Pianoforte

Valery Afanassiev, dem die bisher wohl langsamste, mithin auch die längste Einspielungvon Schuberts Sonate in B-Dur, op. posth. D 960, zu verdanken ist, wurde 1947 in Moskau geboren, wuchs dort auf, machte schon in den sechziger Jahren als Pianist von sich reden, gewann diverse internationale Klavierwettbewerbe, setzte sich 1974 während einer Konzertreise in den Westen ab, lebt heute als Schriftsteller in Le Chesnay bei Paris und hat vor kurzem sein drittes, in französischer Sprache abgefaßtes Buch vorgelegt. Es handelt sich dabei um eine Sammlung sogenannter »klingender Briefe«, das heißt um die … fiktive … Nachschrift von insgesamt neun besprochenen Tonkassetten, die auf inoffiziellen, um nicht zu sagen illegalen Wegen in drei Sendungen aus Moskau nach Frankreich gelangt sein sollen. [Valery Afanassiev, Lettres sonores, Librairie José Corti, Paris 1995.]
In einem kurzen, mit nabokovianischer Ironie grundierten Vorwort weist Afanassiev darauf hin, daß er … nach seiner Emigration aus der UdSSR … während Jahren mit einem Moskauer Freund »klingende Briefe« ausgetauscht habe, wobei »auf andere Weise« und über »andere Dinge« gesprochen worden sei. Doch bleibt unklar, wer von den beiden Korrespondenten auf welche »andere Weise« über was für »andere Dinge« geredet hat, unklar auch, warum und wozu die klingende Korrespondenz überhaupt aufgezeichnet wurde, unklar letztlich sogar, was es mit Afanassievs fernem Freund auf sich hat, von dem es unvermittelt heißt, er sei »in Frankreich geboren«, und seine Mutter habe »sich das linke Bein gebrochen«. Das vom 25. Dezember 1986 datierte, also in die späte Sowjetzeit zurückführende Vorwort sorgt für soviel Verwirrung, daß sich der Leser im folgenden durchaus als Partner jenes »Freundes« in Moskau angesprochen fühlen könnte, den der Autor beiläufig einmal auch als seinen »Helden« bezeichnet, der aber offenkundig die Rolle eines literarischen Doppelgängers von und für Afanassiev selbst zu spielen hat.

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Afanassievs »Freund« und »Held« ist ein Mensch von irritierender Eigenschaftslosigkeit … er scheint keine Familie, keinen Beruf, keine Überzeugungen, nicht einmal einen Namen zu haben; sein Alter bleibt ebenso unbestimmt wie die Zeit und die Umgebung, in der er lebt, und körperlich gewinnt er nur punktuell … als widerliches Spiegelbild seiner selbst … eine ambivalente Präsenz. Der namenlose Mann, dessen soziales Beziehungsfeld auf lockere Frauenbekanntschaften sowie auf seine herrische Mutter beschränkt ist, die ihn, wie man vermuten muß, im Auftrag des Staatssicherheitsdienstes permanent beschattet, erweist sich im buchstäblichen Wortsinn als eine literarische, will sagen eine aus literarischen Versatzstücken konstruierte Figur, die manche Ähnlichkeiten mit Gontscharows schlaftrunkenem Oblomow, mit dem redseligen »Untergrundmenschen« Dostojewskijs, aber auch mit den einzelgängerischen, zwischen Dandyhaftigkeit und Spießerturn schwankenden Antihelden Nabokovs erkennen lassen.

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Wie bei jedem »Mann ohne Eigenschaften« handelt es sich bei Afanassievs Double um ein heterogenes Bündel von Eigenschaften ohne Mann. Die anonyme Kunstfigur bleibt nicht nur in ihrer vagen Körperlichkeit unfaßbar, sie zeigt auch keinerlei Charakter, hat keinen Willen, kein Begehren, kein Ziel, sie schafft und bewirkt nichts, und sie spricht, wie nicht anders zu erwarten, in völlig unpersönlicher, bisweilen zitathaft überhöhter Diktion. Die hauptsächlichen Eigenschaften (oder Beschäftigungen) dieses unheldischen Helden sind rezeptiver Natur; exorbitant ist sein Konsum an Champagner, Süßigkeiten, Kaviar und Psychopharmaka, exorbitant auch sein Lesehunger, die von ihm »wiedergekäuten«, in seinen Kassettenbriefen direkt oder indirekt zitierten Texte würden eine ansehnliche Bibliothek, von Heraklit bis Celan, füllen können. Als Leser wie als Esser ist der Mann gefräßig und elitär zugleich; er meint: »Der Geschmack von geräuchertem Lachs ist ebenso ewig, ebenso notwendig wie ›König Lear‹.« Aber auch: »Die Wohligkeit, die ich vorab verspüre, indem ich die Hand ins laue Badewasser tauche, ist ebenso köstlich wie das satori eines japanischen Buddhisten.« Der sogenannte »Sinn des Lebens« kann sich dem Empfindsamen beim Betrachten eines »alten Films von Buster Keaton« oder bei einem Bummel durch die Stadt gleichermaßen offenbaren: »Hat mein Spaziergang einen Sinn? – Er hat den Sinn eines Spaziergangs.« Das Leben sei sinnvoll schon deshalb … und nur deshalb, weil man am Leben ist, versucht Afanassievs Held sich einzureden; was ihn aber keineswegs daran hindert, ernsthaft über Selbstmord nachzudenken … auch dieser bekäme seinen Sinn allein dadurch, daß er begangen würde.

