Die mit Abstand stärkste Verknappung ergibt sich bei meiner Übersetzung von John Ashberys Großgedicht „Flow Chart“ (1991), das in Buchlänge mehr als 6.000 freie Verse zu einem kolloquial intonierten Monolog zusammenschließt – 6.000 Verse, die offenbar exprompt formuliert, wenn nicht überhaupt improvisiert sind, die aber doch mit dem Anspruch daherkommen, das Leben, die Epoche, das Weltbild des lyrischen Ich – das in diesem Fall wohl weitgehend mit dem Autor identisch ist – in einer Panoramafahrt durch wechselnde Zeiten und Räume vorzuführen. Der mit zahlreichen Lehr- und Leerformeln durchsetzte, über weite Strecken inkohärent und beliebig wirkende Makrotext wird in meiner übersetzerischen Kurzfassung zu einem schlichten, strukturell wie gedanklich stringenten Gedicht, dem man seine Herkunft kaum noch anmerken kann, obwohl jedes Wort – und jedes Wort in seiner ursprünglichen grammatischen Form – dem Original entnommen ist. Insgesamt 18 Verse, im Durchschnitt nicht einmal halb so lang wie bei Ashbery, fügen sich in meiner Übersetzung zu einem quantitativ wie qualitativ völlig neuen Gebilde, zu dem der Autor jedoch sämtliche Elemente im Originaltext vorgibt:
Man rügt den Horizont dafür,
dass er nichts Besseres zu bieten hat.
Nur ist im selben Augenblick
der ganze Tanz oder was auch immer
vorbei. Wobei mir einfällt:
Ich hätte gerne deine Aufmerksamkeit,
nicht bloß deine Augen plus
Gesicht. Idiotisch, findest du nicht? Komm schon,
sprich mit mir hinter dem Schirm
des Wasserfalls, wo’s spukt und Utopien
in einem Sekundenbruchteil scheitern
können. Es ist Zeit, aus eigner Kraft loszugehn.
Nicht um das Aufdämmern neuer Blüten
zu erleben, denn öd ist nicht öd
genug, solang die Nacht und ihre Lichter noch
nah sind. Ich denke, ich geh jetzt,
ehrlich, ich tu’s – jetzt oder Schluss. Bis
zum verpatzten Akkord.
(nach John Ashbery)
aus Felix Philipp Ingold: Überzusetzen
Versuche zur Wortkunst und Nachdichtung
Schreibe einen Kommentar