Geständnis

Shaid Amin, ein indischer Sozialhistoriker, berichtet am Rundfunk aus seiner Arbeit. Er wird gefragt und er fragt sich selbst, wie über Menschen geschrieben werden könne, die nicht schreiben können, von denen keinerlei historische Zeugnisse vorliegen.
Amin schildert einen Modellversuch, mit dem er gegenwärtig in Cambridge beschäftigt ist; es geht dabei um die Rekonstruktion eines Überfalls auf eine englische Polizeistation in Nordindien, bei dem im April 1922 von einheimischen Rebellen dreiundzwanzig Polizisten getötet und danach acht Verhaftungen vorgenommen wurden. Es kam in der Folge zu Verhören, zur Verurteilung der Angeklagten.
Der einzige Text, der erhalten geblieben ist, dokumentiert das Geständnis des Hauptverdächtigen, eines Analphabeten, der seine Aussagen dem offiziellen Übersetzer des englischen Untersuchungsbeamten diktierte, nicht aber überprüfen konnte, ob der Text tatsächlich im authentischen Wortlaut festgehalten, ob er korrekt und vollständig wiedergegeben wurde. Letztlich bleibt also unentscheidbar, wer als Autor jenes Geständnisses zu gelten hat.
Der in der Folge nach englischem Recht abgeurteilte Mann hat also in der Geschichte und für die Geschichtsschreibung nur dieses eine, heute nicht mehr verifizierbare Dokument hinterlassen, das ein Geständnis enthält, welches mit Sicherheit nicht in der überlieferten Form, vielleicht überhaupt nicht abgelegt wurde.
Der Mann selbst hat nie geschrieben, er ist nur eben damals, ein einziges Mal in seinem Leben, geschrieben worden; und nur so, als Geschriebener, hat er seinen Tod überdauert … im Text dessen, der des Schreibens mächtig war.

 

aus: Felix Philipp Ingold: Freie Hand
Ein Vademecum durch kritische, poetische und private Wälder

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