Abgesehen von einigen Dichterphilosophen und Aphoristikern, die zwischen Spätantike und Aufklärung von sich reden machten, wurde das Sprachspiel (das ja, wenn es bedeutungstragend sein soll, immer auch eine Strapazierung der Sprache und, darüber hinaus, der Vernunft mit sich bringt) erst wieder durch Martin Heidegger in den philosophischen Diskurs integriert, etwa mit bedeutungsmäßig neu aufgeladenen Begriffen wie Geviert, Gestell, Lichtung oder mit Gleichklängen wie Sein/Seyn, Wesen (Subst.)/wesen (Verb), Zeit (Subst.)/zeiten (Verb), Raum/räumen (roden) u.a.m.
Im Nachgang zu Heidegger, der „die Philosophie erst ihrem Eigenen eigens zu übereignen“ sich bemühte, und in angestrengter Übereinstimmung mit ihm hat Jacques Derrida eine eigene philosophische Rhetorik entwickelt, in der begriffliche und argumentative Schlüssigkeit konsequent preisgegeben werden zu Gunsten eines gleichsam „selbstredenden“ Spracheinsatzes (des „Sprechens der Sprache“), bei dem die Lautgestalt des Worts dem Bedeutungsgehalt vorgeordnet ist, das Wort also Bedeutung nicht nur einfach transportiert, sondern recht eigentlich immer wieder neu hervorbringt.
Eben dadurch bekräftigt Derrida auch auf formaler Ebene seinen Innovationsanspruch. Mit einer Reihe von einprägsamen Neologismen, die er eigens als Leitwörter einführte, brachte er die Spezifika und Topoi seines Denkens auf den Begriff, ungeachtet des Risikos, missverstanden zu werden, ungeachtet auch der Tatsache, dass sich die meisten seiner befremdlichen französischen Wortbildungen nicht in andere Sprachen übertragen lassen und deshalb auch keine allgemeine Geltung beanspruchen können. Nebst diversen Grundbegriffen (Dekonstruktion, Dissemination, Differenzialität usf.) gibt es bei Derrida eine Vielzahl von beiläufigen Wortschöpfungen und Worteinsätzen, die er als okkasionelle Neologismen (wie z.B. „signéponge“, synthetisiert aus „Ponge“, Autorname, „éponge“, Schwamm, und „signer“, signieren) für sich beanspruchen kann, die aber kaum je in ein philosophisches Nachschlagewerk eingehen werden. Doch gerade bei solch spontanen Begriffsbildungen beweist er eine sprachliche Innovationskraft, die durchaus poetisch genannt werden darf. Es sind von ihm erfundene oder neu instrumentierte Wörter, mit denen er die vorgegebene philosophische und wissenschaftliche Begrifflichkeit bald kritisch, bald ironisch unterläuft.
•
Formal handelt es sich bei Derridas Neologismen mehrheitlich um „Kofferwörter“ (mots-valises), die zwei oder mehrere ähnlich lautende Begriffe von unterschiedlicher oder gegensätzlicher Bedeutung in sich vereinen, oder um klangidentische Wörter und Wortverbindungen (Homonyme; Homophone) bei ebenfalls unterschiedlicher Bedeutung: So enthält beispielsweise das Wort „Beispiel“ eigenständige Elemente wie „Spiel“, „Beil“, „Leib“, „bis“, „spie“ usf., die aber mit seiner gängigen Bedeutung ebenso wenig zu schaffen haben wie „die Taube“ (Tier, Vogel) mit „die Taube“ (Schwerhörige) oder „der Kiefer“ mit „die Kiefer“. Dass im Russischen das Wort für „die Stimme“ (golos) ein Anagramm von / zu „das Wort“ (griech. logos) ist, nimmt sich einigermaßen plausibel aus, ist aber eine Zufallskonstellation und bleibt somit ohne argumentative Bedeutung. – So führt denn also Derrida den zentralen Begriff seiner Tierphilosophie, animot (aus animal, „Tier“, und mot, „Wort“) mit der lautidentischen Mehrzahlform animaux (Tiere) zusammen – beides auszusprechen wie „animo“ – und gewinnt dadurch ein bedeutungsmäßig stark erweitertes „Tierwort“, begriffen als Wort des Tiers, als Wort für das Tier, als das Wort „Tier“ oder allgemeiner als „Rede über das Tier“, all dies freilich nur innerhalb der Sprache Französisch.
