Die paradigmatische Geste der klassischen Moderne ist … war die Geste des Schneidens, die Geste des Montierens, jene dekonstruktive Geste also, die in den 1910er und 1920er Jahren zur Entstehung des avantgardistischen Filmschaffens und der avantgardistischen Theaterkunst, der bildnerischen Collage, der Photo- und der Textmontage geführt hat. – Eine eigenständige Übersetzungskultur hat die damalige „Kunstrevolution“ nicht hervorgebracht, was freilich nur scheinbar zu ihrer kosmopolitischen Perspektivierung in Widerspruch steht; denn dem künstlerischen, vor allem dem wortkünstlerischen Kosmopolitismus konnte am besten damit Genüge getan werden, dass man Fremdes mit Eigenem zusammenschnitt, dass man, wie Rilke einst festhielt, aus heterogenem „Stückwerk“ ein neues fiktionales „Ganzes“ synthetisierte.
Durch Schnitt und Montage wurden aber nicht nur disparate Fragmente zu einer neuen Werkordnung vereinigt beziehungsweise vereinheitlicht; das „Ganze“ blieb stets als ein in sich gebrochenes erkennbar, da die bild- oder textinternen Schnittstellen nicht etwa verwischt, sondern, im Gegenteil, deutlich markiert wurden.
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So hat sich denn auch anstelle des zwischensprachlichen Übersetzens eine spezifische Technik des Versetzens etablieren können, welche darin bestand, fremdsprachige Textfragmente als autonome Versatzstücke auf Bildwerke zu applizieren oder in Dichtwerke einzubauen, wodurch, im Sinn der avantgardistischen Verfremdungsästhetik, die „Fremdheit“ der Elemente schockartig hervortreten sollte.
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Die Isoliertheit des Teilstücks in bezug auf das Ganze und damit auch das durch den Wahrnehmungsschock ausgelöste ästhetische Befremden hat erst viel später die postmoderne Bild- und Wortkunst zu überwinden vermocht, indem sie die abrupte, gewollt sprunghafte Geste des Versetzens aufgab zugunsten der gleitenden Geste des Verschiebens, die längst auch in der Alltagswelt – man denke bloß an einige rasch populär gewordene Sportarten wie Surfing, Deltafliegen, Skiboard- und Skateboardfahren – dominant geworden ist, ganz zu schweigen von entsprechenden Tendenzen in den Bereichen Mode, Design, Musik, Tanz, Video, Werbung.
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Der allmähliche Übergang vom modernistischen „Prinzip Montage“ zur postmodernen Gleitbewegung, welche nicht nur die Demarkationslinien zwischen Eigenem und Fremdem verwischt, sondern auch werkinterne, textinterne Grenzen zum Verschwinden bringt, hat in der Ablösung der mechanischen, mit immer gleichen Letternsprüngen und Zeilenbrüchen operierenden Schreibmaschinenschrift durch die immaterielle Fließschrift elektronischer Textverarbeitungssysteme ihre pragmatische Entsprechung gefunden.
Dass die Literatur und gerade auch die literarische Übersetzung von dieser grenzüberschreitenden Schreibbewegung nicht unberührt bleiben konnten, liegt auf der Hand. Übersetzung und Original werden nun – Perec und Thomkins, Pastior und Schuldt bieten Beispiele dafür – zu eigenständigen Kunstsprachen synthetisiert, die Neigung, in Fremdsprachen zu schreiben, nimmt ebenso merklich zu wie die Tendenz, mehrsprachige beziehungsweise zwischensprachliche Texte zu entwerfen, Texte nach allen Seiten expandieren lassen; so kann im Text, noch vor dem Autor, Sprache selbst zum Wort kommen. Ich selbst habe dieses – jedenfalls ein ähnliches – Verfahren verschiedentlich erprobt, etwa in einem kurzen Gedicht aus Anlaß von René Chars Tod.
Char
Je neige ich mich
desto einiger mit ihm ein Blick
zu viert. Die Sorge
schwarzer Rest von Frohnatur
erwärmt sich unter
Charons Lid
strahlt sic monarchisch. Je
neige desto einziger
vereist der Blick
klar über soviel Liedern.
Epochal das Lachen
wie es uns verneint und
klafft. Verschieden
für immer.
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Die Mehrsprachigkeit dieses Texts kommt nicht durch Übersetzung vielmehr durch diskrete zwischensprachliche und innersprachliche Verschiebungen zustande. – Die Verschiebung von Char (im Titel) zu Charon (im Text) verdeutlicht das Todesmotiv, das außerdem anklingt in „schwarz“ und „verneint“, und das ausklingt in der semantisch zweideutigen Homophonie von „verschieden“ (für unterschiedlich einerseits, für verstorben andrerseits). – Die Namen Char und Charon werden im Übrigen durch anagrammatische Verschiebung ihres Buchstabenbestands (zu „monarchisch“) ein weiteres Mal eingesetzt: ineinsgesetzt.
Zwischensprachliche Beziehungen liegen der initialen Fügung je neige zugrunde, welche im deutschen Wortlaut die Trauer (als Neige, Verneigung) evoziert, in französischer Lesart jedoch (neige, „Schnee“) daran erinnert, dass es zum Zeitpunkt von Chars Tod im Frühjahr 1988 noch einmal geschneit hat.
Ein zwischensprachlicher Doppelsinn ergibt sich schließlich auch für die deutsch-französische Homophonie Sorge, die einerseits auf Chars langjährigen Wohnort Isle-sur-Sorgue verweist, anderseits auf den Begriff der „Sorge“ und damit wiederum auf Chars enge persönliche Beziehung zu Martin Heidegger.
Als innersprachliche Verschiebung sind zudem die Homophonie Lid/Lied (bei semantischer und orthographischer Differenz) sowie die partielle Anagrammbildung epochal/Lachen zu nennen; eine letzte, noch einmal andersartige Verschiebung ergibt sich zwischen der Wortverbindung über „soviel Liedern“ und deren Subtext („unter soviel Lidern“) aus Rilkes Autoepitaph.
aus Felix Philipp Ingold: Überzusetzen
Versuche zur Wortkunst und Nachdichtung
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