»Indem ich das Rot des Sari, Lendenschurzes oder Gewands mit den Erinnerungsstücken eines Touristen oder Kunstliebhabers konfrontierte, habe ich einen Rubin mit glanzlosem Feuer erhalten, der nicht einmal in der Halbwirklichkeit des Traums, sondern«, so berichtet Michel Leiris, »nur auf dem Papier existiert, das ich krampfhaft beschreibe, ohne daß es mir gelingt, etwas anderes als Schrift hervorzubringen.« Wie sich diese alltägliche Erfahrung zu einem »fast manischen Zweifel« an der eigenen Ausdrucksfähigkeit steigern kann und wie sie sich schließlich zu der existentiellen Angst verdichtet, nichts zu sagen zu wissen oder nicht zu wissen, wie man das, was man zu sagen hat, sagen soll, davon berichtet Leiris, zur Hauptsache im dritten Band seines autobiographischen Traktats »Die Spielregel« aus den Jahren 1948 bis 1976.
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Die Scheu vor dem Akt des Schreibens, die Angst vor dem Akt des Redens verbinden sich bei Leiris mit einer geradezu verzweifelten Scheu, mit Abscheu sogar vor dem Liebesakt und einer ebenso verzweifelten Angst vor der Lüge. Die aus schmerzlicher Selbsterfahrung gewonnene Erkenntnis, daß Liebe ohne Lüge nicht zu leben ist, und die gleichzeitige Einsicht, daß Lüge auch jegliches Reden und Schreiben bestimmt, die Tatsache also, daß menschliche Kommunikation durch Sprache eher gestört als gefördert wird, war für Leiris einst Anlaß zu einem Selbstmordversuch, bei dem er sich … seine Sprachnot in eine Realmetapher umsetzend … den Hals aufschnitt. Die so entstandene lebensgefährliche Wunde klaffte »zentimeterweit« über dem Kehlkopf und hatte, wie Leiris nach seiner Rettung beobachten konnte, das Aussehen eines Munds mit geschürzten Lippen.
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Trotz vorübergehender Sprechunfähigkeit und bleibenden organischen Schäden ist Leiris der wahrsten … der wortlosen Sprache niemals näher gekommen als auf dem langen Leidensweg, der ihn, als das Koma durchgestanden war, an jenem äußersten Punkt verharren ließ, wo der Mund sich zur Wunde verzerrt und die fundamentale Lügenhaftigkeit des Worts dem authentischen Ausdruck des Schreis, des Gemurmels, des unartikulierten Gesangs zu weichen hat.
Für Michel Leiris wird die Sprache so zur einzigen Heldin der Literatur, und als solche trägt sie den Namen »Poesie«; die Poesie hat nicht nur das letzte Wort, sie ist’s. »Als winziges Geschenk, mit dem das Schicksal mich belohnt hat, bleibt mir die Narbenschrift an meinem Hals, die ich mit einem Initiationszeichen verglichen habe, eine Art Lebensbaum … Und mir scheint, daß ich in diesem Augenblick, Leben und Tod, Rausch und Scharfsicht, Inbrunst und Verneigung vermählend, jene faszinierende Sache am innigsten umarmt habe, der ich noch immer nachspüre, weil sie nie ganz zu erfassen ist, und von der man meinen könnte, daß sie mit Absicht einen weiblichen Name trägt … die Poesie.« Der Autor bleibt lesbar in der Narbenschrift der Poesie; sein Atem, seine Stimme überdauern … wenn er längst schon verstummt ist … im Text, der als sein Lebensbaum fortbesteht.
aus: Felix Philipp Ingold: Freie Hand
Ein Vademecum durch kritische, poetische und private Wälder
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