– Zu Karl Mickels Gedicht „Dresdner Häuser“ aus Karl Mickel: Vita nova mea. –
KARL MICKEL
Dresdner Häuser
Seltsamer Hang! die Häuser stehn, als sei
Hier nichts geschehn, als sei das Mauerwerk
Von Wind und Regen angegriffen, als
Hab nur Hagel Fenster eingeschlagen.
Die schöngeschnittnen Räume! ihr Verfall
Rührt, scheint es, vom ungehemmten
Wachstum wilder Kirschen im Parterre
Langsam, scheint es, haben die Bewohner
Sich eingeschränkt, um endlich ein Zimmer
Noch einzunehmen mit dem Blick zum Fluß.
Das also gibt es!
aaaaaaaaaa aaaaSagen will ich: Freundin
Dies Haus ist ruhig, hätt ichs hätt ich Ruhe
Ruhe brauch ich, also muß ichs haben
Ich mach was Geld bringt.
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaDie hier wohnten
Inmitten großer Industrie, erhabener
Natur, die Stadt zu Füßen, setzten in Gang
Des Todes Fließband: welke Lausejungen
Kommerzienräte, mordgeil vor Alter, Nutten
Zahnarm mit fünfundzwanzig, Buckelköpfe
In sichern Bunkern, westwärts weg, bevor
Gestein und Fleisch zu schrecklichen Gebirgen
Zusammenglühten stadtwärts, menschenwärts.
Das Neue Leben blüht nicht aus Ruinen
Da blüht Unkraut. Unkraut
Muß weg, eh Neues hinkann: kein Baum
Ist mehr als mannshoch, wo späte Eile
Wohnraum hinsetzt, kahle Häuser, reizlos
Eins wie’s andre, buntgemalt, mit dünnen
Wänden, niedern Zimmern, Bad
Ungekachelt, schön, daß sie da sind
Und angemessen dem Finanzplan, schließlich
Weil sie den Krach mit den Vermieterinnen
Gewaltlos hindern. Weil ich Ruhe liebe
Sag ich zu dieser Bauart: Ja. Das Neue.
Gibts das: Ruhe hierorts? Freundin, wir
Beschäftigt auf den Polstermöbeln empf-
Inden was wie Ruhe zwischen zwei
Herzschlägen, doch muß der Herzschlag
Zweier Leiber gleich sein, das ist selten
Und wenn es ist, weiß man, es bleibt nicht.
Ruhig sind die Pausen in den hastig
Polternden Schritten, wenn der Schichtarbeiter
Von nebenan zur offnen Haustür geht:
Ein ruhiger Mann: seine Söhne brüllen
Mich nächtens wach, zwei an der Zahl, die Frau
Macht einen zarten Eindruck, die Hände
Rot: die Windeln. Täglich trägt sie
Drei Treppen hoch die Einkaufnetze, schleppt
Winters Kohlen.
aaaaaaaaaaaaaaDas ist die Ruhe:
Zeit zwischen Blitz und Donner, Unrast hat Löcher
Pflicht geht nicht durch, eh Muße Pflicht wird.
Vor bessern Zeiten kommen schlimme Winter
Abraum auf dem Abraum: Schnee, man schlägt
Mit Muskelkraft Elektrobagger frei
Frost in der Kohle, Frost muß Frost bekämpfen
Im Krafthaus Havarie, die Kindlein heizen
Mit ihrem Fieber ihre Krankenzimmer
Wie nebenan.
aaaaaaaaaaaaaSodann das Eis bricht auf:
Aufatmen, denk ich, kann der Nachbar jetzt
Aufholen muß er. Er ist Fernstudent
Schwarz seine Lider, ich seh ihn sitzen
Früh an Büchern, schlaflos blicklos blättern
Die Frau geht fremd, was bleibt ihr, sie sagte:
„Auf Disteläckern wir lernten uns kennen
Und krumme Rücken, dem Bündnispartner
Halfen wir, daß er die Ernte
Einbringt, die er uns verkauft.
