Franz Baermann Steiner: Eroberungen

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Franz Baermann Steiner: Eroberungen

Baermann Steiner-Eroberungen

DER STERBENDE

(3)

Wer da geht als ein sterbender, fühlt den gelinden
Duftlosen wind, der nicht samen trägt,
Nicht von der halde brach einer erschauernden,
aaaaalauschenden landschaft;
Wind ohne heimat und anfang,
Der durch die tage und nächte weht,
Nicht trägt geordnete klänge der glocken: Gestern –
aaaaamorgen.
Wer sich beut dem gelinden,
Findet kein linderes mehr auf erden.
In der geduldenden ortschaft mag er nicht rasten;
Was ist dem sterbenden jener sanfte bezirk, stille gesittung des blühns?
Seine augen sind längst der suche entwöhnt,
Die den sichern geschöpfen des wurfs und der sättigung ziemt:
„dieses neue, ists schön, wirds verwachsen?“
Wohl es verwächst, denn alles ist ungenau,
Von verschwimmender farbe,
Saubere schranken kennen wir nicht,
Das neue ist ungenau, eh es begann.

Schwarz sind die knospen der esche;
Verwobene schuld im leben die heimat auf der wir wachsen,
Der wir entwachsen, einer der möglichen heimaten,
Der beginn des genauen, den nimmer fortspinnt die zeit.
Und entwuchsen wir ihr, so kommen die tage und nächte,
Die stunden kommen,
Will jede an der heimat ihr teil.
Gewähr ihnen, teil ihnen mit:
Und du fährst, wie alle lebendigen fahren,
Denn in der zeit zu leben, auch von der heimat entfernt.
Unabsehbar entfernt vom anfang der tage,
Ist der geschöpfe stille, schreckliche kunst;
O unbezweifeltes können der träger jeglichen hierseins,
Trost, trost?
Und sie werfen aus jenem ungenau fernen bereich,
Aus entferntem bericht, aus dem vorrat der vorzeit,
Handvoll um traumvoll hinein in die zeit ihres lebens:
Alles verwächst.

Der sterbende lebt in der hoffnung.
Folge der leiden
Und, die das leid immer anhebt: wandlungen: Sie zerstücken die hoffnung.

Es sagt wohl ein mensch: „einst war ich anders“ oder:
„seit damals bin ich ein andrer“ … wie verändern sie sich?
Ist es die zeit ihrer ängste, die sie bereiten,
Um vor dem endlichen tod endlich geändert zu sein?
Möglich wärs, daß im bette der pein
Stellung mit stellungen wechselt von morgen bis abend,
Kissen, an wangen gewöhnt, die schulter erhöhn soll
Und dann wieder halbfrei liegt auf dem lager,
Weißes, geringes grundstück,
Von dem gekrümmten menschen umgeben,
Als wär es sein kindlein oder sein schmerz;
Bis er am abend seufzt: „nun ruhe ich recht“ und starr wird.
Aber der hoffende kann kein einst-war-ich-anders sprechen,
Denn seine hoffnung blieb gleich,
Er ist noch der selbe, der so gehofft hat;
Es mag sich die liebe wandeln; die klage;
Es mag der verluste landschaft großartig werden und still;
Es mag die verführung kostbarer werden von jahr zu jahr;
Doch die hoffnung meidet die zeit. sie ist nicht ihr kinde.

Sein herz verschließt der sterbende
Der folge der leiden und dem gefüge der zeit.
Er lebt in der hoffnung, die vor der wandlung besteht.
So genau ist die hoffnung, brücke zwischen den heimaten.
Wer in der ortschaft der heimat landet,
Verliert, die nur ist, wenn sie trägt, die hoffnung:
Und alle heimat ist eins …

 

 

