Mit einem Selbstversuch schließe ich die kleine Testreihe ab. Ich erprobe das Verfahren der nachdichterischen Verknappung an einem von mir verfassten Langgedicht, das ich erstmals 2005 unter dem Titel „Tierleben“ (in dem Band „Wortnahme“) vorgelegt habe. Das Gedicht umfasst in der damaligen Redaktion 10 durchnummerierte Strophen und gesamthaft ungefähr 300 freie Verse, von denen viele refrainartig wiederholt werden. Die verknappte Textfassung beruht auf den Strophen 0 bis IV, was ungefähr 130 Versen entspricht; davon verbleiben 18 Zeilen, die nun das nachstehende, um vieles kürzere Gedicht konstituieren:
Wo der Ja!-Leib klart. Und
wie im Märch… das Spieglein an der Wand! Was
tobt. Die Schönheit im Auge
des Andern. Ein oft besuchter Ort wo Leere
staunt. Wo der Leib die Wärme
oder die Wärme den Leib sucht. Wo inmitten
der Nixe die Quelle rumort und
leis eine Oper beginnt. Wo Samt und Asche weiß
aber schwarz sind und echt
gefälscht das sächliche Geschlecht. Mit dem Gesicht
das lacht wenn die Strafe es trifft.
Der Name dessen der im Spiegel Schmiere steht
und vergeht. Kalt wie jeder Vergleich.
Wer wäre er. Der sich ein Gesicht andichten ließe.
Und nestelte dem Nächsten – zuck! –
die Maske vom Geschlecht. Sagt statt Amen zweimal
Ich! Und schon schießt das Beutetier
ins Bild. Um nach sich selbst zu schnappen. Bis!
Die Frage nach der Originalität derartiger Nachdichtungen stellt sich hier mit besonderer Dringlichkeit, da ich ja selbst sowohl die Vorlage wie auch die komprimierte Übertragung abgefasst habe. Liegen damit unter meinem Namen zwei eigenständige Gedichte vor oder kann die aktuelle Nachdichtung bloß als Variation auf den Ur- beziehungsweise Originaltext gelten? Man sollte sich, auf der Suche nach einer valablen Antwort, daran erinnern, dass jedes Gedicht das Ergebnis radikaler Streichungen ist, und auch umgekehrt – dass jedes Gedicht eine Textmenge voraussetzt, die um ein Vielfaches größer ist als seine definitive Fassung. Originaldichtung und Nachdichtung wären demnach, so wie ich sie hier darstelle und erprobe, als analoge, qualitativ gleichwertige Schreibbewegungen zu begreifen, und der Nachdichter hätte, nicht anders als der Originaldichter, Anspruch auf – Autorschaft.
aus Felix Philipp Ingold: Überzusetzen
Versuche zur Wortkunst und Nachdichtung
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