Wie unser Biß das harte Brot durchdringt
Wir dringen durch! wir hattens versprochen
Uns und allen, da wars hartes Brot.
Nicht in die Knie gehn! Erste sein am Rain!
Daß Zeit ist für den Kuß, die Luft war trocken
Staub im Mund, er sprach:
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaNicht erst das Grab
Soll, wenn wir leben, Bucklige heilen
Ich geb nicht auf, wie leb ich sonst?
Jenes Todes Leib sei nicht der unsre
Der uns bereitliegt, durch die dünnen Wände
Kälte spendend, auf des Ehbetts (sprach er)
Katafalk, der Januskopf des Zeit-
Genossen Zukunft: du sahst ihn gestern
Öffentlich essen, die Frau vorm Fleisch
Die beißt in Totes, nur noch, ihre Zähne
Mühvoll erhalten, kauten stellvertretend
Was sich Ihr Mann nennt, fühllos saß er, und
Mich sah ich sitzen an seiner Stelle
Dich an der ihren, die Wände wuchsen
Einwärts, streckte ich den Arm
Stieß er an Schränke, stoffgepolstert, weniger
Luft war im Raum, als die Lungen faßten
Brüllen wollt ich, Röcheln wars, du hörtests
An…“
Das sagte er, sie mir, ich dir. Die Augen
Stumpfen ab, gelegentlich erreicht
Der Blick die Wimpern Spitzen Speere
Gezielt wohin? Der Körper wie an Stricken
Bewegt sich, noch, im Lufthauch, den der Baum
Erzeugt, in den sie eingeknotet sind.
Wo bin ich? wer? „Des Dichters Lied sei heiter!“
Sprach der Mann der Frau und Fernstudent
„Nicht diese Töne, Freunde! Eure Stimme
Soll hinbaun was, wo vorher nichts war, Wald
Niederreißen, Schornsteinwälder hochziehn
In kürzern Zeiten als ein Ästlein wächst
Einwurzeln dichtes Baumwerk in den Städten
Auf Kellern, die ein Krieg geebnet hatte
Mit Stein und Fleisch und Eisensplittern, und
Auswerfen Straßennetze, wo der Fischer
Fischnetze auswarf, Brücken übern Sumpf
Verspannen, und zwei Ähren wachsen lassen
Wo eine wuchs, bewässern und entwässern
Natur uns unterwerfen, uns natürlich
Benehmen lernen: das ist Arbeit, aller
Genüsse erster, edelster, der Ziele
Äußerstes Ziel, wie Liebe unerschöpflich!“
Ich selber will ein Haus sein, sterbe ich
Stein durch und durch, der Frost Glut Sturm
Unfühlend abweist, weist sie für euch ab.
Nach außen leit ich eure Stürme willig
In mir ein Herz wird schlagen wie der Donner
Waldungen stürzen, fliegt ein Fenster auf
Mit euren Gluten heize ich die Stadt, und
Sobald euch friert, den Kontinent vereis ich.
Wer in mich eindringt, bricht sich das Genick
Bevor er euch behelligt, auf der Treppe
Die Kindlein über meinen Dachfirst wandeln
Schwerelos, denn das ist meine Höhe.
Ein so langes Gedicht ist, zumindest im 20. Jahrhundert, ungewöhnlich. Wer auf einen solchen Bandwurm trifft sieht sich versucht, die Seiten zugunsten kürzerer Gedicht; umzublättern, in denen die Aussage handlicher zubereitet wurde. Daß Lyriker Mitte der sechziger Jahre, zur Entstehungszeit von Karl Mickels „Dresdner Häuser“ (in Vita nova mea wird 1958/65 angegeben), in Ost und West gegen das kurze und für das lange Gedicht plädierten, mag als literaturhistorisches Faktum aufschlußreich sein, hilft dem Leser jedoch kaum beim Einstieg.
