Geburtstag

Ich hole meine Ferienphotos bei Schweizer an der Klosbachstraße ab. Schweizers Frau, die heute im Laden aushilft, kann die Bilder lange nicht finden, sie ruft, glühend braune Mulattin, nach ihrem Mann, der wohl im Studio oder in der Dunkelkammer beschäftigt ist. Hee-eh. Doch von Schweizer kommt nur, sehr gedämpft, das Echo der Stimme von Frau Schweizer zurück. Frau Schweizer, fröhlich summend, sucht in Kartons und Schubladen weiter nach meinen Photos, sie sucht, und sie findet sie schließlich draußen unter der Türvorlage. Auf den Hochglanzbildern ist nichts zu sehn, sie schillern zwischen Fleischfarbe und Violett, zeigen das, was man sieht, wenn man mit geschlossenen Augen senkrecht in die Mittagssonne blickt. Sehn Sie, wie schöö-ön, sagt Frau Schweizer und breitet die Photos wie ein Kartenspiel vor mir aus. Schön. Naja. Und nun beginnt sie die Bilder eins nach dem andern in Geschenkpapier einzuwickeln, das geblümte Papier schneidet sie mit einer Rasierklinge zu Streifen, fast eine Stunde dauert die Prozedur, ich schwanke heftig zwischen Wut und Bewunderung, der unverlangte Aufwand, den Frau Schweizer da treibt, ist des Guten entschieden zuviel. Aber jetzt kommt aus der Tiefe des Korridors, der den Laden mit den Ateliers, vielleicht auch mit der Wohnung verbindet, Herr Schweizer, hinter einer dunklen Brille trägt er unverkennbar das Gesicht von Cioran. Doch nein, es ist Elias Canetti, der seit vielen Jahren hier im selben Haus lebt. Ja, ich bin’s, flüstert er mir, bevor ich auch nur ein Wort sagen kann, ins Ohr, und gleich involviert er mich, noch immer mit diesem eindringlichen Flüstern, in ein strenges Gespräch, er fragt, ich versuche zu antworten, wir reden, über den Ladentisch zueinander hinge beugt, Stirn an Stirn, er fragt mich nach den »kommenden Russen«, nach Babel, nach Rosanow und Vater Pawel, plötzlich zuckt er, weiß vor Zorn, zurück und schreit; und schreit … ich hab den Schaljapin gefilmt und die Pest, ich hab den Schaljapin gefilmt und die Pest. Drei-, viermal brüllt er mir denselben Satz in die Augen; und ich bin wach.

 

aus: Felix Philipp Ingold: Freie Hand
Ein Vademecum durch kritische, poetische und private Wälder

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