»Die Hitze in der Zelle war so, daß man keine einzige Fliege sehen konnte.« Ein Satz aus Schalamows Lagertagebuch, aufgezeichnet im äußersten Nordosten der damaligen Sowjetunion; ein Satz, der aufgrund seiner syntaktischen und lexikalischen Schlichtheit sofort verständlich sein sollte, dessen Bedeutung mir aber verschlossen bleibt, da ich die Erfahrung … die Wahrnehmung, die er vergegenwärtigt, nie gemacht habe. Also muß ich sagen, daß dieser Satz, auch wenn er eine bestimmte Wirklichkeit genau benennt, für mich nicht zu verstehen ist; und da mir seine Bedeutung entzogen bleibt, bin ich um so freier, ihm einen Sinn zu geben. Ich kann ihn, ohne zu wissen, welche Schrecklichkeiten er benennt, als einen poetischen Satz begreifen. Was logisch oder historisch unsinnig ist, kann poetisch durchaus sinnvoll sein … der Sinn des Poetischen liegt nicht im Satz als Aussage, er liegt eher im Satz als Konstrukt; nicht die Wörter tragen ihn, er liegt dazwischen.
aus: Felix Philipp Ingold: Freie Hand
Ein Vademecum durch kritische, poetische und private Wälder
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