Wichtiger ist da schon die Erwähnung Dresdens im kurzen Titel, mit der sich für viele Nachlebende des Zweiten Weltkrieges Assoziationen an eine der großen Katastrophen des 20. Jahrhunderts einstellen. Wer noch zögert, diesen Assoziationen nachzugehen – und mit zunehmendem Abstand zu jenem 13. Februar 1945, als mit Dresden eine der schönsten Städte Europas in Schutt und Asche gebombt wurde, schwächt sich dieser Impuls ab –, der wird schon in den ersten Zeilen intensiv mit den Trümmern dieser Katastrophe konfrontiert. Nachdem die Eingangsworte „Seltsamer Hang!“ auf eine Irritation vorbereiten, bringt der Autor Beobachtungen, die angesichts des geschichtlichen Vorwissens verblüffen und Interesse wecken. Er spricht von der Zerstörung, jedoch fast begütigend, als sei sie von der Natur zurückgenommen worden. Daß damit allerdings unsicheres Terrain betreten wird, läßt der glatte, allzu glatte Reim erkennen:
die Häuser stehn, als sei
Hier nichts geschehn
Ein ominöser Auftakt.
Während sich der Leser bei einem kurzen, d.h. von vornherein überschaubaren Gedicht, auch wenn die Sprache kompliziert ist, leichter am Gesamtplan orientieren kann, ist er hier voll auf die Lenkung durch das lyrische Ich angewiesen. Angesichts der dichtgefügten, keineswegs leichtverständlichen Sprache muß er bald erkennen, daß Geschichte und Gegenwart hier literarisch reflektiert, nicht poetisch-stimmungshaft kurzgeschlossen werden. Schon in der 11./12. Zeile („Das also gibt es! / Sagen will ich:“) rückt der Sprechende die Dialektik von Allgemeinem und Individuellem in den Vordergrund. Er signalisiert, wieviel Bedeutung dem Wechsel der Perspektive zukommt. In der Tat lebt das Gedicht von solchen Momenten kritischer Vergewisserung. Seine Vorwärtsbewegung, die sehr bald an Kraft zunimmt, gewinnt mit ihnen eine eigentümliche argumentative Spannung, ja Dramatik. Mickel spricht selbst von „dramaturgischer Großstruktur“ in der Lyrik.
Ausgangspunkt bildet der Blick über Hausruinen, die von Dresdens Brand übriggeblieben sind. Die Spuren von Verwitterung und Überwucherung haben sich inzwischen so malerisch eingegraben, daß es scheint, als ob die Natur und nicht jener Brand diese Ruinen hervorgebracht habe. Nur der Hagel habe die Fenster eingeschlagen, nur das Wuchern wilder Kirschen sei für den Verfall verantwortlich. Nicht die Brandnacht habe den bewohnbaren Raum auf ein Zimmer verkleinert, sondern die bewußte Entscheidung der Bewohner gegenüber der Natur. Hier wäre, wie der Sprechende seiner Freundin klarmacht, ein Platz für ihn, der Ruhe wegen, die er braucht. Mit dem Bedürfnis nach Ruhe, das er im ersten Teil des Gedichts als zentrales Motiv entfaltet, schlägt er den Bogen zur Gesellschaft, zu den beengten Lebensformen der Gegenwart.
Allerdings beläßt es der Sprechende nicht beim Skizzieren eines trügerischen Idylls. Als mißtraute er der historischen Assoziationskraft, fügt er einen Exkurs über die ehemaligen Bewohner dieser Dresdner Häuser am Elbhang ein, einen sehr harschen Exkurs über deren Verflechtung mit der nationalsozialistischen Mordmaschinerie. „Was wissen wir von den Häusern, die wir bewohnen oder denen wir gegenüberstehen?“ fragt Mickel in einem Interview.
Es tut aber not, zu wissen, was da spukt – denn es spukt ja, ob wir wollen oder nicht.
