7.5.2000
Vergiß nicht, meine Liebe, Stille!
Stille! Und nochmals Stille!
Und (wir erhoben uns von den Sitzen)
Und, ich sag es noch einmal:
Peter Hille! Hille! Und nochmals Hille!
(so standen wir, wenigstens 3 Minuten)
Und nun, Bedienung, noch mal
Die Schnapsgläser fluten.
In stummem Erbeben,
zu den noch feuchten Lippen
laß uns die Gläser erheben:
Es lebe das Chaos!
Die Anarchie!
Und es lebe die Stille!
Die Gedankenquadrille!
(Schweigend dann Ex!)
Für Peter Hille.
Wie sind wir gegangen. Und aus welcher in welche Erfahrung. Die Erfahrung mit Städten. Alle sind Dörfer. Nein, nicht die Städte, aber die Erfahrungen. Und in den Gedichten von Frank-Wolf Matthies dreht es sich radikal nicht um die alte Antwort: … Huhn oder Ei. Die Frage ist: Wenn nun aber vor dem Wort Mensch das Wort Friedhof war; was dann? Die Angst ist vorbei, verflogen, dahin, und ist nur schlimmer geworden: Die Angst der Vergangenheit, die der Vergangenen. Wir schlagen alte Adreßbücher auf und entdecken von einer Begegnung einen übermäßigen Rest fremder Schrift. Jemand hat sich uns eingetragen: Da draußn is Frühling, nur, wie gelang ich vorm Winter dahin. Dies ist einer der Sätze, in denen das, was zu sagen ist, seine erinnernde Form gefunden hat. Denn so selbstverständlich wie die Worte scheinbar von den Sätzen aufgerufen sind, Verse zu bilden, erscheinen sie vor jenem Spiegel, der an ihrer Herkunft zerbrechen würde; wie ein Gedicht zersplittert ohne jene Zeit, die man vielleicht die immer andere Hälfte des Lebens nennen könnte.
S. Anderson, Druckhaus Galrev, Ankündigung, 1993
schmissig wie zögerlich, rauh und nicht minder sanft, o.k! Trotzdem, was bedeutet solche Akkumulation unterschiedlichster Gedichte – und einige von ihnen gehören zu den beachtlichsten der letzten Jahre –, was soll es uns sagen, soll es uns vielleicht sogar verhöhnen, wenn einer an einem einzigen Tag, nämlich am 10. April 2000 nicht weniger als 7 Gedichte entstehen läßt (und es nicht verbirgt, sondern mittels Datierung hervorhebt), an einem anderen 4, an einem weiteren „nur“ 3; etc.? Mit einem (etwas langen) Satz: Wie all die tollen Bücher und Büchlein von Frank-Wolf Matthies stellt auch dieses für den Leser wie für den Kritiker eine ganz schön gepfefferte Herausforderung (bzw. Zurückweisung) dar wenn auch auf die ziemlich singuläre Weise dieses Mannes, die freilich trotz des besten Willens unseres Autors nicht verhindern kann, daß wir hier eine nicht kleine Zahl von Texten finden, denen wir von Zeit zu Zeit wiederbegnen möchten, zum Beispiel dem langen Gedicht „Wildau im September“, dem vermutlich bisher trefflichsten, poetischsten Werk zum Thema „Nachwende-Osten“, daß indessen auch unter den 7 Gedichten verschiedener Gewichtigkeit vom 10. April 2000 kein einziges sich finden dürfte, dessen der Autor sich schämen müßte! Und überhaupt: Dieser wüste Vater-und Mutter-Ubu-Spezialist in den märkischen Forsten, im wunderbar „besungenen“ Friedrichthal hinter Oranienburg, die Welt und den „Zeitgeist“ bespuckend; lobend aber die arme Pfütze vorm Häuschen… usw.; nein, ich will es auf eine Reihung von Formeln nicht ankommen lassen, keine träfe ganz. Auch als späten „Beatnik“ (Gerrit-Jan Berendse) würde ich ihn nur