Je höher der Verdichtungsgrad und der Verlust an formaler wie inhaltlicher Übereinstimmung sind, desto mehr entfernt sich die Übersetzung vom Original und desto mehr gewinnt sie damit auch an Eigenständigkeit. Von daher ist es bloß ein kurzer Schritt bis hin zur Frage, ob sich das Verfahren der komprimierenden Nachdichtung nicht auch auf Originaltexte innerhalb einer und derselben Sprache anwenden ließe; ob also in ähnlicher Weise deutsche Gedichte in deutscher Sprache renoviert und zu Texten eigener, vielleicht ganz anderer Qualität umgerüstet werden könnten?
Da in diesem Fall keine Übersetzung stattfindet, sind die Eingriffe in die Textgestalt – und damit der Angriff auf die Autorschaft! – noch deutlicher zu erkennen als bei zwischensprachlicher Nachdichtung. Denn hier werden ja doch die vom Autor selbst gesetzten Wörter buchstabengleich, wenn auch nur auswahlsweise und bei entsprechend verändertem Kontext, übernommen. Um diesen Vorgang zu verdeutlichen, rücke ich hier meine komprimierende Nachdichtung eines großen Gedichts von Rainer Maria Rilke ein; es handelt sich um das mythologische Erzählgedicht „Orpheus. Eurydike. Hermes“ aus dem Jahr 1904, dessen 95 Verse ich auf 17 reduziere und so zu einem qualitativ neuen und eigenständigen Text zusammenführe:
Felsen waren da und Wälder. Brücken über Leeres
und jener große graue blinde Teich
wie eine lange Bleiche hingelegt. Dass eine Welt
aus Klage ward, in der alles noch einmal
da war: Wald und Tal und Weg und Ortschaft,
Feld und Fluss und Tier. Ganz so
wie um die andre Erde eine Sonne und ein
gestirnter stiller Himmel ging.
Wie eine Frucht von Süßigkeit und Dunkel,
so war sie voll von ihrem großen
Tode, sanft und ohne Ungeduld. Sie war schon
aufgelöst wie langes Haar und
ausgeteilt wie hundertfacher Vorrat. Und als jäh
der Gott sie anhielt, begriff sie
nichts. Fern aber stand jemand, dessen Angesicht
nicht zu erkennen war.
aaaaaaaaaaaaaaaaEr stand
und sah, unsicher sanft und ohne Ungeduld.
(nach Rainer Maria Rilke)
Das durch willkürliche Verknappung gewonnene Gedicht stammt Wort für Wort von Rilke und ist dennoch in dieser Fassung von ihm nicht geschrieben worden. Wer den Text im neuen Wortlaut liest, wird ihn vermutlich gleichwohl dem ursprünglichen Autor zuschreiben, dessen damaliger lyrischer Stil unverkennbar erhalten geblieben ist. Die Nachdichtung vermag hier die Intonation des Originals nicht zu beeinträchtigen, sie begradigt lediglich dessen überbordenden Wortreichtum und intensiviert damit seine Ausdrucks- und Aussagekraft. Inwieweit bei diesem Vorgehen Rilkes Kunstwollen konterkariert wird, ist ebenso schwer auszumachen wie die Eigenleistung des Nachdichters, der kein einziges eigenes Wort in den Text eingebracht, den Text jedoch als solchen vollumfänglich und eigenständig komponiert hat.
aus Felix Philipp Ingold: Überzusetzen
Versuche zur Wortkunst und Nachdichtung
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