Denn zwischensprachlicher Übersetzung bleiben Wörter dieser Art entzogen, sie sind, um außerhalb der Herkunftsprache verständlich zu werden, auf exakte Kommentierung angewiesen. Wenn Derrida über unzählige Seiten hin mit eigens gebildeten und/oder neu mit Bedeutung besetzten Begriffen operiert, die einzig im Französischen funktional und sinnvoll sein können, stellt sich logischerweise die Frage, inwieweit seine Philosophie (genauer vielleicht: sein Philosophieren) den Anspruch allgemeiner Geltung erfüllen kann. Was in einer und nur einer Sprache „Sinn macht“, kann als Aussage oder gar als „Wahrheit“ nicht generell verbindlich sein, es sei denn, man verstehe unter „Sprache“ die Gesamtheit der „Sprachen“ und vernachlässige oder verwerfe die Möglichkeit zwischensprachlicher Übersetzung. − Wohl zu Hunderten wären Einzelbeispiele dafür aus Jacques Derridas Schriften und Reden namhaft zu machen. Ein paar wenige müssen hier als Beleg für seine Wortbildungstechnik genügen, die gleichzeitig ein eigenwilliges Verfahren der Bedeutungssteuerung ist.
•
Den Namen der französischen Mineralquelle „Perrier“ setzt Derrida mit der klanggleichen Aussage „père y est“ (Vater ist da) ineins, um Quelle und Vaterschaft zusammenzudenken. Wiederum gleichlautend, jedoch semantisch gegensätzlich sind die Ausdrücke „plus de métaphore“ (keine Metapher mehr) und, identisch geschrieben und ausgesprochen, „plus de métaphore“, was genau das Gegenteil bedeutet (noch mehr Metapher). Ein Gleiches gilt für „faim de“ (Hunger nach) und „fin de“ (Ende von), „ça tombe“ (das fällt“) und „sa tombe“ (sein Grab), „point d‘eau“ (Wasserstelle) und „point d‘eau“ (kein Wasser), „cours d‘eau“ (Wasserlauf) und „court d‘eau“ (Wassermangel).
Auch anagrammatische Wortbildungen, bei denen nicht die Lautgestalt, vielmehr der Letternbestand die angebliche Begriffsverwandtschaft begründet, verwendet Derrida zur Konstruktion fiktiver Bedeutungszusammenhänge: Die französischen Wörter „trace“ (Spur), „écart“ (Abstand), „carte“ (Karte) einerseits, „spectre“ (Gespenst), „respect“ (Respekt), „sceptre“ (Zepter) andrerseits sind buchstäblich identisch, derweil sie sich bedeutungsmäßig stark voneinander unterscheiden. In seinem geradezu pathetischen Vertrauen auf den vermeintlichen Eigensinn der Sprache hat Derrida sogar seine private Signatur als Wortspiel inszeniert, indem er seinen 7 Buchstaben umfassenden Vornamen „Jacques“ mit der Ziffer 7 („sept“) verband, was in französischer Lautung („Jacques sept“) die klangähnliche Aussage ergibt: J‘accepte − „Ich pflichte bei, konzediere, bin einverstanden.“
Unabhängig von ihrer jeweils spezifischen Herstellungsweise können all diese innovativen Begriffsbildungen in erweitertem Verständnis als Übersetzungsverfahren charakterisiert werden: Versetzung, Vertauschung, Kontamination, Entfaltung und andere Verfahren mehr gehören als variable Spielformen dazu.
aus Felix Philipp Ingold: Überzusetzen
Versuche zur Wortkunst und Nachdichtung
Schreibe einen Kommentar