Spukhaft erscheinen die von ihm genannten Kommerzienräte, „mordgeil vor Alter“; die zahnarmen Nutten und die „Buckelköpfe“ (20f.), die in sicheren Bunkern saßen und sich vor der grausamen Brandnacht nach Westen absetzten. Es sind Typen wie aus George Grosz’ oder Otto Dix’ Skizzenmappe, grotesk verzerrt und klischiert. Dabei wird dick aufgetragen, auch darin, daß von hier aus „Des Todes Fließband“ (19) in Gang gesetzt worden sei. Womit der Autor, dem es um die Verurteilung des Bürgertums insgesamt, also auch in Dresden, geht, jede Differenzierung vom Tisch kehrt: etwa daß Dresden, eben weil es Pensionärsstadt und nicht politische oder ökonomische Kommandozentrale war, so lange von Bomben verschont wurde.
Schon hier läßt sich die generelle Ausrichtung des Gedichts über den ,Fall‘ Dresden hinaus erkennen. Danach ist von Dresden nur indirekt die Rede. Es wirkt mit seinen auch im Verfall noch beeindruckenden Häusern – „Die schöngeschnittnen Räume!“ (5) – wie eine Kontrastfolie, vor der der graue und ermüdende Alltag des Neuaufbaus nach 1945 betrachtet wird. Da tritt auch das Klischee zurück, und die Phrase „Und neues Leben blüht aus den Ruinen“, die in der Aufbaueuphorie ihren Platz hatte, wird spöttisch zurechtgerückt:
Das Neue Leben blüht nicht aus Ruinen
Da blüht Unkraut (25f.).
Real ist die Häßlichkeit und Enge der Neubauten. Nur weil sie der Wohnungsnot abhelfen und dem Bedürfnis nach Abgeschlossenheit, Ruhe nachkommen, sind sie gerechtfertigt. Selbst das aber stellt der Sprechende in einem neuen Einschub kritischer Vergewisserung in Frage. Sein Maßstab ist Ruhe als Ermöglichung individueller Entfaltung. Es deutet sich an, daß er als Schriftsteller spricht, als einer, der Ruhe und Abgeschlossenheit besonders braucht. Mit ironischem Schlenker – er trennt „empf- / Inden“ auf zwei Zeilen – konstatiert er, daß in der Liebesumarmung, wenn der Herzschlag zweier Leiber gleich ist, „was wie Ruhe“ empfunden werden kann (38–41). Ruhe als Intervall also schnell vorübergehend. Das erscheint im Hinblick auf den Lärm, der konstant durch die dünnen Wände aus der Nachbarwohnung dringt, noch fragiler, noch quälender. Konsequenterweise spitzt sich die Definition „Das ist die Ruhe“ (52) ganz auf den Intervallcharakter zu, darauf, daß Ruhe die „Zeit zwischen Blitz und Donner“ (53) darstellt also aus dem Lärm und der Erwartung von Lärm herausgeschnitten werden muß. Die abschließenden Zeilen: „Unrast hat Löcher / Pflicht geht nicht durch, eh Muße Pflicht wird“ (53f.), lassen keinen Zweifel daran, daß es sich dabei nicht nur um ein privates Problem handelt. In dieser Aufbaugesellschaft voller Unrast und Pflichten kommt Ruhe erst dann zustande, wenn Muße zur Pflicht wird. Gewiß war die DDR-Gesellschaft der Nachkriegszeit alles andere als eine Freizeitgesellschaft. Im Mangel an Ruhe, die mehr als nur ein Intervall der Stille bedeutet, gelangt all die Unrast, Unbequemlichkeit und Mühsal zum Ausdruck, die den Aufbau des Landes begleitete.
