Für einen erweiterten Übersetzungsbegriff – Vorschläge, Beispiele, Fragen (2)

Doch zurück nun zu meinem Vorschlag, Lyrikübersetzung und Textreduktion simultan zu bewerkstelligen als Komprimat, das heißt als eine verknappende Nachdichtung, die den Originaltext zusammenschneidet, ihn allenfalls von formalen Vorgaben (wie Metrum, Reim usf.) befreit, um ihn in solchermaßen verfremdeter Gestalt in die Zielsprache zu übertragen. Die unvermeidlichen quantitativen Einbußen, die dieses Verfahren mit sich bringt, müssen und können ausgeglichen werden durch einen Gewinn an Prägnanz, an prosodischer wie an metaphorischer oder rezeptionsästhetischer Intensität.
Die Verknappung als solche wird dort am unauffälligsten bewerkstelligt, wo sie Wiederholungen, Redundanzen, Pleonasmen usf. beseitigt; sie kann auch die Anzahl gewisser Wortarten – vorzugsweise Eigenschafts- und Umstandswörter – reduzieren. Merklichere Kürzungen und damit tiefere Eingriffe in den strukturellen und ideellen Status der Übersetzungsvorlage ergeben sich notwendigerweise durch die Eliminierung ganzer Versgruppen oder Strophen. Durch solcherart komprimierende Übersetzung kann – beispielsweise – eine vorliegende mehrstrophige Elegie in der Zielsprache radikal auf ein Distichon oder gar auf einen aphoristischen Einzeiler reduziert werden. Meist dürfte die Verknappung aber so ausfallen, dass die Übersetzung im Ergebnis als eine gekürzte Variante des Originals erkennbar bleibt.

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Diesen verfahrenstechnischen Hinweisen und Überlegungen wie auch generell meinem Vorschlag, fremdsprachige Poesie zumindest versuchsweise in komprimierter Form nachzudichten, ist beizufügen, dass dafür nicht jeder Text gleichermaßen geeignet ist. Lyrische Kurzformen in der Übersetzung noch einmal zu kürzen, ist in manchen Fällen zwar durchaus möglich, doch weit weniger ergiebig, als wenn ich ein Langgedicht zu einer acht- oder zwölfzeiligen Strophe komprimiere.
Eine besondere Schwierigkeit stellt sich naturgemäß bei gereimten Textvorlagen. Da Reimpaarungen – wie auch immer sie angelegt sind – nicht aufgelöst werden dürfen, können Kürzungen nur im Innern der Verse vorgenommen werden, falls man nicht überhaupt auf den Erhalt der Paarungen oder gar auf ganze Strophen verzichtet. Ein klassisch komponiertes und gereimtes Sonett bietet, falls überhaupt, nur sehr wenig Spielraum für eine reduktionistische Nachdichtung, während umgekehrt ein noch so umfangreicher Text in freien Versen entsprechend vielfältige Möglichkeiten produktiver Verknappung bietet.
Von allen Übersetzern hat sicherlich Ezra Pound die Verknappung am weitesten getrieben mit einer komprimierenden Nachdichtung, die für die gesamte frühgriechische Lyrik stehen sollte und die gleichwohl nur vier Wörter umfasst: „Spring – Too long – Gongyle.“ In einem einzigen Vers glaubte Pound eine ganze dichterische Epoche – mit Sappho, Gongyla u.a.m. – übersetzen und als intensives Klangereignis vergegenwärtigen zu können. Ein Meister übersetzerischer Verknappung war auch schon der russische Dichter Aleksandr Puschkin, der – um bloß zwei Beispiele zu nennen – ein Gedicht des Xenophanes in seiner russischen Fassung um die Hälfte kürzte und John Wilsons dramatisches Poem „The City of the Plague“ beim Übersetzen von 400 auf 240 Verse zusammenstrich. In diesen und sehr vielen anderen – vergleichbaren – Fällen sind gegen die Eigenwilligkeiten der Übersetzer keine Einwendungen laut geworden.

Heute, da allenthalben Plagiate vermutet und aufgedeckt werden, dürfte die ohnehin in Vergessenheit geratene Technik der übersetzerischen Komprimierung kaum noch auf Interesse stoßen. Der einzige zeitgenössische Protagonist dieser Technik, der Übersetzer und Dichtungstheoretiker Michail L. Gasparow, hat jedenfalls zu Lebzeiten (er starb 2005 in Moskau) mit seinen zahlreichen komprimierenden Nachdichtungen kein nachhaltiges Interesse ausgelöst. Ich selbst möchte nun – vorerst in sehr beschränktem, rein experimentellem Rahmen – einige diesbezügliche Versuche vorlegen und zur Diskussion stellen.

 

aus Felix Philipp Ingold: Überzusetzen
Versuche zur Wortkunst und Nachdichtung

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