Siena

Ich sitze am Campo, wieder mit Grappa, versuche, an Krasimira K. zu schreiben, ihr alles zu erklären; aber was ist schon alles. Der Himmel hängt tief, der Turm, die Fassaden stecken im Nebel. Leicht regnet’s, zu hören sind nur Kinderstimmen; besonders eindringlich, immer wieder, der spitze Schrei eines Mädchens, das unbedingt von seinen Eltern photographiert werden will. Quer über den leeren Platz geht ein mongoloider Junge mit winzigem Kopf, in der linken Hand schwenkt er, behelfsmäßig als Regenschutz, einen großformatigen gelben Briefumschlag, Der Wand entlang, die Mauer mal mit der Schulter, mal mit dem Ellenbogen und der Hüfte streifend, geht eine hochgewachsene rothaarige Frau, sie ist sichtlich schwanger, ihr Schritt fast tänzerisch, sie trägt eine straffe schwarze Keilhose, der schwere Pelzmantel ist offen, zweidreimal bleibt sie stehn, stützt sich mit gespreizter Hand an die bröckelnde Ziegelmauer. Mitten auf dem Campo hat jetzt ein kleinwüchsiger Polizist mit hohem weißem Helm Aufstellung genommen, er gestikuliert wild, zeigt von Zeit zu Zeit mit dem Daumen nach oben, während er gleichzeitig, von hier aus freilich nicht zu hören, auf sein Funktelephon einredet. Kurz darauf ist der Platz von vielleicht zwanzig Uniformierten umstellt, in den Seitengassen warten mit laufendem Motor und offenen Türen die schwarzen Alfettas der Carabinieri. Es ist Mittag. Wie lang es dauert, bis die Turmuhr alle zwölf Schläge abgezählt hat.

 

aus: Felix Philipp Ingold: Freie Hand
Ein Vademecum durch kritische, poetische und private Wälder

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