Nachwort

Vor bald zehn Jahren durfte ich im Nachwort für die Dritte Veröffentlichung dieser Reihe zum erstenmal über den Dichter Franz Baermann Steiner berichten. Damals, noch keine zwei Jahre nach seinem Tode, erzählte ich anläßlich der Herausgabe eines Nachlaßbandes mit 80 Gedichten, den ich Unruhe ohne Uhr nannte, kurz und schlicht über das Leben und Schaffen dieses Dichters. Auf einen allgemeinen biographischen Abriß will ich darum hier verzichten, zumal die wichtigsten Begebenheiten aus Steiners Leben in den Erläuterungen und Anmerkungen an passender Stelle eingerückt wurden. Hingegen möchte ich mit einer Würdigung der Eroberungen die Leistung etwas eingehender darstellen. Das scheint mir umso wichtiger, als 1954 mein Bemühen auf keinen empfänglichen Boden fiel, was ich wohl zum Teil meiner eigenen Ungeschicklichkeit zuzuschreiben habe. In Verkennung dessen, was die Geltung eines noch unbekannten Dichters, und gar eines verstorbenen Dichters, in der Öffentlichkeit durch das Wirken eines mächtigen Literaturbetriebes bestimmt, trug ich den Wertanspruch von Steiners Schaffen zu bescheiden vor und war unvorsichtig genug, Äußerungen strengster Selbstkritik, die der Dichter in Stunden des Zweifels an seinen Gedichten übte, nicht mit Stillschweigen zu übergehen und stattdessen rund herauszusagen, was uneingeschränkte Anerkennung verdient: die Dichte und Genauigkeit einer spröden und gerade darum sehr zarten und behutsamen Lyrik, die Strenge des Ausdrucks und des Rhythmus, die Sicherheit in der knappen Aussage von einer Fülle scharf beobachteter Einzelheiten bei getreuester Wiedergabe der zum Schaffen anfeuernden Vision. Ungünstig wirkte sich damals auch aus, daß ich den Gang der neuen und neuesten deutschen Lyrik, der allerdings vor zehn Jahren, gar von England aus, noch nicht hinreichend zu überschauen war, in seiner Entwicklung falsch einschätzte, von der ich annahm, sie würde der Rezeption von Steiners Kunst günstig sein: ich hielt seine Stunde für bald schon gekommen. Darum habe ich es verabsäumt, Steiners literaturgeschichtliche Bedeutung klar zu umreißen.
Wie dem auch sei: jedenfalls mißriet es mir 1954, die Kenner und Liebhaber deutscher Literatur von der Größe dieser Dichtung zu überzeugen, eine Diskussion von Steiners Werk anzuregen und Förderer dafür zu finden, ohne deren herzhaftes Eintreten nie und heute weniger denn je in Kunst und Dichtung eine neue Botschaft in der Welt gehört wird. Nun habe ich damals aber auch geschrieben: „…im Ernst seines dichterischen Strebens fühlte er sich den meisten zeitgenössischen Lyrikern überlegen, wie auch im Wissen und Gestalten des eigentlich Dichterischen.“ „Exemplarische Gedichte waren Steiners Ziel; dies als erreicht zu belegen, ist die wesentliche Aufgabe dieser ersten Auswahl.“ Doch was immer mein Nachwort auch enthalten oder verfehlt haben mag: im Bande standen doch viele beträchtliche Gedichte. Deswegen ist es unmöglich, daß der Mißerfolg von Unruhe ohne Uhr – denn Stillschweigen ist ärgerer Mißerfolg als alle Ablehnung – die Folge meines Versagens nur wäre; das Versagen muß auch bei jener Öffentlichkeit liegen, der dankenswerterweise die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung vernachlässigtes, verstecktes, verkanntes und verschollenes Literaturgut zur Prüfung und Aufnahme anbietet. Diese Öffentlichkeit, die wohl zur Einsicht neigt, daß es gewiß keinen Überfluß an großer eigenwüchsiger deutscher Lyrik in der Zeit zwischen der Generation Trakls, Heyms und Stadlers und den jüngsten, hauptsächlich erst nach 1950 aufgetretenen Dichtern – wenn auch zum Teil älteren Jahrganges – gibt, hat es sich weitgehend und durch ihre maßgebend wirkenden Sprecher vollständig entgehen lassen, sich mit Steiner, soweit meine Kenntnis reicht, zu beschäftigen und seinem Werk auch nur einigermaßen gerecht zu werden. Schon bald nach der Veröffentlichung von Unruhe ohne Uhr ist es um Steiner so gut wie stumm geworden. Kein einziger Kritiker von Rang und Namen hat die Gedichte besprochen, sehr wenige Zeitschriften haben von ihm durch einige Zeit, wahrhaftig nicht lange, noch einige gedruckte und ungedruckte Gedichte ihren Lesern gegönnt, keine einzige der seit Steiners Tod repräsentativen und den Markt beherrschenden Anthologien enthält auch nur einen einzigen Vers des größten Lyrikers deutscher Sprache während des fünften Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts, kein Essay über neue Dichtung beschäftigt sich mit ihm und keine Literaturgeschichte würdigt ihn eines Wortes.
In Unruhe ohne Uhr steht das kurze Gedicht „Beim Lesen der Anthologie De Profundis“:

Wann wiederfinden?
O, es hat überdauert,
Und geläutert stehn die wenigen, wo der abgrund gähnte,
Reiner, denn je zuvor, sind die stimmen der bewahrten.

Noch sind sie umsorgt, noch bäumt das verhängnis
Vielarmig und wuchtend wider den bestand;
Doch geschehn ist das zeugnis, auch in strengster finsternis
Siegen die schwachen und leuchtet der zarten mut.