im äußersten Notfall bezeichnen. (Was diesen Punkt betrifft, käme eventuell als eines der Beweismittel das „Gelegenheitsgedicht auf eine alte Jacke“ in Betracht.) Nein, ich habe nicht die Absicht, hin und her irrend endlich die einleuchtende Formel zu finden, die die Leistung von Frank-Wolf Matthies faßt (erfaßt). Vielleicht darf man aber dennoch so zusammenfassend wie vage sagen: Es ist die konvulsivische Widerborstigkeit der matthiesschen Existenz schlechthin (inclusive seines vielfältigen Werkes, das sich jeder geschmeidigen Plakette widersetzt. Wer trotzdem solche Plakette bosseln könnte, würde mit Sicherheit alsbald einen Strich durch seine glatte Rechnung gemacht bekommen – und so geht es in dem vorliegenden Band von Phase zu Phase, oft von Gedicht zu Gedicht – und zwar unter Umständen so rabiat, daß mancher eher geneigt sein wird, die Beziehungen zu dem Herrn und seinem Werk abzubrechen. Anders ausgedrückt: Vor allem den besseren Sammlern ist zu empfehlen, alles zusammenzusammeln, was unter dem Namen Frank-Wolf Matthies publiziert oder nicht publiziert worden ist; vorher sollte man sich eine nicht zu winzige Schatztruhe kaufen.
Adolf Endler, Druckhaus Galrev, Programmheft, 23.8.2001
Wenn die Journalisten
noch eine Weile hier in der Gegend bleiben,
verkündet der Landesfürst von Bakschischestan,
der Blick träumerisch Richtung Hindukusch,
brauchen wir die nächsten Jahre keine Baumwolle anbauen.
Es findet sich in dem neuen Gedichtband Von der Erotik des Zeiten vernichten, den der bekannte lyrische Spezialist für gepflegtes Hohngelächter Adolf Endler mit Vorwort einleitet. Er gerät ins Schwärmen und erkennt sich wohl selbst, wenn er die Gedichte von Matthies in Kontraste aufsplittert und bündelt. Sie seien „grölend wie lispelnd, rasant wie bedächtig, schmissig wie zögerlich, rauh und nicht minder sanft.“
Wer ist der 1952 geborene Frank-Wolf Matthies? 1976 präsentierte Franz Fühmann in der Zeitschrift Sinn und Form die neuen Talente Uwe Kolbe und Matthies nachdrücklich. 1979/ 80 veröffentlichte der Rowohlt Verlag zwei Bücher des zornigen jungen Mannes aus Ostberlin. Er schrieb sich in der Nachfolge von Rolf Dieter Brinkmann in die Literatur hinein. Die DDR laufe aus wie ein rostiger Eimer, bald sitze er da mit Honecker allein. In seiner Wohnung fanden Lesungen statt. Matthies war einer der frühen Konstrukteure jener Prenzlauer-Berg-Connection, die später allerdings ohne ihn in die West-Medien hineinwuchs.
Im November 1980 diskutierten Günter Grass und Johanno Strasser in seiner überfüllten Wohnung, wie man in der DDR polnische Verhältnisse herstellen und den Realsozialismus destabilisieren könnte. Der Wohnungsinhaber wurde verhaftet und 1981 nach Westberlin entlassen. Er stritt noch mit Grass in einer Zeitschrift über die deutsche Kulturnation und verschwand langsam aus der Öffentlichkeit. Zuerst aus der politischen, dann aus der literarischen, in der freilich seine Prosa in kleinen Verlagen vorliegt. Sie verstrickte sich oft in ihren Anspielungen und den vom Autor liebevoll gepflegten Aversionen. Selbst auf Eingeweihte wirkte das kaum verständlich, vielleicht machte es Matthies auch nur Spaß, bei zufälligen Lesern Ratlosigkeit auszulösen.
