Pseudonym – Die Namensänderung als Übersetzungsverfahren (2)

In der Sprache der Bibel steht der Name (onoma) für die Person; diese wird durch ihn nicht maskiert, sondern im Gegenteil als rein geistige Gestalt zur Erscheinung gebracht. Der Name gibt dem Träger objektiven – sozialen wie psychischen – Halt, er ist, nach Florenskij, „die erste und also wesentlichste Selbstoffenbarung des Ich“. Vor dem Namen, ohne Namen ist der Mensch „kein Mensch“, er könnte weder „ich“ sein noch „du“, wäre allenfalls „er“ oder „der-da“.
Das Dasein, als Dabeisein, beginnt erst eigentlich mit dem Namen. Durch den eigenen Namen, der fast immer ein fremder, weil von außen auferlegter Name ist, kommt das Ich zu sich.
Die von Sprachmystikern und religiösen Denkern immer wieder hervorgehobene Antizipationskraft des Eigennamens hat der Linguist Ferdinand de Saussure in seinen groß angelegten, freilich nie zu Ende gebrachten Anagrammstudien anhand dichterischer Texte wissenschaftlich zu erhärten und für die Grundlegung einer allgemeinen Theorie der Wortkunst nutzbar zu machen versucht. Auch dichterische Texte – analysiert hat er vor allem solche der römischen Antike und des germanischen Mittelalters – sind für de Saussure zunächst nichts anderes als entfaltete Götternamen, späterhin werden sie durch einfache Personen- und Ortsnamen oder durch andere Themawörter ersetzt, deren Letternbestand anagrammatisch über den Text verstreut wird und diesem durch seine jeweiligen Leitphoneme eine komplexe Lautgestalt gibt.
Die technische Voraussetzung und Grundlage einer jeden „poetischen Komposition“ besteht demnach darin, „die Logogramme eines Namens oder eines Satzes als Stramin zu benutzen. Und das, wenn es in den entferntesten Provinzen des Imperiums, fern von jedem literarischen Zentrum, vermutlich nicht einen einzigen bescheidenen Epitaph, nicht eine einzige Zeile einer selbst ungeschliffenen lateinischen Poesie gibt, genauso wie jene, die sie durch die Irrgärten einer gelehrten Komposition hindurch entfalten, welche nicht grundlegend über das Anagramm ablaufen würde.“ – Der Name gewinnt eine Art Samenfunktion, die aus seinem kompakten Klangleib Verse, Strophen und ganze Gedichte hervortreibt, die ihrerseits diskret von ihm durchklungen sind: Rekapitulation und Transformation des Gleichen in immer wieder anderer Form.

 

aus Felix Philipp Ingold: Überzusetzen
Versuche zur Wortkunst und Nachdichtung

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