Wer schreibt, übersetzt; wie sollte man denn also wissen können, wer da, wenn er, übersetzend, schreibt, spricht. Die Wörter sind ja, im Unterschied zu den Worten, immer schon vorhanden, sie sind allhie, bevor wir zu reden, zu schreiben beginnen; nicht unsre Wörter sind’s, es sind die Wörter einer Sprache, die, als Muttersprache, unsere erste, die eigentliche Fremdsprache ist.
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Nicht um mich verständlich zu machen, schreibe ich; ich schreibe, um – im Text – lesbar zu werden als der Andere, der „ich“ nun einmal ist.
Ähnliches gilt auch für mich als Übersetzer. Ich übersetze nicht, nie, nur weil ich einen fremden Text verstanden habe und ihn, wozu denn auch, verständlich machen möchte; ich übersetze, um zu verstehen.
Ob das Verstehen gelingt, hängt freilich nicht vom Gelingen der Übersetzung ab. Im Gegenteil, die gelungene Übersetzung nimmt auch Unverstandenes in die Zielsprache mit.
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Dass wir, Autoren, letztlich doch nur Übersetzer, folglich durchaus keine Schöpfer, nur Interpreten von Texten, von Textwelten seien, ist eine alte, eine oftmals verdrängte, stets von neuem sich aufdrängende Vermutung, deren skeptische, bisweilen auch melancholische Grundierung im Dichter bloß noch den Exekutor des Texts erkennen lässt, einen Skribenten oder Sekretär, durch den der Text, eigenmächtig, sich kundgibt, einen Epigonen, einen Plagiator, einen Papagei, der den immer schon vorgegebenen Text, ob Buch oder Natur, nachspricht.
„Wir bescheidenen Übersetzer“, so heißt es in einem Widmungsgedicht Günter Eichs an Peter Huchel, „– was sollen wir denen sagen, | die einverstanden sind | und die Urtexte lesen?“
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Selbst der, welcher vom real Gegebenen sich absetzt in die künstlichen Paradiese des Rauschs, des Traums, tut doch, Henri Michaux hat es bestätigt, nichts anderes als „die Welt zu übersetzen“.
Vielleicht braucht man gar nicht erst „Autor“ zu sein, um zum Übersetzer zu werden; vielleicht ist ja jeder, der das Wort ergreift und also vom Wort sich ergreifen lässt, bereits im Begriff, das Unbegreifliche, will sagen das Reale, zu übersetzen, es überzusetzen ins Wort.
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Im Akt des Lesens setzt das Bewusstsein des Lesers sich in Beziehung zum Selbst des Texts; und diese vom Textverständnis unabhängige, nicht notwendigerweise auf „Kommunikation“ oder „Rezeption“ angelegte Beziehung, die sowohl den Leser wie auch den Text transzendiert, indem sie zwischen Text und Leser als ein Drittes zum Ereignis wird, entspricht recht genau der Wechselbeziehung zwischen dem zu übersetzenden und dem übersetzten Text – der Übersetzer ermöglicht die Beziehung, und die Beziehung, das Dazwischen eben, ist die Übersetzung; nämlich so etwas wie jene zwischen zwei Gebirgen schwebende Wolkenhose, welche die von ihr umhüllten Gipfel zugleich verbindet und trennt.
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Also wären wir alle, und nicht nur, wenn wir reden, lesen, schreiben, Übersetzer; wir übersetzen, wenn wir essen und lieben, uns kleiden, uns erinnern, bauen und ernten, kämpfen und sterben, kurz – indem wir leben, übersetzen wir, und was wir übersetzen, hat die ephemere Konsistenz eines frühherbstlichen Nebels.
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Sich als ein Anderer in sich selber übersetzen (lassen); zum Beispiel – wie Fjodor Godunow-Tscherdynzew – beim Sonnenbaden: „Allmählich fühlte ich, I was becoming moltenly durchsichtig. I felt, dass ich permeated war vor lauter Glut und dass ich existierte only insofar as it did. So wie ein Buch übersetzt wird into an exotic idiom, wurde ich in Sonne übersetzt.“
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Übersetzung als Lebenstext; entsprechend hingerissen, selbstvergessen ist Swistonow (in Konstantin Waginows Roman „Werke und Tage“) bei der Arbeit: „Er schrieb, las und fühlte sich wie zu Hause. Er übersetzte lebendige Menschen, und da sie ihm ein wenig leid taten, bemühte er sich, sie zu betäuben mit Rhythmen, mit der Musik von Vokalen und Konsonanten. Er wusste, offen gesagt, nicht, worüber er schreiben sollte. Er nahm nur einfach einen Menschen und übersetzte ihn.“
Der Übersetzer als plagiatorischer Demiurg; Swistonows nächtliche Schreibarbeit ist gleichermaßen Martyrium, Selbstkasteiung und Selbstüberhebung: „Diese [Arbeit] war begleitet von krankhaften Erscheinungen: von Herzklopfen und Händezittern, von Schüttelfrost, der den ganzen Körper schwächte, von Hirnkrämpfen. Gegen Morgen saß Swistonow wie eine Puppe am Fenster. Er hätte schreien mögen vor Qual. Er fühlte die krankhafte Verödung seines Gehirns.“
aus Felix Philipp Ingold: Überzusetzen
Versuche zur Wortkunst und Nachdichtung
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