Ich entsinne mich der Rührung Steiners über diese Anthologie, bei der er wenig auf den größeren oder geringeren dichterischen Wert der einzelnen Gedichte, sondern vor allem auf das Zeugnis sah, auf die Botschaft der Sanftmütigen inmitten des grellen mörderischen Geschreis. Es wäre zu wünschen, daß sich beim Bedenken dieser Votivtafel des Exulanten nun bald auch in Deutschland Menschen fänden, die für die Aufnahme Steiners in den wirkenden Bestand der deutschen Literatur sorgen. An ihm ist noch alles gutzumachen (keine Wiedergutmachung, nein, weIches Wort dieses „wieder“ allein, als ob schon je etwas gutgemacht worden wäre!), denn seltsam, dieser Prager Dichter, dieser am meisten im östlichen Geist denkende und am wenigsten europäisch empfindende Dichter – so europäisch trotz allem er war – hat während der Jahre der Schmach, als eine künstlerische Pflege deutscher Sprache sich vor dem Gebrüll in den heimlichsten Winkeln verbergen mußte, von England aus nicht bloß der Sprache selbst die Treue gehalten, er hat sie bewahrt, gehütet, erhoben und mit neuem Gehalt erfüllt und er hat sich in ihr vollendet, er hat auch alles Deutsche, das dieses Namens würdig war, in liebevoller Pflege gefördert, die Überlieferung ihres edelsten Gutes; Steiner ist in jenen Jahren ein Dichter der deutschen Tradition geworden, was immer er noch außerdem an jüdischem und anderem menschlichen Gut eingesammelt und entwickelt hat.
In dieser schwersten Zeit hat Steiner seine Eroberungen geschrieben, auch in ihrem fragmentarischen Zustand neben den Duineser Elegien die gewaltigste und geschlossenste zyklische Dichtung deutscher Sprache in diesem Jahrhundert. Mit diesem Werk, das wesentlich den Kriegsjahren 1940 bis 1943 angehört, hat Steiner nach vielversprechenden Anläufen auf verschiedenen literarischen Gebieten als Dichter zu sich selbst gefunden. Die Entwicklung läßt sich an der fortschreitenden Arbeit an diesem Zyklus zeigen. In der Kurzfassung von 1940/41 ist noch der Schüler Hölderlins und anderer Dichter zu spüren, freilich ein sehr fortgeschrittener Schüler, der Eigenes zu sagen hat. Das Innige und Sangbare, der Tonfall der Elegie, das noch nicht ganz verschlossene Herz ist in seinem Schlage unmittelbar zu spüren, im Duktus der Verse ist der Klang noch ungebrochen und tritt überwiegend einstimmig auf. Diese Eigenschaften treten allmählich, da sich Steiner vertieft und immer subtiler wird, in den Hintergrund. Je reifer die Persönlichkeit wird, desto mehr verschleiert sie sich. Was aber ursprünglich offenbar wirkte, verschwindet doch nie ganz, die Grundeigenschaften schwingen verdeckt und gedämpfter, der alte Stimmeinsatz wird vorsichtiger und verbirgt sich, während sich daneben ganz andere Stimmen erheben, eine mythische Polyphonie, die aber nicht verantwortungsarm in die Sphäre schwelgerischer Träume verflattert und phantastische Gestalten fragwürdiger Herkunft hervorzaubert, sondern durch universelle Kenntnisse und, wichtiger noch, von prüfender Selbsterforschung bestimmt ist. Viel wird herangeholt, was zunächst befremdlich oder doch erstaunlich wirkt und als Synkretismus zu deuten wäre, denn allerlei Fremdes rankt sich um den jüdischen Stamm. Genauer besehen, beschwichtigt sich dieser Einwand; was Steiner sammelt, wird trotz seiner Herkunft aus allen Landen einheitlich gefaßt und verschmilzt in einer weitaus holenden Synthese. Das vielgestaltige Gebilde von fast verwirrendem Wissen wird von einer Frömmigkeit gebunden, die einen Schöpfer verherrlicht. Den Grundakkord der Handlung – die Eroberungen sind und haben Handlung – gibt das Schicksal des wandernden Flüchtlings und des flüchtigen Wanderers, der in seiner persönlichen Lage die condition humaine, die allgemeine menschliche Lage erkennt. So sind die Eroberungen sowohl Selbstbiographie als auch ein legitimes Werk einer weitsehenden Betrachtung der Welt, sie sind in ihrem ausgreifenden Spannungsbereich wie in den gründlichen Verflechtungen ihrer zahlreichen Motive universal. Diese Dichtung, der man genau auf jeden Vers schauen darf und soll, ist weder ein abwegiges Experiment noch eine verbohrte Spielerei oder gar Narretei: sie gehört in den Bestand der großen Literatur unseres Zeitalters – die Eroberungen sind ein bleibendes Monument seines fragwürdigen Bestandes in fragloser Gestalt.
Merkwürdig, dieses mit dem Zweiten Weltkrieg vergangene Prag, aus dem der Verkünder solcher Botschaft stammt. In den letzten zwei Generationen vor seinem Versinken durch deutsche Schuld hat diese Stadt, das Gefolge nicht gerechnet, je zwei begnadete Dichter in deutscher Sprache hervorgebracht. Jeder kennt das ungleiche erste Paar: Rilke und Kafka, die ihrem Geburtsjahr nach durch acht Jahre getrennt sind. Jeder, dem Dichtung auch nur ein Begriff ist, hat deutsch oder übersetzt in vielen Sprachen etwas von ihnen gelesen. Das zweite Paar bleibt, hoffentlich nicht mehr für lange, erst zu entdecken: Hermann Grab (1903–1949, gestorben in New York) und, sechs Jahre jünger, unser Franz Baermann Steiner. Ebenso wenig wie Rilke und Kafka kannten die beiden einander, beide haben vermutlich nicht einmal eine Zeile vom anderen gelesen. Grab, der Erzähler, dessen erhaltenes Werk, wenn mir zutreffend berichtet worden ist, sich auf zwei dünne, doch sehr gewichtige Bändchen beschränkt (das ältere, Der Stadtpark, liegt heute nicht im Handel vor, das jüngere und viel reifere, Hochzeit in Brooklyn, sieben Erzählungen, ist 1957 im Wiener Bergland Verlag erschienen), läßt sich schon durch die äußere Verschiedenheit des Werkes schwer mit Steiner vergleichen und steht ihm trotzdem als Dichtung der Flucht und des Exils sowie in der Präzision und Knappheit des Ausdrucks nahe; fast ist dieser Hermann Grab in der letzten Kontraktion und Konzentration der Aussage bei klassischer Strenge der Komposition ein Anton von Webern der deutschen Prosa zu nennen. Daneben Steiner, der nun doch nicht nur wegen der Herkunft, nicht nur wegen einer bestimmten Problematik und wegen der Gemeinsamkeit der wundersamen Prager Sprachmelodie mit Grab zusammengesehen werden soll, sondern auch formal, in der Gedrungenheit des Stils und in dessen Tempo, wie eine Probe aus Grabs Erzählung „Die Advokatenkanzlei“ zeigen soll: „Die Abfahrt wurde sehr beschleunigt. Der Wagen fuhr mitten in die Bergeswelt hinein. Ein breites Tal stieg an, sie sahen Kuhherden und hölzerne Behausungen, der Wagen nahm die Steigung mit mäßiger Geschwindigkeit, die Sonne brannte. Sie waren jetzt auf der berühmten Glocknerstraße. An der Waldgrenze begann ein Wind zu blasen und setzte die große Fläche von Nadelsträuchern in Bewegung.“ Daneben stellen wir ein Landschaftsbild aus den Eroberungen (VIII, V. 47–53):

