Pfadsucher

Jürgen von der Wense, gebeugt übers Meßtischblatt Jühnde, schreibt: »… beginnt oben über Bördel am Sesebühl, dem weitaus schönsten, aber auch unbesuchtesten Ort um Göttingen mit großartiger Fernsicht (der Brocken genau über dem Jakobi-Kirchturm!) – dann … Hoher Hagen – nach Südosten – Heiligbronn – Sauenberg – jetzt westlich nach 365, südwestlich zum Steinberg – zwischen 369 u. 378 um Brackenberg … links oben die weite Röt-Mulde der Schede vor dem Bramwald, wieder oben abgeschlossen durch die Wasserscheide zur Nieme (Hohe Stein-Dransberg), rechts die weiten öden aber fernsichtigen Muschelkalk-Hochflächen um Jühnde, Meensen, Atzenhausen; und südlich das Werratal, gegenüber der mächtige Kaufunger Wald. Also Hochmulde …« Also schlicht eine Aufzählung von Namen, die jeweils für einen bestimmten Ort stehn, der draußen, außerhalb des Meßtischblatts, aufgesucht werden kann; auf der Karte ist der Name selbst der Ort.
Von Name zu Name entwirft der Kartenleser, der wie jeder Leser ein Pfadsucher ist, seinen Weg; ein Gedicht. Zu vergleichen mit dem Homerschen Schiffskatalog, mit einer alttestamentlichen Genealogie, mit einer Speisekarte, einer Totentafel, mit dem Begriffsregister zu einer wissenschaftlichen Abhandlung, mit dem Abspann zu einem Fernsehfilm.
Mag sein, daß alle Dichtung mit der Aufzählung von Namen begann. »Südlich Bördel kommen wir in das Gebiet der Dramme, die bei Obernjesa in die Leine fällt … Drei Wurzeln: Jühnde, Meensen, Atzenhausen, die sich bei Mariengarten vereinen … Gleich versinkt die Dramme wieder und bricht westl. Barlissen unter dem Mackenrodt mit starkem Sprudel lustig wieder hervor, wo der Muschelkalk an den undurchlässigen Röt stößt.« Und so fort.

 

aus: Felix Philipp Ingold: Freie Hand
Ein Vademecum durch kritische, poetische und private Wälder

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