Beim Übersetzen; zum Übersetzen ( I.6 )

Wie kann Übersetzung, zumal poetische, nicht Verrat sein! Wo es darum ginge, außer dem Gesagten auch das Sagen, und sei’s nur andeutungsweise, in die Zielsprache einzubringen.
Ich präzisiere die Problematik durch ein Beispiel.
Deutsch verbindet sich mit dem Wort „Leber“ aufgrund weitgehender Klangähnlichkeit das Wort „Leben“, anagrammatisch lässt sich daraus der Imperativ „er lebe!“ ableiten. Im Französischen ist „Leber“ (männlich) foie, klanglich – homophon – jedoch liiert mit foi, also Glauben (weiblich); mit „Leben“ (vie) wird man das Organ hier wohl nicht assoziieren, ebenso wenig wie im Russischen, wo die „Leber“ (petschen’) klanglich dem „Ofen“ (petsch’) beziehungsweise dem „Backen“ (ebenfalls petsch’) oder dem Gebäck (petschenje) verwandt ist. Dies wiederum anders als im Englischen, das die „Leber“ (liver) – wie im Deutschen – dem „Leben“ (life, live) annähert, in homophoner Verbindung mit dem Wort für Lebenskünstler (good liver).
Während also zwischen Englisch und Deutsch das Assoziationsfeld Leben in Bezug auf die Leber erhalten bleibt und folglich auch übersetzerisch entsprechend genutzt werden kann, ist solches zwischen Französisch und Deutsch oder Russisch und Englisch nicht der Fall.

Von derartigen – definitiv unabänderlichen – lautlichen Prämissen ist poetisches Übersetzen in hohem, wenn auch wechselndem Maß geprägt.
Übersetzerischer „Verrat“ ist auf lautlicher, das heißt auf lautlich signifikanter Ebene nicht zu vermeiden, die Bedingungen dafür können aber von Sprache zu Sprache sehr unterschiedlich sein. Das ist mir besonders deutlich geworden, als ich beim Übersetzen von Paul Valérys „Cimetière marin“ – es geht um den „Friedhof am Meer“ über der Hafenstadt Sète – eine italienische Fassung zur Hand nahm und feststellte, dass hier ein Großteil der Assonanzen, Wortspiele und sogar Endreime fast unverändert aus dem Original übernommen werden konnten, während im Deutschen solche Entsprechungen weitgehend fehlen und also mit gänzlich andern lautlichen Elementen nachgebildet werden müssen.
Ein und derselbe Text erfordert demnach, in Abhängigkeit von der jeweiligen Ursprungs- und Zielsprache, ein durchaus unterschiedliches übersetzerisches Engagement, fallweise sogar eine völlig andere Technik des Übersetzens.

[Siehe dazu das nach Paul Valérys Vorlage ausgearbeitete Gedicht „Sehstück“ (II, §§ 1-24) in: Felix Philipp Ingold, Niemals keine Nachtmusik, 2017.]

 

aus Felix Philipp Ingold: Überzusetzen
Versuche zur Wortkunst und Nachdichtung

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

0:00
0:00