Zwei Leitsätze – Empfehlungen? Warnungen? Vorbehalte? – sind mir beim Übersetzen stets präsent geblieben, haben mich ermutigt, aber auch nachdenklich gemacht. Der eine Satz stammt von Robert Frost, es ist eine Feststellung, die dichterisches Übersetzen obsolet erscheinen lässt und gleichzeitig die Dichtung insgesamt auf jeweils eine (und nur eine) Sprache verweist:
Poetry is what gets lost in translation. – Also: Dichtung ist allemal das, was in der Übersetzung verloren geht; genauer wohl: Das Dichterische ist das …
Der andere Leit- oder Grundsatz geht auf den italienischen Lyriker und Übersetzer Franco Fortini zurück; er besagt ganz einfach, dass der Lyrikübersetzer die Zielsprache, die naturgemäß seine „eigene“ Sprache ist, besser kennen sollte als die Sprache des Originals, mithin die Fremdsprache: Per un traduttore è molto più importante di conoscere bene la lingua d’arrivo che quella di partenza. – Das heißt implizit: Der Übersetzer sollte selbst ein Dichter sein.
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Nicht nur ein „Mehrer“ ist der Autor (im lateinischen Verständnis von auctor, augere), er mindert ja auch, beziehungsweise er mehrt auch dadurch, dass er mindert.
Denn ausgehend vom zuvor Gelesenen darf er dieses nicht bloß nachschreibend übernehmen (was als Kopie, als Plagiat belangbar wäre), er muss davon sehr viel, das meiste weglassen oder es bis zur Unkenntlichkeit verfremden, um es sich aneignen, es unterm eignen Namen vorlegen zu können. Der Mehrwert jedes neuen Texts besteht weit weniger darin, was er an Neuem bringt, als vielmehr darin, wie viel er aus jenen früheren Texten ausblendet, die seine Grundlage bilden.
Noch offensichtlicher wird dieser durch Minderung gewonnene Mehrwert bei der literarischen Übersetzung, die gegenüber dem Originaltext noch so viele Abstriche machen kann oder machen muss und in der Zielsprache gleichwohl reichlich Gewinn bringt. Die Lutherbibel, Schopenhauers oder Rilkes Eindeutschungen, auch Boris Pasternaks russischer „Shakespeare“ sind Beispiele dafür, wie durch Übersetzungsverluste derartige Gewinne zu erzielen sind.
aus Felix Philipp Ingold: Überzusetzen
Versuche zur Wortkunst und Nachdichtung
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