Beim Übersetzen; zum Übersetzen ( II ) – Notizen, Exzerpte und Exempel (5)

Einer der wirkmächtigsten Übersetzungstheoretiker der Moderne ist zweifellos Freud, und er ist auch, eben deshalb, ein bedeutender Dichtungstheoretiker; was er, etwa mit Hinweis auf die Phänomene der Verdichtung, der Verschiebung, der Verdrängung, zur Struktur und Exegese des Traums, des Witzes, des Versprechers geschrieben hat, ließe sich, mutatis mutandis, durchweg auf die Wortkunst der europäischen Avantgarde übertragen.
Überträgt man die Freudsche Übertragungstheorie auf den Begriffsraster der Sprach- und Literaturwissenschaft, so wird sie in der Tat lesbar als eine Theorie der dichterischen Übersetzung; als Entwurf zu einer Poetik der (einst „revolutionär“ und inzwischen „klassisch“ genannten) Moderne.

Wo es an Worten gebricht, haben die Wörter Gewicht. Der Reim ist zu perfekt, um wahr zu sein.
Dennoch hat der Satz, in der Sache, seine Richtigkeit; in der Sache des Übersetzens.

Das Übersetzen ist Sache des Übersetzers; Wille und Weg. – Anderseits ist Übersetzung das, was der Übersetzer, ob er’s will oder nicht, geschehen lässt; das, was zwischen den Texten, unausgesprochen, zum Ereignis wird.

Aufgabe des Übersetzers … nascha sadatscha … sei es, meint Ossip Mandelstam, den Weg des Lesers zum Autor zu verkürzen; nicht aber, ihn zu eliminieren und damit den Schritt zum Andern, den Gang in die Fremde überflüssig, vielleicht gar unmöglich zu machen. – „Einen Autor zur Gänze wiederzugeben, kommt bisweilen einer Beleidigung gleich.“

 

aus Felix Philipp Ingold: Überzusetzen
Versuche zur Wortkunst und Nachdichtung

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