Augenblick

Allein im Spiegel bin ich, wesentlich, einsam; wenn auch niemals eins; aber auch der Spiegel ist nicht eins, er ist für alle da, und Unterschiede macht er nicht; es gibt ihn in mancher Form, es gibt ihn konvex und konkav, es gibt ihn auch blind, und es gibt ihn als stehendes Wasser, als Fluß und als Pfütze … wer hat sich nicht schon im kalten Fünfuhrtee gespiegelt gesehn, oder an der schwarzpolierten Stirnwand des Klaviers. Jedoch im eigenen Blut, in der roten chinesischen Tinte schwimmt … ganz klein jetzt und rundlich sich runzelnd und bald schon unkenntlich geworden … mein letztes Gesicht. Man spiegelt sich auch, doch nimmt man’s nicht wahr, in der Drehtür des Hotels, im Schaufenster des Antiquariats, man spiegelt sich, schaut man nachts hinaus ins Dunkel, im Fensterglas, man spiegelt sich im grauen, leicht gewölbten Fernsehschirm, bis mein … dein … unser Bild überstrahlt wird von einem Werbespot, von der Tagesschau.

*

Verläßlichster Spiegel, für mich, sind meine Augen, die mich aus deinen Augen seelenruhig fixieren. So wie jetzt.

 

aus: Felix Philipp Ingold: Freie Hand
Ein Vademecum durch kritische, poetische und private Wälder

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