Besuch bei Erwin Jaeckle, er wird fünfundachtzig in diesem Jahr; vor Zeiten hatte er meine ersten Gedichte, dann auch während Jahren Rezensionen, Essays von mir in der »Literarischen Tat« gedruckt. Die Zeitung wurde in den frühen siebziger Jahren eingestellt, der Kontakt mit Jaeckle brach ab. Inzwischen hat er, er zeigt auf das oberste Brett seines verglasten Bücherschranks, eine lange Reihe von autobiographischen, wissenschaftlichen, publizistischen, dichterischen Werken an die Öffentlichkeit gebracht, von denen mir allerdings kein einziges bekanntgeworden ist. Zu diesen Werken gehört eine dreibändige Ausgabe von Jaeckles gesammelten Gedichten, er nennt sie »Die Siebensilbler«; und er liest mir aus dem vorerst letzten Band das erste Gedicht vor. Dessen Schlußzeilen lauten so: »… so und nicht anders / will es das werk das dich schafft / geschöpf du des werks«. Der Mann sitzt aufrecht in seinem großen, mit geblümtem Stoff überzogenen Sessel, die engstehenden Augen sind hinter der schweren schwarzen Brille kaum auszumachen, auf der gepolsterten Armlehne zuckt hin und wieder die Schreibhand. Stapelweise liegen Jaeckles Bücher auf Tischen, Kommoden, Regalen, Stühlen; mehrere Bände, alle signiert, gibt er mir zum Abschied in einer Plastiktüte mit. Ist es das, was von diesem Autor bleibt; und was hat sein Werk aus ihm gemacht, wenn nicht das, was jedes Werk aus jedem Autor macht … einen Unsterblichen, der sterben muß, damit das Werk, für sich allein, überlebt.
aus: Felix Philipp Ingold: Freie Hand
Ein Vademecum durch kritische, poetische und private Wälder
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