Sein neuer Gedicht-Band Von der Erotik des Zeiten vernichten könnte eine Wiederentdeckung sein. Alte Figuren aus seinem Werk (Vater Ubu von Alfred Jarry) tauchen wieder auf, mit neuen Freunden wird über die Welt gehadert und gespottet. Der alternde Rebell zieht poetische Energien aus seiner Vereinzelung. Er steht sich oft selbst im Wege und betrachtet sich dann staunend. Die Unterschiede beim poetischen Herangehen von Matthies sind beträchtlich. Er kommt uns nicht nur in seinen Liebesgedichten zärtlich bis zotig daher. Immer wieder spaziert seine Frau P. durch die Zeilen, aller Zynismus schwindet, wenn er ansetzt:
Eines Vormittags aber ging sie
Hinaus, direkt in die Märchen
Kein Blick, kein Hauch, kaum ein Duft
Füllte die Leere, einzig die
Sehnsucht summt manchmal seither.
In anderen Texten geht es körperlicher zu. Da gerät sogar das Datengerät der kessen Postfrau in seinem Lederfuteral zum Objekt der Begierde. (Manchmal verliert Matthies die Kontrolle beim Spiel mit den Klischees, Hilflosigkeit zeigt sich reimhaft pur und „endlich Ruh“ gesellt sich zu „ab und zu“. Häufiger sind zum Glück präzise Wortbilder aus seiner Brandenburger Provinz, das mehrseitige Poem „Wildau im September“ gehört zum lyrisch Besten über östliche Befindlichkeiten im neu vereinigten Deutschland.) Der Ruhm an sich und der Ruhm anderer wird immer wieder zu einem Thema. „Manche Leute haben wirklich keinen Ehrgeiz“ setzt ein Gedicht an. Zu Neugier und Sprachvermögen gesellt sich bei Matthies zunehmend Selbstironie. Er dichtet sich in ver-schiedene lyrische Rollen, um sich mehr Geselligkeit zu verschaffen. (In den prosaischen Anmerkungen zur Lyrik findet sich folgendes Selbstporträt: „Was ich im Leben bin, läßt sich schnell sagen: ein Einsiedler zu sechst – mit meiner Frau, unserem Hund, der Katze und zwei Kaninchen… Ich habe zwei, drei Freunde, denen ich viel verdanke, doch die ich beinahe nie sehe.“)
Wird bei ihm auch etwas vom Verschwinden einer ganz speziellen Ost-Generation spürbar? Solchen ins Allgemeine zielenden Erwägungen muß sich keiner hingeben, der seine Zeit mit dem Lesen dieser Gedichte vernichten will. Einige stehen nur für sich, fast vollendet und kostbar:
Einzig
Nur das Geheimnis
Bietet den Raum
Für Deine Welt
Neben der meinen.
Einzig Dir nur
Öffnen sich
Meine Träume.
Einzig mein Rätsel
Wartet auf Antwort
Jeden Moment
Lutz Rathenow, Deutschlandfunk, 17.9.2002
Ein Zitat aus einer Zeitung nach dem 11. September 2001 hat Frank-Wolf Matthies in einen Text hinein collagiert:
Wenn die Journalisten
noch eine Weile hier in der Gegend bleiben,
verkündet der Landesfürst von Bakschischestan,
der Blick träumerisch Richtung Hindukusch,
brauchen wir die nächsten Jahre keine Baumwolle anbauen.
Es findet sich in dem neuen Gedichtband Von der Erotik des Zeiten vernichten, den der bekannte lyrische Spezialist für gepflegtes Hohngelächter Adolf Endler mit Vorwort einleitet. Er gerät ins Schwärmen und erkennt sich wohl selbst, wenn er die Gedichte von Matthies in Kontraste aufsplittet und bündelt. Sie seien „grölend wie lispelnd, rasant wie bedächtig, schmissig wie zögerlich, rauh und nicht minder sanft.“
Wer ist der 1952 geborene Frank-Wolf Matthies? 1976 präsentierte Franz Fühmann in der Zeitschrift Sinn und Form die neuen Talente Uwe Kolbe und Matthies nachdrücklich. 1979/80 veröffentlichte der Rowohlt Verlag zwei Bücher des zornigen jungen Mannes aus Ostberlin. Er schrieb sich in der Nachfolge von Rolf Dieter Brinkmann in die Literatur hinein. Die DDR laufe aus wie ein rostiger Eimer, bald sitze er da mit Honecker allein. In seiner Wohnung fanden Lesungen statt. Matthies war einer der frühen Konstrukteure jener Prenzlauer-Berg-Connection, die später allerdings ohne ihn in die West-Medien hineinwuchs. Im November 1980 diskutierten Günter Grass und Johanno Strasser in der überfüllten Wohnung, wie man in der DDR polnische Verhältnisse herstellen und den Realsozialismus destabilisieren könnte. Der Wohnungsinhaber wurde verhaftet und 1981 nach Westberlin entlassen. Er stritt noch mit Grass in einer Zeitschrift über die deutsche Kulturnation und verschwand langsam aus der Öffentlichkeit. Zuerst aus der politischen, dann aus der literarischen, in der freilich seine Prosa in kleinen Verlagen vorliegt. Sie verstrickte sich oft in ihren Anspielungen und den vom Autor liebevoll gepflegten Aversionen. Selbst auf Eingeweihte wirkte das kaum verständlich, vielleicht machte es Matthies auch nur Spaß, bei zufälligen Lesern Ratlosigkeit auszulösen.