Das Thema von der Mühseligkeit des Aufbaus ist damit voll etabliert. Im zweiten Teil des Gedichts entwickelt es sich dann nicht mehr vom Motiv der fehlenden Ruhe, sondern von einem langen wörtlichen Bericht der Nachbarin her, die von der Zerstörung ihrer Ehe durch ein Übermaß an Pflicht und Arbeit spricht. Zuvor findet die immer prekäre Winterversorgungslage der DDR mit Braunkohle Erwähnung. Das Folgende beginnt als Erzählung der Frau, für die der Ehemann keine Zeit hat, da er sich als Fernstudent beruflich höherzuqualifizieren sucht, und mündet in eine generelle Klage über den Verlust an Leben, Gefühl, Liebe. Die Klage wird von der Frau als Aussage ihres Liebhabers zitiert, der ablehnt, sich zu Tode zu schuften, wie es ihr Mann tut. Er hat sie in den Pausen der gemeinsamen Landarbeit zu sich herübergezogen, hat ihr die Augen dafür geöffnet, wie all die Orientierung an der schöneren Zukunft eine tötende, tödliche Seite besitzt. Nicht nur die Mühseligkeit des Aufbaus tritt ins Bild, sondern der „Januskopf des Zeit-Genossen Zukunft“ (84f.), d.h. die andere Seite des öffentlichen Zukunftsoptimismus: der Tod als versäumtes Leben. So quälend ist die Vision dieser Entleerung und Erstarrung, daß sich das Gefühl der Erstickung einstellt.
Das sagte er, sie mir, ich dir (97).
Mit dieser einfachen Raffung der drei Gesprächskonstellationen – der Liebhaber zur Frau, die Frau zum Sprechenden, der Sprechende zur Freundin – intensiviert Mickel die Tragweite des Gesagten. Was als Einzelerfahrung formuliert wird, gewinnt in dieser mehrmaligen Brechung allgemeinere Gültigkeit. Das wird im Bild von dem Körper gesteigert, der sich wie an Stricken bewegt, wobei seine Bewegung vom Lufthauch im Baum stammt, in dem die Stricke eingeknotet sind. Ein zentrales Bild, das die poetische Vergegenwärtigung von Einengung, Abhängigkeit, Außensteuerung im Marionettensymbol zusammenfaßt. Auch in anderen Gedichten stellt Mickel dieses Marionettensein heraus, etwa in „Deutsche Puppenbühne“ und „Neubauviertel“. Immer geht es um die Gefahr, daß das Individuum in dieser geordneten, gebauten, gekästelten Gegenwart verkümmert. Nicht zufällig folgt auf diese traumatische Vergegenwärtigung der entscheidende Umschlag des Gedichts mit den Worten:
Wo bin ich? wer?
Bei seiner aufschlußreichen, ebenfalls im Band Vita nova mea abgedruckten Interpretation von Schillers Ballade „Die Bürgschaft“ weist Mickel darauf hin, wie Schiller überm Allgemeinen das Individuum nicht übersieht und dessen Bedrängnis artikuliert. Die Frage Hölderlins „Wohin denn ich?“ mache Schiller in der gemilderten Fassung „Wo bin ich?“ zum entscheidenden Drehpunkt des Gedichts. In „Dresdner Häuser“ leitet die Frage „Wo bin ich? wer?“ den letzten Teil ein, wobei sofort deutlich wird, daß sie den Status des Sprechenden als Dichter zum Inhalt hat. In wörtlicher Rede kommt zunächst der Ehemann der Frau, der sich als Fernstudent abplagt, zu Wort, und es geschieht nicht ohne Ironie, daß ausgerechnet derjenige, der vor Arbeit und Weiterqualifizierung menschlich verkümmert, die alte Forderung „Des Dichters Lied sei heiter!