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Doch gerade weil der Sinn so unmittelbar an das gebunden ist, was ist, wird jede produktive Bemühung zum Unsinn. Der Mann, der die »klingenden Briefe« aufs Band diktiert, wird nie einen Brief schreiben, folglich auch keinen Brief hinterlassen, so wenig wie er sein bis in alle Details geplantes »Werk« je verwirklichen wird: »Mir bleiben bloß die großen Linien. Sie sind derart groß, daß ich mich darin zu verlieren drohe. Womit sollte ich beginnen, womit enden? Falls ich mich auf gut Glück an die Arbeit mache, wird mein Buch weder Anfang noch Ende haben. Gegenwärtig hat es noch keinen Anfang und folglich auch kein Ende. – In meinem Buch wird es von allem etwas geben. Alles wird da sein. Mein Projekt ist kolossal, zyklopisch … Jedermann wird in meinem Buch sein: die Toten ebenso wie die Lebenden.« Und wo … zum Beispiel … von Montaigne die Rede wäre, müßte auch von Horaz und Lukrez, von Epikur und der Stoa, von Anatole France und Puschkin die Rede sein, nicht zuletzt aber vom Leser all dieser Autoren, der nun seinerseits zum Autor werden möchte, vor der Mächtigkeit seines eigenen Projekts jedoch resigniert; denn: »Wenn ich von mir rede, müßte ich von jedermann reden, da ich doch jedermann bin, die Toten und die Lebenden. Ich bin alles. Ich bin die Geschichte des Universums.« Wer alles ist, braucht nicht auch noch etwas zu schaffen. Das Scheitern des Autors ist sein Triumph.

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Valery Afanassievs »Klingende Briefe« haben … außer den Leseerfahrungen, den Gaumenfreuden und den desolaten Selbsterkenntnissen ihres fiktiven Verfassers … noch manch anderes zum Gegenstand, auf das hier hinzuweisen wäre. In den vielfach durch Pausen … »Schweigen«, »langes Schweigen« … unterbrochenen Diktaten ist des öftern, mit kritischem Witz, von klassischer und zeitgenössischer Musik die Rede, von Politik und Alltag in der späten UdSSR, von der Mentalität des Russentums, vor allem aber von trivialen Gegenständen und Vorkommnissen, die sich der zumeist schläfrigen Wahrnehmung des Erzählers letztlich als das einzig Wahre darbieten. »Die Wahrheit«, sagt der Erzähler, »hängt von unsern Stimmungen ab.« Dagegen vermag er in der »großgeschriebenen Wahrheit« der Philosophen und Ideologen nichts anderes als einen »Orthographiefehler« zu erkennen, und dezidiert hält er »unser Nichtwissen« für »sehr viel kostbarer als die Allwissenheit – das Synonym für Erstarrung und Langeweile«.

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Eben dies macht den Reiz und auch das Interesse der »Klingenden Briefe« aus, daß sie … statt belehren oder unterhalten zu wollen … schlicht von dem berichten, was gemeinhin nicht der Rede wert ist: »Indem ich nichts sage, sage ich alles, denn es gibt nichts zu sagen.« Mit andern Worten: »Jeder hat etwas zu sagen, selbst wenn dieses Etwas darin besteht zu sagen, daß man nichts zu sagen hat.« Afanassiev jedenfalls gelingt’’s, aus solcher Nichtigkeit beachtliches … literarisches … Kapital zu schlagen.

 

aus: Felix Philipp Ingold: Freie Hand
Ein Vademecum durch kritische, poetische und private Wälder

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