Zu den größten Herausforderungen übersetzerischer Arbeit gehören jene Sätze oder Absätze, Verse oder Strophen, die in der Originalfassung offenkundig misslungen, womöglich fehlerhaft sind. Es gibt derartige Schwächen auch bei Meisterwerken. Der Übersetzer hat sich dann die Frage zu stellen, ob er formal misslungene oder inhaltlich falsche, etwa der Logik, der Physik, der Geschichte widersprechende Passagen unverändert beibehalten oder berichtigen solle.
Am schwierigsten ist diese Frage in Bezug auf poetische Texte zu beantworten. Zwar lassen sich Formfehler in Gedichten leicht erkennen, zu beheben sind sie – zumal in der Zielsprache – kaum; umgekehrt sind Denkfehler in vielen Fällen (man vergegenwärtige sich diverse Beispiele symbolistischer, futuristischer, surrealistischer Dichtung) nicht eindeutig auszumachen, das heißt von gewolltem Alogismus zu unterscheiden. Da mein eigenes Konzept, grob gesagt, darin besteht, Texte ganzheitlich zu übersetzen, also nicht primär wortgetreu, nicht bloß philologisch korrekt, sondern so, dass ein Gedicht als solches – in seiner integralen Gestalt, seiner rhythmischen Anlage, seiner vorherrschenden Intonation – in die Zielsprache geholt wird, tendiere ich naturgemäß dazu, Schwächen oder Fehler des Originaltexts (wenn sie denn nicht gewollt sind!) auszugleichen, gelegentlich auch zu bereinigen. Dass dieses Verfahren problematisch, riskant, zumindest diskutabel ist, steht außer Frage.
aus Felix Philipp Ingold: Überzusetzen
Versuche zur Wortkunst und Nachdichtung
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