Sein neuer Gedicht-Band Von der Erotik des Zeiten vernichten könnte eine Wiederentdeckung sein. Alte Figuren aus seinem Werk (Vater Ubu von Alfred Jarry) tauchen wieder auf, mit neuen Freunden wird über die Welt gehadert und gespottet. Der alternde Rebell zieht poetische Energien aus seiner Vereinzelung. Er steht sich oft selbst im Wege und betrachtet sich dann staunend. Die Unterschiede beim poetischen Herangehen von Matthies sind beträchtlich. Er kommt uns nicht nur in seinen Liebesgedichten zärtlich bis zotig daher. (Immer wieder spaziert seine Frau P. durch die Zeilen, aller Zynismus schwindet, wenn er ansetzt:
Eines Vormittags aber ging sie
Hinaus, direkt in die Märchen
Kein Blick, kein Hauch, kaum ein Duft
Füllte die Leere, einzig die
Sehnsucht summt manchmal seither.
In anderen Texten geht es körperlicher zu. Da gerät sogar das Datengerät der kessen Postfrau in seinem Lederfuteral zum Objekt der Begierde. Manchmal verliert Matthies die Kontrolle beim Spiel mit den Klischees, Hilflosigkeit zeigt sich reimhaft pur und „endlich Ruh“ gesellt sich zu „ab und zu“. Häufiger sind zum Glück präzise Wortbilder aus seiner Brandenburger Provinz, das mehrseitige Poem „Wildau im September“ gehört zum lyrisch Besten über östliche Befindlichkeiten im neu vereinigten Deutschland.) Der Ruhm an sich und der Ruhm anderer werden immer wieder zu einem Thema. „Manche Leute haben wirklich keinen Ehrgeiz“ setzt ein Gedicht an. Zu Neugier und Sprachvermögen gesellt sich bei Matthies zunehmend Selbstironie. Er dichtet sich in verschiedene lyrische Rollen, um seiner Person Geselligkeit zu verschaffen. (In den prosaischen Anmerkungen zur Lyrik findet sich folgendes Selbstporträt: „Was ich im Leben bin, läßt sich schnell sagen: ein Einsiedler zu sechst – mit meiner Frau, unserem Hund, der Katze und zwei Kaninchen […] Ich habe zwei, drei Freunde, denen ich viel verdanke, doch die ich beinahe nie sehe.“) Wird bei ihm auch etwas vom Verschwinden einer ganz speziellen Ost-Generation spürbar? Solchen ins Allgemeine zielenden Erwägungen muß sich keiner hingeben, der seine Zeit mit dem Lesen dieser Gedichte vernichten will. Einige stehen nur für sich, fast vollendet und kostbar:
EINZIG
Nur das Geheimnis
Bietet den Raum
Für Deine Welt
Neben der meinen.
Einzig Dir nur
Öffnen sich
Meine Träume.
Einzig mein Rätsel
Wartet auf Antwort
Jeden Moment
Lutz Rathenow, Deutsche Bücher, Heft 1, 2004
Lutz Rathenow: Grölend wie lispelnd
Neues Deutschland, 23.10.2003
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