Auf seinen knarrenden karren
Fährt sie alle hinab der breite, sichere herbst.
Versammelt in schluchten des waldes, in rinnsal und felskluft;
Die blätter des jahres.
Noch sind manche in längliche haufen gestaut:
Ein wind war zu schwach, ein hügel schützte sie
Vor der endlichen ordnung.

Hier wie dort bei lebhafter Anschaulichkeit und Sachlichkeit eine letzte Abstraktion und Kristallisierung des Gefühls, das bei einer Fülle von Einzelheiten sich doch bei keiner Einzelheit aufhält, und alles Ausdruck eines großen Geschehens, einer pulsenden und dabei gemessenen Eile, die mit Ernst kein Verweilen gestattet. Wir untersuchen diese Zusammenhänge nicht näher und wenden uns Steiner wieder zu. Wir zeigten, wie er sich während des Schaffens an den Eroberungen entwickelte und zu sich selbst fand. Dieses Reifen, das in der Geschichte aller Künste an Werken zu beobachten so reizvoll ist, vollzieht sich, im Zusammengang mit der menschlichen Entwicklung, primär durch Erfahrungen und Einsichten, sekundär durch Reflexion und Tätigkeit; beides wirkt aber gleichsam beiläufig und wird im Akte des Reifens kaum gewußt, psychologisch erweist es sich als ein naiver Akt, und darum ist das Erstaunen so groß, wenn man an anderen wie an sich selbst plötzlich die gewordene Reifung bemerkt. Ausnahmsweise ist der Gang des Reifens auch anders und verläuft so bewußt, durch den Willen, wie jedes menschliche Streben, das sich ein schwer erreichbares, nie zu nahes Ziel steckt. Bei Steiner ist das Heranreifen zum großen Dichter weitgehend ein bewußter Akt; Rilke hierin nicht unähnlich, nur weniger spektakulär, schon aus äußeren Gründen nicht öffentlich, doch kaum weniger exhibitionistisch, erarbeitet sich Steiner nicht nur sein technisches Können, das ist für jeden Künstler selbstverständlich, sondern auch sein Dichtertum, das reife Dichtertum, mit unbeirrbarem Zielbewußtsein. Diese beiden Prager Dichter treiben mehr als sie getrieben werden, doch bei der Beurteilung der Leistung entscheidet freilich nur das Ergebnis. Weiter soll der Vergleich mit Rilke nicht verfolgt werden, denn die Voraussetzungen und das Ziel des Dichtens selbst – Rilkes „Rühmen“ und Steiners „Beschwören“ – sind verschieden. Steiner hat viele lyrische Techniken durchprobiert, seine ungewöhnliche Belesenheit in mehreren europäischen und orientalischen Sprachen hat ihm die Kunst- und Volksdichtung vieler Literaturen erschlossen, und er hat sich – um sein eigenes Wort zu gebrauchen – von fremder Dichtung (wie von fremdem Denken) „angeeignet“, was ihm für seine Absichten förderlich schien. Dieser Fleiß, der einmal durch die Herausgabe seiner Gedichte bis 1943 zu belegen sein wird (Unruhe ohne Uhr enthält nichts vor 1943 Geschriebenes), läßt als den ersten großen Gewinn die Eroberungen gelingen.
Hier ist, in den Elementen noch leicht aufzeigbar, vereinigt, was die Persönlichkeit Steiners so überzeugend über eine zwar beträchtliche, aber eben doch nur schöne und mit ihrer Epoche versinkende Begabung herausragen läßt: das Meistern zeitloser menschlicher Probleme im individuellen Gedicht zeitloser Prägung. Empfinden und Wissen, Intuition und Bildung, Künstlerschaft und Gelehrtentum fließen in diesem Zyklus zusammen und sind zugleich ein Sammelbecken der Tradition, die von der persönlichen Erfahrung bereichert worden ist. Ähnliches ist nicht oft und in der Geschichte der deutschen Lyrik sehr selten geschehen, denn dieses Verfahren setzt einen seltenen Typus des Dichters voraus, der sich gleicherweise in der Rezeption geistiger Leistungen bewähren und das Eigentümliche seiner Persönlichkeit durch sie bestätigt wissen will. Diese Spiegelung des Verhältnisses von unmittelbarem Erlebnis und gepflegter Erfahrung ist es, was ich vorhin mit aufzeigbaren Elementen gemeint habe; in Steiners späteren Arbeiten ist dieses Verhältnis gewöhnlich viel schwerer zu erschließen, weil sich in den ausgewogenen Gedichten der Reifezeit die Vereinigung meist nahtlos verwirklicht hat. Das geht seit 1943 mit einer Aufteilung seiner schöpferischen Tätigkeit auf zwei getrennte, wenn auch aufeinander bezogene Schaffensgebiete einher: neben die Lyrik dieser Jahre, dem wahrscheinlich gewichtigsten Teil seines Vermächtnisses, stellte Steiner von jetzt an seine Feststellungen und Versuche, Zeugnisse seines Denkens in kurzer und kürzester Prosa. Es ist eine dichterische, überwiegend aphoristische Prosa, von der bald ein erster Auswahlband vorgelegt werden sollte. In dieser späten Lyrik und Prosa tritt uns der fertige Steiner entgegen, den sich die Nachwelt zu erwerben hat.
