Vorbemerkung: Die nachfolgende Gedichtsequenz von Boris Pasternak entstand vor Jahrhundertfrist − im Sommer 1918 − im südrussischen Kurort Otschakowo; sie wurde später in den vierten Lyrikband des Autors aufgenommen, der Anfang 1923 unter dem Titel „Themen und Variationen“ in Berlin erschien. Entstehung, Thematik und Formgebung dieses frühen Dichtwerks − Pasternak war bei dessen Niederschrift achtundzwanzig Jahre alt − weisen zahlreiche Übereinstimmungen beziehungsweise Überschneidungen mit dem gleichzeitig abgefassten und etwas früher publizierten Gedichtbuch „Schwester mein Leben“ (Moskau 1922) auf.
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Die zeitgeschichtliche Prägung der beiden genannten Bände durch den Ersten Weltkrieg und die bolschewistische Revolution ist offenkundig − sie findet adäquaten Ausdruck in vielerlei sprachlichen und stilistischen Normbrüchen, in exzessiver Metaphorik (Sturm, Flut, Rausch), in der Mischung von Archaismen und Neologismen, von visuellen und akustischen Momenten der Wahrnehmung, in der Gleichstellung von Gegenständen und Begriffen sowie der durchgehenden Dominanz formaler Qualitäten (Rhythmus, Klanglichkeit) gegenüber der Bedeutung.
Der Übersetzung von Pasternaks „Themen und Variationen“ (wie auch seiner nachfolgenden Dichtwerke) stehen diverse, nahezu unüberwindliche Schwierigkeiten entgegen. Zwar gab und gibt es immer wieder neue Versuche deutschsprachiger Aneignung (seit kurzem liegt Band 1 einer neuen Werkausgabe vor), doch insgesamt muss wohl gelten, dass die frühe Lyrik dieses Autors hierzulande noch immer nicht in passender Fassung greifbar ist.
Das Problem des Übersetzens ist zunächst, ganz einfach, ein Problem des Verstehens. Da syntaktische wie logische Zusammenhänge kaum auszumachen sind; da die Zeitebenen zwischen Vergangenheit und Gegenwart durchweg fluktuieren; da Signifikanten und Signifikate nicht klar geschieden werden; da die dichterische Rede durch viele direkte und indirekte Zitate angereichert ist; da Metrum und Reim in betont unkonventioneller, ja bewusst inkorrekter Weise eingesetzt werden, stellt sich durchweg die Frage, ob und inwieweit all diese normbrechenden Charakteristika nachgebildet werden können (oder nachgebildet werden sollen), ohne dass in der Zielsprache der Eindruck entsteht, es handle sich dabei um Übersetzungsfehler.
Der hier vorliegende Versuch, Pasternaks variantenreiche Strophen ins Deutsche zu bringen, geht von der Prämisse aus, die Texte aufgrund ihrer formalen Beschaffenheit nachzubauen, statt sie bloß am Leitfaden ihrer jeweiligen Wort- und Gedankenfolge zu übertragen. Konkret heißt das in diesem Fall, dass möglichst viele Formalien, mit eingeschlossen die Reime und Assonanzen, in der Zielsprache rekonstruiert wurden, und dies im Bemühen, auf der Aussage- beziehungsweise der Bedeutungsebene möglichst wenig preiszugeben. Dabei ergab es sich notwendigerweise, dass gewisse inhaltliche Elemente entfallen, andere (aus klanglichen oder rhythmischen Gründen) neu eingebracht werden mussten. Der dominante Gesamteindruck von Rauschhaftigkeit, Entfesselung, Deregulierung, Bedrohung sollte vorrangig beibehalten und im Deutschen nachvollziehbar gemacht werden; und mehr als dies – erhalten bleiben sollte auch die vielfach dokumentierte Leseerfahrung russischsprachiger Leser, die Pasternaks frühe Lyrik einzig „dem Gehör nach“, also unmittelbar („ohne irgendetwas zu begreifen“) als Klangereignis aufnehmen.
aus Felix Philipp Ingold: Überzusetzen
Versuche zur Wortkunst und Nachdichtung
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