“ auf diese Gegenwart angewandt wissen will. Er wird zum Sprecher der in der DDR offiziell immer wieder vertretenen Auffassung, daß die Literatur den Aufbau bereits vorausnehmen und dort, wo noch nichts ist, etwas poetisch hinstellen solle. Fast unmerklich leitet diese auf den sozialistischen Realismus zielende Ermahnung zu einem Preis der Arbeit über, der mit seinen idealen Zügen fast etwas Rührendes hat. Dieser Ansturm an Optimismus wirkt keineswegs völlig phrasenhaft, dennoch ist seine Kontrastfunktion für die von Mickel im Schlußteil poetisch-bildhaft formulierte Definition des Dichters unverkennbar. Schon die exaltierte Sprache schafft Kontrast. War eingangs von den alten und neuen Dresdner Häusern die Rede, von ihren fragwürdigen Möglichkeiten, Ruhe zu gewähren, so projiziert der Sprechende nun das Bild vom Haus auf sich und gewinnt damit für die Definition seiner selbst als Dichter eine überaus eindrucksvolle Metapher. Es geht darum, den Bedürfnissen, Ängsten und Triumphen der Menschen, die in solchen Häusern wohnen, zum „Haus“ zu werden, und das will er als Dichter. Statt heiterer Verklärung der schlechten Wirklichkeit will er dem, was die Menschen wirklich bewegt, zum Ausdruck verhelfen, will als Katalysator intensivieren, kritisieren, helfen. Hier enthemmt sich seine Metaphorik geradezu. Assoziationen an expressionistische Gedichte, etwa an Georg Heyms „Der Gott der Stadt“, stellen sich ein. Der Evokationskraft der Sprache ist mit Wendungen wie „Frost Glut Sturm“, „In mir ein Herz wird schlagen wie der Donner“, „Mit euren Gluten heize ich die Stadt“ freie Bahn geschaffen, und wenn es schließlich mit gleichem rhetorischen Elan heißt: „Wer in mich eindringt, bricht sich das Genick / Bevor er euch behelligt, auf der Treppe“, so kann kein Zweifel aufkommen, daß er als Dichter alles abwenden wird, was sein Wirken für „euch“, die Allgemeinheit, beeinträchtigt. Daß Mickel das Gedicht nicht mit einem gewaltigen Schlußakkord, sondern dem rührend-leisen Bild „Die Kindlein über meinen Dachfirst wandeln / Schwerelos, denn das ist meine Höhe“ ausklingen läßt, bezeugt seinen Sinn für die poetische Nuance, mag schließlich auch ein kleines ironisches Fragezeichen setzen. Spätestens hier wird die Deutung problematisch. Sind die Kindlein Attribute des träumenden Poeten? Mickel bricht in der späteren Fassung von 1976 die Schlußzeile beim Wort „schwerelos“ ab und läßt „denn das ist meine Höhe“ aus. Das dürfte darauf hindeuten, daß es ihm mehr um die poetische Assoziation als um eine definitorische Abrundung geht. Auch in anderen Gedichten läßt Mickel das Ende offen; einfache Lösungen liegen ihm nicht.
Ein überraschender Schluß? Überblickt man von ihm aus erneut das Gedicht, zeigt sich die innere Konsequenz der Argumentation. Was als eine Epistel über Dresden beginnt (wo Mickel 1935 geboren wurde), geht in eine kritische Vergegenwärtigung des Nachkriegsaufbaus in der DDR über. Schließlich löst die erfahrungsgesättigte, von mehreren Stimmen getragene Manifestation dieser Thematik die Selbstbesinnung des Sprechenden aus. Er definiert sich als Dichter im Zusammenhang mit den aufgewiesenen realen Problemen, nicht den offiziellen Wunschvorstellungen dieser Gesellschaft. Die Kohärenz des Ganzen wird sichtbar: was der Dichter im Schlußabsatz als seine Aufgabe bestimmt, praktiziert er in diesem Poem. Er bringt nicht die schönfärberischen Darstellungen des sozialistischen Realismus, keine glatte Agitations- oder Selbstverklärungslyrik, wie sie in der DDR-Literatur lange Zeit dominierte. Vielmehr rührt er an die Tabus der Aufbauwirklichkeit, scheut die Behandlung der verpönten Themen Tod und Entfremdung nicht.