Zur Aufnahme des Steinerschen Werkes empfiehlt es sich (nach einem Rückblick auf seine älteren Gedichte und Schriften, sobald das möglich sein wird), eingehend die Eroberungen zu betrachten und sich dann mit den reifen Leistungen vertraut zu machen. So schwierig die Eroberungen sind, schwieriger als das meiste, was nachfolgt, verhüllen sie doch noch lange nicht so dicht, was Steiner bewegt, wie oft gerade die stärksten späten Gedichte. Nach einer ersten Bekanntschaft mit der endgültigen Fassung eignet sich zunächst die frühe Kurzfassung für einen näheren Einblick, weil sie in ihrer Form vertraut anmutet und dabei in ihrer Aussage nicht sehr eigenwillig und außerdem – ist der erste Eindruck eingesunken! – nicht so befremdlich wirkt. Der hymnische Ton folgt gut begriffenem Hölderlin, der geistige Gehalt ist selbständig. Wer sich nachher in die letzte Fassung vertieft, wird von ihren weit geschwungenen Bogen überrascht sein: jetzt klingt die Aussage – selbst wo der Wortlaut kaum, die Versgestalt allerdings entscheidend verändert wurde – viel gewichtiger und schwerflüssiger; das Gedicht ist in der Strombreite seiner vielen Langzeilen, die sich keiner lyrisch-rhythmischen Prosa nähern, ein ungewöhnliches literarisches Ereignis. Die Schönheit der Sprache und die Begeisterung sind weniger Zweck und mehr zum Mittel geworden, die Nachwirkung von Hölderlin und anderem fremden Dichtgut ist zwar nicht ausgelöscht, hallt aber nur als Erinnerung nach.
Den Rhythmus hat Steiner von der natürlichen Prosodie der Sprache und nicht von einem schematischen Versmaß her bestimmt. Wer seine Verse laut liest, wird einen überraschenden rhythmischen Reichtum entdecken; er ist bis in die letzte Einzelheit durchdacht. Der Daktylus, manchmal dem Hexameter nahe, herrscht vor, bestimmt aber keineswegs den Gang des ganzen Gedichtes. In den ersten Kriegsjahren hat Steiner gründliche rhythmische Studien getrieben und eine Reihe Oden in schwierigen Versmaßen gedichtet, doch selbst dort wünschte er jede Verletzung des natürlichen Sprechtons zu vermeiden. Das laute Lesen eines Stückes der Eroberungen veranlaßt dazu, überwiegend langsam zu werden, viel langsamer als der nachdenkende Blick auf die Verse allein vermuten ließe. Erst der Vortrag nötigt zum Zögern und Verweilen; wer hier eilt, gerät in ein Hasten und wird bald stolpern: die Eroberungen sind im Tonfall und Tempo des sich sammelnden Herzens, der Meditation zu sprechen. So ist diese Dichtung besinnlich und verlangt Besinnung – immer und überall bleibt die Spannung straff, mag sie sich auch zur Vertiefung senken oder zur Erhebung weiten. Das ist gewiß ein gefährliches Dichten, da es den Menschen aus dem Weltgetriebe geradezu hinwegsaugt, das Tagesgeschehen zerbröckelt, die Ordnung der Dichtung gerät mit der üblichen Ordnung in Konflikt, dessen Schärfe sich noch dadurch erhöht, daß sich dieses Werk nicht in ein fingiertes Reich der blauen Blume oder überhaupt einer dichterischen Illusion zurückzieht. Es ist erstaunlich und hier das wahrhafte Ereignis, daß bei einer soIchen Anstrengung, die keinen Augenblick locker läßt, weder die natürliche Fülle an Weltgehalt einen Verlust erleidet noch der innere Raum durch das Zusammenrinnen bloßer Gedankenfiguren unabsehbar ausgehöhlt wird, und so ist auch Verdünnung, Blässe und Starrheit vermieden: die Eroberungen gehören keiner spirituellen Gedankenlyrik an. Selbst im Fortspinnen subtiler Gedanken laufen sie weder schwelgerisch ins Rauschhafte noch ins poetische Philosophem, sie bleiben realistisch oder kehren doch immer nach jedem Gleichnis ins Reale zurück, sogar im Einsamsten noch hält sich diese Dichtung nahe der Erde, bleibt sie der Gesellschaft zugekehrt und für die sinnliche Anschauung aufmerksam (XII, V. 12–16):

Auf muffigen juten gepackt voll schwarzer kartoffeln
Schlenkert im schlaf ein blasser auf hauderndem wagen.
O thron der holprigen fahrt… doch wir:
Gehoben, getragen von unserem warten: ein jeder hockt
Auf erneuerndem gipfel verdächtiger einsamkeit.

