In seiner Qualität als kleinstmöglicher fiktionaler Text gibt sich das Pseudonym vor allem dann zu erkennen, wenn es einerseits die Person, anderseits den Namen des Trägers charakterisierend, manchmal auch ironisierend umschreibt. Auch dieses Verfahren ist eine Art von Übersetzung, die dazu dient, den Namensträger individuell unkenntlich zu machen und ihn zu gleicher Zeit assoziativ zu vergegenwärtigen.
Vielfach übernehmen derartige Pseudonyme die Funktion eines Rebus oder einer minimalistischen Selbstparodie, so etwa dann, wenn der Philosoph Ernst Bloch unter dem erfundenen Namen „Ferdinand Aberle“ auftritt, um sich als Skeptiker, als Querdenker auszuweisen, eben als der, welcher statt „ja“ eher „aber“ sagt. Bei Pseudonymen dieses Typs handelt es sich in der Regel um sprechende Namen, die in kürzester Form auf eine bestimmte, wenn auch nicht ohne weiteres bestimmbare Person anspielen.
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Interessant sind die Fälle, in denen die Pseudonymisierung selbst zum Gegenstand der Pseudonymbildung wird; das Pseudonym wird dann in Bezug auf den wirklichen Namen völlig undurchlässig und bedeutet nichts anderes mehr als das, was es ist und/oder wie es funktioniert. Der Träger derartiger Pseudonyme gibt sich nur einfach als ein Anderer, ein Namenloser, ein Niemand o.ä. zu erkennen: Gottfried August Bürger > „Anonymus“, Günther Stern > „Günther Anders“, Urban Gwerder > „A. Lib. I.“ (Alibi), Theodor Herzl > „Nullus“. – Oft wird das Pseudonym „Andermann“ gewählt (auch „Der Andere“, „Andersen“, „Anderson“), häufig sind dessen fremdsprachige Entsprechungen „Alter“, „Alienus“, „Another“, mehrfach begegnet „Apostata“ – gedacht als der von seinem Namen Abgefallene. – Weitere Beispiele: „Pseudo“, „Tabu“, „Nobody“, „Ein Unbekannter“, „Ungenannt“, „Dunkel“, „Dark“, „Obscurus“, „Ratmich“; das Fehlen des Originalnamens oder die Abwesenheit des Namensträgers wird durch Pseudonyme wie „Manko“ oder „O. Mank“ angezeigt.
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Statt der Absenz, der Gesichts- oder Namenlosigkeit des Autors kann das Pseudonym auch dessen verborgene Anwesenheit anzeigen: „Doppler“, „Der Ähnliche“, „Idem“, „Dito“ usw. – Der Schriftsteller Salomo Friedlaender hat als Pseudonym das Palindrom zu Anonym gewählt – „Mynona“. Paul Ančel spielt mit seinem Pseudonym „Celan“, einem Silbenpalindrom, auf lat. celare (celo, celatus) für „verbergen“, „geheimhalten“ an und charakterisiert damit gleichzeitig die Funktion seines Decknamens; mehrfach ist im Übrigen das Pseudonym „Celander“ belegt, und auch die Decknamen „Bergen“ oder „Berger“ werden öfter von dt. bergen, verbergen hergeleitet als von Berg, Gebirge. Es ist anzunehmen, dass Franz Pfempferts fremdartig anmutendes Pseudonym „U. Gaday“ ebenfalls in diesen Kontext gehört, handelt es sich dabei doch (wenn man den Namen phonetisch liest) um die russische Verbform ugadaj, also den Imperativ zu ugadat’, dt. „erraten“.
Zu Walter Benjamins diversen Pseudonymen gehörte unter anderem das Anagramm „E. J. Mabinn“, in dem auf höchst komplexe Weise die aus seinem Familiennamen gewonnenen Elemente „bin -“, „Ma-nn“ sowie ich (aus „E. J.“, zu frz. je) kontaminiert sind. Der Verweis auf das auktoriale Ich findet sich auch in einem Pseudonym von Ernst Bloch, das die Pronomina der ersten und der dritten Person Einzahl unauffällig zusammenführt: „Eugen Reich“, wodurch der Autor gleichzeitig als er und ich namentlich in Erscheinung treten kann. Viel häufiger sind allerdings vergleichbare Pseudonyme wie „Ego“, „I.Bins“, „ER“ oder „Er“.
An dieser Stelle sei noch erwähnt, dass nicht nur manche Autoren unter mehreren Pseudonymen publiziert haben und publizieren, dass es vielmehr auch Autorenkollektive gibt, die ihre Produktion jeweils unter einem gemeinsamen Pseudonym vorlegen – das bekannteste Beispiel derartiger multipler Autorschaft ist „Jerry Cotton“, ein Name, der von nicht weniger als 70 (deutschsprachigen) Autoren benutzt wurde, gefolgt von „Jack Slade“ (30 Autoren), „Frank de Lora“ (17) und „Frederick Nolan“ (16).
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Dass (und wie) auch die Funktion Autor durch das Pseudonym vergegenwärtigt werden kann, hat vor Zeiten der einst populäre amerikanische Jugendbuchverfasser Edward Stratemeyer alias „Arthur M. Winfield“ in einem launigen Selbstzeugnis dargelegt, aus dem hervorgeht, dass mit „Winfield“ seine Absicht gemeint war, „im Feld“ der Literatur zu „gewinnen“, dass „M.“ (als römisches Zahlzeichen für mille) ihm dazu verhelfen sollte, „Tausende“ von Büchern zu verkaufen, und dass schließlich der gewählte Vorname „Arthur“, dessen Aussprache im Englischen mit „author“ beinahe identisch ist, sein Auftreten als „Autor“ bekräftigen sollte.
Dieses durchaus repräsentative Fallbeispiel macht deutlich, wie trivial die Beweggründe für die Wahl eines bestimmten Pseudonyms sein können und wie komplex dessen sprachliche Machart gleichwohl ist; klar wird auch, dass Pseudonyme dieser Art eigentlich als poetische Kürzesttexte aufzufassen sind. In operativer Hinsicht handelt es sich dabei, wie die oben angeführten Beispiele es erkennen lassen, mehrheitlich um einfache zwischensprachliche Übersetzungen oder um innersprachliche Versetzungen unterschiedlichster Art, die denn auch als solche erkannt und ausgelegt werden müssen, wo es darum geht, ein Pseudonym zu lüften.
[Frank Atkinsen, Dictionary of Pseudonyms and Pen-Names, London/Hamden 1975; Manfred Barthel, Lexikon der Pseudonyme, München 21989; Eymers Pseudonymen Lexikon, Bonn 1997; Serge Boulgakov, La Philosophie du verbe et du nom, Lausanne 1991; Pawel Florenskij, Namen, Berlin 1994; Béatrice Fraenkel, La Signature, Paris 1992; Romain Gary, Vie et mort d’Emile Ajar, Paris 1981; I. F. Massanow, Slowar’ psevdonimov (Lexikon der Pseudonyme), I-IV, Moskau 1956-1960; Ferdinand de Saussure, Linguistik und Semiologie (Notizen aus dem Nachlass), Frankfurt a.M. 1997; Jean Starobinski, Wörter unter Wörtern, Frankfurt a.M., Berlin, Wien 1980.]
aus Felix Philipp Ingold: Überzusetzen
Versuche zur Wortkunst und Nachdichtung
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