Seit fünf, seit fast sechs Jahren ist Frau B. meine unmittelbare Wohnungsnachbarin. Kurz nach meinem Einzug hier an der Bergstraße hatte ich die alte elegante Dame zufällig dabei ertappt, wie sie, noch im Bademantel und schon geschminkt, den Tages-Anzeiger aus meinem Briefkasten klaubte; daß sie klaute … daß tatsächlich sie für das gelegentliche Verschwinden meiner Zeitung verantwortlich war, bewies mir das ungemein freundliche Grinsen, mit dem sie mir, als wäre überhaupt nichts gewesen, einen wunderbar schönen guten Morgen wünschte.
Niemals wieder hat mich Frau B. nach diesem Vorfall eines Blicks gewürdigt oder gar gegrüßt; bis heute. Bis wir uns heute früh auf der Post vorm Briefschalter trafen.
Und diesmal versuchte sie gar nicht erst, an mir vorbeizusehn, sie richtete ihren Blick auf mein Kinn, dann auf mein linkes Ohr, dann zwischen meine Augen, bevor sie sich, grußlos auch jetzt, langsam abwandte und ich sie, wie aus großer Ferne, sagen hörte: »Daß nun aber der Herr Levinas tot ist.« Der Satz klingt nach wie eine herkunftslose Frage; seit Stunden schneit’s. Bei Frau B. nebenan läuft, lauter als üblich, das nachmittägliche Fernsehprogramm.
aus: Felix Philipp Ingold: Freie Hand
Ein Vademecum durch kritische, poetische und private Wälder
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