Die Natur wird in dieser Dichtung bewahrt, so entschieden sie die Reflexion ihr gegenüberstellt. Gerade in der damit erzielten und bis in den letzten Vers getragenen Spannung erweisen sich die Eroberungen formal und nicht bloß äußerlich als lyrisches Großgebilde, es handelt sich um kein episches oder dramatisches Gedicht oder gar um ein Lehrgedicht. Wohl könnte man sagen, daß dieses Werk für ein Gedicht fast schon zu reich befrachtet ist – und wohl deswegen konnte Steiner es äußerlich nie ganz vollenden und andere Gedichte verwandter Form, die er um 1940 plante, nicht mehr schreiben −, aber man würde falsch urteilen, wenn man es in Kenntnis seiner Vorder- und Hintergründe, seiner Tiefen und Untiefen zu einem Stück lyrisch eingekleideter Weltanschauung oder Lehre stempeln wollte. Die Eroberungen sind keine Allegorie, keine poetisch verbrämte Philosophie, sind – bei aller Symbolik – auch kein Schaustück von artistischem Symbolismus oder gedichtete Religion. Nun könnte es vielleicht bedünken, als wäre doch von alledem im Werke etwas enthalten und zusammengenommen wäre es mythisch. Mythisch, aber keine Mythologie, das stimmt, wenn darunter nicht das gekünstelte Erschaffen einer neuen übermächtigen Kräftewelt verstanden wird, wie sie in einem geschlossenen Bild von manchmal reicher Erfindung von neueren Dichtern gelegentlich geschaffen worden ist. Für Steiner steckt in jeder Realität etwas Mythisches, das bereits in den echten Mythen aller Völker und aller Zeiten erschienen ist, Fingerzeige einer Weisung und Deutung, um die wir uns zu bemühen haben. Hier sieht Steiner seine Aufgabe als Dichter, als Lyriker. Die Merkmale des lyrischen Gedichtes werden hier – gerade durch die speisende mythische Kraft – auch in den sublimsten metaphysischen Formeln gewahrt, wenn wir mit der Prägung „lyrisches Gedicht“ die gesangliche und rhythmisch gegliederte Übersetzung eines – sei es nun sinnlichen oder geistigen an sich auch anders mitteilbaren Stoffes meinen, der eben erst durch diese Übertragung, als eine besondere Methode sprachlicher Abstraktion, aus dem Bereich einer bloß berichtenden oder darlegenden Aussage in eine lyrische Aussage verwandelt wird (XIII, V. 316–318):

Wer in der ortschaft der heimat landet,
Verliert, die nur ist, wenn sie trägt, die hoffnung:
Und alle heimat ist eins…

Dieses Beispiel läßt sich dem Inhalt nach sprachlich gewiß anders mitteilen, doch erst in der gebotenen Gestalt ist er dichterisch lyrisch vermittelt. Das leuchtet leicht ein, wenn wir diese Stelle laut sprechen und dabei mit den vielen Zäsuren des Mittelverses, deren Wirkung überdies zweimal anapästisch verstärkt wird, das von ihnen verlangte stockende Verweilen und dann im dritten Vers am Ende das lange Ausschwingen verspüren, das von dem Gewicht der zwei gleichlautenden Diphtonge und dem schweren Ton der letzten Silbe gefördert wird.
So sind die Eroberungen, was sonst sie außerdem sein mögen, vor allem ein Gedicht. Ihre äußere Länge, die alles übertrifft, was Steiner sonst als lyrisches Gedicht hinterlassen hat, erweist sich durch die Fülle des Stoffes als gerechtfertigt und notwendig, sie widerspricht nicht dem Gebote der Konzentration, die wir an Werke der reinen lyrischen Gattung (also nicht an Leistungen in einer lyrisch-epischen Mischform) stellen. Genau das hat auch Steiner bedacht und sich daran gehalten. Dieser Stoff, das leuchtet schon nach flüchtiger Bekanntschaft mit dem Werk ein, führt an die Grenzen des selbst in einem als Zyklus angelegten Gedichtes gerade noch Darstellbaren; noch etwas mehr ausgebuchtet würden die formalen Grenzen einer rein lyrischen Komposition gesprengt. Das sinnträchtige einzelne Wort ist bereits das formale Grundelement der Lyrik. Das trifft so ausschließlich für die übrigen Zweige der Kunstliteratur nicht zu, wo komplexe sprachliche Einheiten, wie das schon für die kürzeste Erzählung gilt, und oft längere Perioden die Grundelemente bilden. Darum muß beim lyrischen Gedicht in jedem sinnträchtigen Wort oder zumindest – und auch besonders – in hervorgehobenen Wörtern, man mag sie Leitwörter nennen, seine Einheit überschaubar werden und bleiben, weil alle Wörter, die nicht nur eine grammatikalische und syntaktische Funktion erfüllen, miteinander ein Beziehungssystem bilden. Dieses System besteht nicht im logischen Ablauf des sprachüblichen Ganges oder gar des Inhaltes, wie er von Vers zu Vers vorgetragen wird, sondern in der Vieldeutigkeit und semantischen Variationsbreite wie der (auch klanglichen und rhythmischen) Sinnfülle der Wörter, die zwischen ihnen vielfältige Verhältnisse und Verflechtungen gestatten: Ähnlichkeit und Unterschied, Affinität und Kontrast, Abgrenzung und Austauschbarkeit, Entwicklung und Verwandlung so wie vieles andere mehr, was in seiner Gesamtheit als das Beziehungssystem eines Gedichtes zu bezeichnen ist. Das hat Steiner in der gegliederten Architektur dieses Werkes erstrebt, und das ist ihm auch gelungen. Deshalb gehören die Eroberungen zu den großen Gedichten der deutschen Literatur.

