pardon, merci‘.“
Diesem merkwürdigen Finale im Futurum II geht ein 80seitiger meditativer Essay voran, den man für spekulative Wortklauberei halten mag, der aber doch zu Einsichten von mystischer Erkenntnistiefe führt, darüber hinaus zu einem Bekenntnis, welches „Vergebung“ gleichermaßen erheischt und zurückweist.
Dass die bei Derrida rekurrenten rhetorischen Formeln der Vorläufigkeit und des Aufschubs hier in besonders auffälliger Häufung vorkommen, erstaunt nicht. Der Versuch über das „Vergeben“ ist so etwas wie ein letztes Wort des Autors, der eigentlich schon immer mit letzten Worten begonnen hatte, immer nachträglich, immer schon zu spät, nämlich dann, wenn bereits alles gesagt war. Am Schluss dieses Buchs heißt es ebenso paradoxal wie folgerichtig: „Im Anfang wird es das Wort ,pardon‘, das Wort ,merci‘ gegeben haben / Im Anfang wird es das Wort ,Vergebung‘ gegeben haben, ,danke‘.“
Das philosophische Fazit der Rede ist bereits bei deren Beginn vorgegeben, und zwar wörtlich dadurch, dass in dem französischen Wort „pardon“, „pardonner“ das ganz andre Wort „don“ (Gabe), „donation“ (Vergabung) immer schon enthalten ist, woraus Derrida denn auch bedenkenlos folgert, dass „man also dafür um Vergebung bitten muss, dass man gibt, um Vergebung dafür, was man gibt“, denn man gebe, meint Derrida, „niemals genug“, und eine ungenügende Gabe könne niemals als wahre Gabe gelten. Vergebung setzt Schuldigkeit voraus. Bei Derrida wird diese schlichte Prämisse alternativ in ihr Gegenteil verkehrt, so dass „man also dafür um Vergebung bitten muss, dass man gibt“, weshalb man denn auch darauf angewiesen bleibt, „dass einem die Vergebung vergeben wird“. Usf.

 

aus Felix Philipp Ingold: Überzusetzen
Versuche zur Wortkunst und Nachdichtung

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