An dieser Stelle erhebt sich die Frage, inwiefern dieser Lyriker damit die offiziell gezogenen Grenzen der Kritik übertrat und entsprechend selbst kritisiert wurde. Denn was der zu dieser Zeit regierende Parteichef Walter Ulbricht von der Literatur verlangte, wies nach wie vor in die Richtung öffentlicher Affirmation, speziell nach dem harschen Verdikt des 11. Plenums des ZK der SED 1965. Mickel gehörte mit Volker Braun, Rainer und Sarah Kirsch, Bernd Jentzsch, Reiner Kunze, Heinz Czechowski zu einer Reihe junger Lyriker, die sich Mitte der sechziger Jahre bewußt als eine neue Generation artikulierte, den literarischen Klischees über diesen sozialistischen Staat zu Leibe rückte und ihr Bekenntnis zu ihm im kritischen Umgang entwickelte. Es war Mickels Gedicht „Der See“, das 1966 in der Studentenzeitschrift Forum eine Auseinandersetzung auslöste, die zu den wichtigen Stationen der Lyrik-Entwicklung in der DDR gehört. Hans Koch ging dabei mit den kritischen Gedichten der Jüngeren scharf ins Gericht. Er sprach von „Mickels Häßlichkeitsorgien“ und resümierte:
Es bedarf kaum einer Erklärung, wie sehr all diese schwer- und kaumverständlichen Gedichte ein ,Zeitgefühl‘ großer Bedrückung und Bedrohung menschlicher Existenz signalisieren.
Zwei der zentralen Streitpunkte der Lyrik-Debatte wurden damit zusammengebunden: die nichtoptimistischen Inhalte und die schwerverständlichen Formen. In beidem sahen andere Diskussionsteilnehmer entscheidende Wegmarken für eine unklischierte Annäherung an die aktuelle Wirklichkeit. In der Tat gewannen die Lyriker mit diesen Elementen Einblicke und Aussagen, die über die bloße Bestandsaufnahme einer historischen Aufbausituation weit hinausreichen.
Daß Mickels Gedichte den Vorwurf der Schwerverständlichkeit besonders anzogen, überrascht nicht. Sie setzen eine intensive Beschäftigung des Lesers voraus, der zudem in antiker Mythologie und dem, was man als Bildungsgut bezeichnen kann, bewandert sein muß. „Dresdner Häuser“ hält dabei eine gewisse Distanz zu den kruden Alltagsdetails ebenso wie zu den Mythoselementen, zwischen denen seine knappe, aphoristisch zugespitzte Sprache pendelt. Dafür rückt eine kunstvolle – ohne Brecht nicht zu denkende – gestische Rollensprache ins Zentrum, ein ins Dramatische weisender Sprachduktus, mit dem individuelle Haltungen in ihrer gesellschaftlichen Bedingtheit plastisch werden. Der Sprechende ist nicht nur das lyrische Ich, das die gedankliche und ästhetische Einheit verbürgt, sondern eine Figur, in der sich Geschichte verbürgt und die gerade in dieser Determinierung auch in anderen Zeiten beispielgebend sein kann. Die Subjektivität, die Kritiker wie Koch angriffen, ist nicht die der hermetischen Lyrik eines Trakl oder Celan. Wenn Mickel für den Titel seines Gedichtbandes zu Dantes Vita nova das Wort mea hinzufügte, so entspricht das der Intention, das neue Leben eindeutig unterm Aspekt dichterischen Bekenntnisses zu sehen.
Allerdings: ob sich damit die Bedenken gegen die Form des langen Gedichts erledigen, bleibt fraglich. Mickel, der 1966 in der mit Adolf Endler herausgegebenen Lyrik-Anthologie In diesem besseren Land für das lange Gedicht plädierte, vermag die Konzentration und Abstraktion lehrhaften Diskurses nicht immer durch Realität zu balancieren. Der gehobene Tonfall, der bei seinen Lehrmeistern Georg Maurer und Johannes R. Becher nicht selten zum feierlichen Gerede verkommt, stellt in unserer Zeit ein prekäres Kommunikationsmittel dar.
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Frank Trommler, aus Walter Hinck (Hrsg.): Gedichte und Interpretationen. Band 6 Gegenwart, Philipp Reclam jun. Stuttgart, 1982
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