H.G. Adler, Nachwort, Januar 1964

 

Franz Baermann Steiner

Einführung zu einer zweisprachigen Gedichtausgabe

Meine erste Übersetzung eines Gedichts von Franz Steiner entstand noch zu dessen Lebzeiten, vor inzwischen mehr als vierzig Jahren. Es handelt sich um das lange Gedicht ,Gebet im Garten‘. Steiner schlug einige Korrekturen meiner englischen Fassung vor; er bat mich jedoch, aus Gründen, die ich jetzt besser verstehe, meine Übersetzung dieses besonderen Gedichts nicht sofort zu veröffentlichen: „Ich hätte gern, selbstverständlich hätte ich gern, daß es veröffentlicht wird“, schrieb er mir im Juni 1952, ungefähr fünf Monate vor seinem Tod, „aber entweder erst nachdem einige andere Stücke veröffentlicht wurden oder in einem kleinen Sammelband, der auch noch andere Gedichte von mir enthält.“ Etwa drei Wochen davor hatte er mir geschrieben: „Der Gedanke, daß gerade dieses Gedicht als eine meiner ersten Schriften auf englisch erscheinen soll, ist mir nicht ganz geheuer. Ironischerweise habe ich gerade aus Israel gehört, daß sich dieses Gedicht nicht gut ins Hebräische übersetzen läßt.“
Die Ironie, an die Steiner gedacht haben muß, bestand darin, daß sich dieses Gedicht von seinen anderen Gedichten abhebt, nicht nur, weil es sehr persönlich und bekenntnishaft ist eine Auflösung seiner intimsten Konflikte und Verworrenheiten in einem Gebet −, sondern weil es das einzige Gedicht Steiners ist, das sich direkt mit der Katastrophe beschäftigt, deren Opfer er ebenso war wie all jene, an die das Gedicht erinnert, nämlich an seine Eltern und andere, die in den deutschen Vernichtungslagern umkamen. Eine solche Unmittelbarkeit und Direktheit widersprachen Steiners sonstiger dichterischer Praxis. Obwohl er dieses Gedicht unter einem Zwang geschrieben hatte, der die Zurückhaltung und feinfühligen Zweifel, die ihm als Künstler eigen waren, durchbrach, muß er wohl befürchtet haben, daß dessen frühe und separate Veröffentlichung zu seiner Kategorisierung als Dichter des Holocaust oder der Shoa führen könnte, wo ihm doch alle Etikette und Kategorien verhaßt waren. (Ein verwandter Fall ist das berühmteste Gedicht von Paul Celan, die „Todesfuge“, das auf Kosten späterer Gedichte Celans derart häufig nachgedruckt und in Anthologien aufgenommen wurde, daß sich der Autor genötigt sah, die Abdruckgenehmigung für weitere Anthologien zu verweigern. Dies soll jedoch nicht heißen, daß bei diesem Gedicht Steiners oder bei irgendeinem anderen von ihm jemals die Gefahr bestanden hätte, wie Celans Gedicht aufgenommen zu werden; dies hat jedoch sehr verwickelte Ursachen, die ich hier zu entwirren versuche.)

