17. Februar

Für ein paar Tage bin ich, seit gestern, wieder in Wien; heute wäre ich mit H. E. um fünfzehn Uhr zu einer Schachpartie im »Engländer« verabredet gewesen, er hat’s wohl vergessen. Ich warte, bestelle noch einen Zweigelt rot, versuche mich an einem französischen Kreuzworträtsel. Mir gegenüber, einen Tisch weiter, sitzt eine alte Frau, sie löffelt, tief vornübergebeugt, eine Suppe, gleichzeitig liest sie in einem bunten Magazin, das sie zur Hälfte unter den Teller geschoben hat. Die Frau kommt mir bekannt vor. Aber wo sie einordnen, jetzt, da sie gegenwärtig ist. Eigentlich bin ich ja sicher, daß ich sie kenne, nur erkenne ich sie nicht; ich gehe hinüber zu ihrem Tisch.
»Sind Sie’s«, frage ich, »oder sind Sie’s nicht.«
Während die Frau langsam den Kopf hebt, und noch ehe sie mich gesehen hat, erkenne ich Ilse Aichinger. »Wer«, sagt sie, »sollte ich denn sein.«
»Ja.« Mehr fällt mir in diesem Augenblick des Wiedersehens nicht ein. Aber ist es denn ein Wiedersehen. Weiß sie überhaupt, wer ich bin. Meinen Namen nennt sie nicht, weder jetzt noch später beim Abschied, überhaupt kommen während des kurzen Gesprächs, das wir haben, keine Namen vor.
Die Frau erzählt von ihrer Kindheit in Wien, wohin sie nach langer Abwesenheit zurückgekehrt ist. Die Herkunft, sagt sie, sei die Kraft, zu der man zurückkehrt. Auch ihr Mann, sagt sie, sei in seiner letzten Lebenszeit immer wieder, wie zufällig, nach Berlin gefahren, in seine Geburtsstadt. Und sie berichtet von ihrer Schwester … Zwillingsschwester, die in England lebe und von der sie sich so sehr wünsche, daß sie ebenfalls nach Wien zurückkehre. Auch die Kinder. Auch die Dichter. Sie bleiben alle ohne Namen. Dichter. Kinder. Meine Schwester. Mein Mann.
»Ich lese ziemlich viel«, sagt die Frau, »aber eigentlich lese ich immer dasselbe. Am liebsten Gedichte, Bücher über berühmte Leute, keine Romane.« Links neben ihrem Teller hat sie … »zum Telephonieren«, sagt sie, sie lächelt, … ein paar Münzen aufgeschichtet, rechts davon ein Häufchen bekritzelter Zettel und Schnipsel, auf denen wie ein rostiger Briefbeschwerer ihre Hand ruht. Ich verabschiede mich bald, sie sagt nur einfach Sie zu mir. Inzwischen wird mich diese wunderbare Frau vergessen haben. Wie alle Namen.

 

aus: Felix Philipp Ingold: Freie Hand
Ein Vademecum durch kritische, poetische und private Wälder

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