NACHWELT
Mit kollernden Steinen
Rollt der Faun ins Gedörn.
Über die Heide singt
Telefondraht.
An den bebenden Mast
Schiebt der Kobold sein Ohr.
Das gelbe Gebiss
Grinst.
Albin Zollinger
Es ist nun rund fünfzig Jahre her, seit das letzte Mal versucht wurde, die schweizerische Lyrik in einer Anthologie zu sammeln. Als Robert Faesi 1921 seine Anthologia Helvetica in der Bibliotheca Mundi des Insel Verlages herausgab, leiteten ihn bei der Auswahl einerseits die ästhetischen Massstäbe seiner Zeit, andererseits patriotische Gefühle. Unter den vielen Gedichten, an deren Klang man sich sicherlich berauschen konnte, findet sich kein einziges, das sich mit der Schweiz kritisch auseinandersetzt. Einerseits war die Schweiz kein Gegenstand der Kritik, sondern der Verherrlichung, andererseits aber waren sprachliche Helvetismen verpönt. Das jedenfalls wollte die Auswahl Robert Faesis glaubhaft machen, obwohl zu jener Zeit schon Dichter wie Robert Walser und Hans Morgenthaler, die sich in seiner Anthologie allerdings nicht finden, veröffentlicht haben.
Bei der Durchsicht der Lyrikbände, die seither publiziert wurden, zeigte sich, wieviel sich inzwischen geändert hat. Während Lyriker wie Karl Stamm, Siegfried Lang und Max Pulver sich darauf beschränkten, mehr oder weniger geschickt Rilke, George oder den deutschen Expressionismus nachzuahmen, setzte sich zunächst Robert Walser von allen Vorbildern ab. Mit ihm beginnt, was man als moderne, spezifisch deutschschweizerische Lyrik bezeichnen kann. Im Gegensatz zu seinen Zeitgenossen verzichtete er darauf, ein makelloses Schriftdeutsch zu schreiben. Er fügte rücksichtslos Helvetismen ein. Es entstand eine Sprache, deren Zauber in ihrer natürlichen Verfremdung liegt.
Eine Mischung aus Archaik und Unbeholfenheit, die der Wirklichkeit, die Walser ausdrücken wollte, genau entsprach. Diese Wirklichkeit war eben keinesfalls so glatt und pathetisch, wie es die Sprache seiner Zeitgenossen glauben machen wollte. Auf eine ganz andere Art setzte sich Hans Morgenthaler gegen die Modeströmungen ab. Seine Gedichte erschüttern vor allem durch die rücksichtslose Offenheit, mit der er das Bürgertum seiner Zeit anklagt. Seine Gedichte sind das Protokoll eines Menschen, der an der Schwindsucht und der Schweiz, wie er sie erlebte, zugrunde ging.
Der dritte Lyriker, den man auch als Klassiker der modernen deutschschweizerischen Lyrik bezeichnen könnte, ist Albin Zollinger. Alle Versuche, ihm zum Durchbruch zu verhelfen, sind bisher gescheitert. Obwohl man ihn in der Schweiz dem Namen nach kennt, entledigt man sich seiner meistens durch unreflektierte Achtung und behauptet, die Zeit, da er hätte wirken können, sei vorbei. Es ist zu wünschen, dass seine bevorzugte Stellung in dieser Anthologie dazu beiträgt, ihn populärer zu machen. Denn manche seiner Gedichte sind mit den Massstäben der Weltliteratur zu messen.
Im übrigen kam es mir bei der Auswahl nicht darauf an, einfach jene Dichter aufzunehmen, die innerhalb der schweizerischen Landesgrenzen geschrieben haben, sondern jene, die der Schweiz zur Sprache verholfen haben. Und zwar nicht jener Schweiz, wie Robert Faesi sie sah, sondern jener der Konflikte und Gegensätze. Es sind dies Gegensätze wie: Natur und Mensch, Idyll und Grauen, Kontaktlosigkeit und Aggression, Puritanismus und Ausschweifung, Protest und Resignation, Wohlstand und Platzangst, Musse und Hysterie. –
Man könnte diese Aufzählung beliebig fortsetzen. Sie zeigt, dass es den modernen deutschschweizerischen Lyrikern nicht mehr um Heimatverklärung, sondern um die Klärung der sprachlichen, politischen, geopolitischen und geistigen Bedingungen ihres Lebens und Schreibens geht. Auch diese Anthologie ist national; allerdings auf eine oft nicht sehr schmeichelhafte Weise.
Indem sich die deutschschweizerische Lyrik durch Dichter wie Robert Walser, Hans Morgenthaler und Albin Zollinger kritisch emanzipiert und seither behauptet hat, ist die Zeit, da man sie in Deutschland als Provinzprodukt zweiten und dritten Ranges abtun konnte, vorbei. Nicht Vollständigkeit, was die Namen von Dichtern betrifft, sondern der Nachweis, dass die deutschsprachige Lyrik durch die Emanzipation der schweizerischen Dichter erheblich bereichert worden ist, ist das Ziel dieser Auswahl.
Zu erwähnen ist noch, dass zu dieser Emanzipation auch die Beachtung, die neuerdings Dialektgedichte finden, gehört. Da ihnen jedoch schon eigene Anthologien gewidmet wurden, habe ich sie weggelassen.
Frank Geerk, 21.11.1973, Vorwort
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