In dieser frühen Periode übersetzte ich noch einige kürzere Gedichte Steiners und veröffentlichte diese Übersetzungen in den Anthologien Modern German Poetry (1962) und German Poetry 1910–1975 (1977). „Prayer in the Garden“ war zu lang für diese oder andere Anthologien, und meine Fassung erschien lediglich in der Zeitschrift Jewish Quarterly im Jahre 1962. Der „kleinen Ausgabe“ seiner Gedichte, die Steiner 1952 für wünschenswert gehalten hatte, widerfuhren die Verzögerungen, die die Veröffentlichung und Aufnahme seines ganzen Werkes auszeichnen. Ich habe mich zwar über die Jahrzehnte beständig für dieses Werk eingesetzt, doch erst kurz vor Steiners vierzigstem Todestag übersetzte ich die meisten der in diesem Band versammelten Gedichte teilweise aus der 1954 posthum veröffentlichten Auswahl Unruhe ohne Uhr, teilweise aus einem Typoskript, das mir Franz Steiner gegeben hatte, und teilweise aus einem Sonderdruck einer seiner wenigen Zeitschriftenbeiträge.
Tatsächlich erschienen die ersten von Steiners reifen Gedichten in Großbritannien, und zwar in Tambimuttus Poetry London X, dank der Vermittlung des Dichters David Wright, einem Freund Steiners aus Oxford. In seiner Besprechung dieser umfangreichen Ausgabe hob Stephen Spender Steiners Gedichte lobend hervor. Sein Urteil wird heute noch in den seltenen und verstreuten Versuchen zitiert, Steiner der Stille zu entreißen, die in seinen letzten Jahren einsetzte – die Stille eines „zum Schweigen gebrachten Mannes“ und Dichters, die sein Werk in den deutschsprachigen Ländern noch immer umgibt. In Großbritannien hingegen hat man Steiner nie völlig vergessen. Iris Murdoch, die Steiner liebte und beinahe geheiratet hätte, rief ihn und ihre Beziehung in der Sonntagsbeilage einer Tageszeitung in Erinnerung. Noch 1990 widmete David Wright Steiner ein liebevolles und witziges Versportrait, das er in seine Sammlung Elegies aufnahm. In England edierte Steiners Kindheitsfreund und Nachlaßverwalter, der verstorbene Dr. H.G. Adler, die beiden einzigen Gedichtbände Steiners, die in Deutschland erschienen sind, und ergänzte wesentlich die spärliche Sekundärliteratur zu Steiner. Weitere Beiträge, wie L.S. Salzbergers einfühlsame Besprechung von Unruhe ohne Uhr, erschienen in der britischen Fachzeitschrift German Lire and Letters. Das einzige anthropologische Buch Steiners, das je veröffentlicht wurde, sein Taboo, erschien in englischer Sprache mit einem Vorwort von E.E. Evans-Pritchard, Professor der Sozialen Anthropologie in Oxford, in England. Das langwierige Ringen um die Veröffentlichung von Steiners noch unveröffentlichten Gedichten wurde von H.G. Adlers Sohn, Professor Jeremy Adler, fortgeführt, dessen Ausgabe dieser Gedichte beinahe von einem etablierten Verlag akzeptiert worden wäre. Er mußte schließlich den gleichen Rückschlag erleiden, den Franz Steiner bei der einzigen Auswahl, die er selbst für eine Buchveröffentlichung besorgt hatte, erlebt hatte. Franz Steiners Titel für diese Auswahl, In Babylons Nischen, verwies auf Großbritannien, da Babylon in seiner Privatmythologie für London stand, wie Teile seines langen Gedichtzyklus „Eroberungen“ vor Augen führen. Nur zwei gebundene Fahnenkopien sind von Steiners eigener Auswahl geblieben: eine befindet sich bei seinem Nachlaßverwalter, eine bei Iris Murdoch, beide also in England.
Nicht lange vor seinem Tod wurde Steiner britischer Staatsbürger; er wurde auf dem jüdischen Friedhof in Oxford begraben. Bei einem Dichter, der sich seiner essentiellen Heimatlosigkeit sicherer war als seiner Zugehörigkeit zu einem Land, scheint es richtig und notwendig, daß diese kleine Auswahl zunächst zweisprachig in England erscheint, bevor einige der Texte im Original in einem deutschsprachigen Land erscheinen können, Wenn mein Gedenken verspätet kommt, dann gilt das gleiche für die Anerkennung von Steiners Werk. Die Gründe dafür haben mit der essentiellen Heimatlosigkeit zu tun, die keinesfalls wurzellos war, aber von einer Vielfalt weitreichender und tiefgehender Wurzeln genährt wurde.

Franz Baermann Steiner – „Baermann“ war nicht Teil seines Nachnamens, sondern der Vorname seines Großvaters väterlicherseits, der nach jüdischem Brauch hinzugefügt worden war – ist am 12. Oktober 1909 als österreichischer Staatsbürger in Prag geboren. Zwar war Deutsch seine Muttersprache, doch war ihm Tschechisch, die Sprache der Mehrheit, nicht fremd. Sein Vater besaß ein Textilgeschäft in einem der alten österreichisch-ungarischen Adelspaläste. Während seiner Kindheit verbrachte er viel Zeit auf dem Land im Haus seiner Großeltern väterlicherseits, die er als „Dorfjuden“ beschrieb. Wie sehr er seinen Vater liebte und bewunderte, bezeugt das Gedicht „Gebet im Garten“. Der erste einer Reihe von Schicksalsschlägen war der Tod seiner einzigen Schwester Suse, die 1932 im Alter von 19 Jahren starb.
Als Pfadfinder entwickelte er seine Lust am Leben im Freien. 1929 bereiste er Dalmatien, das er später nochmals besuchte. Andere Reisen in Europa folgten. Sein zeitlebens empfundenes Vergnügen am Herumreisen geht wohl auf seine Kindheit zurück. Ursprünglich wollte er Biologe werden, doch sein schwaches Sehvermögen verwehrte ihm die Arbeit am Mikroskop. In der Schule entwickelte er Interesse für Soziologie und Politik, doch als er sich an der Prager Universität einschrieb, hatte er sich für semitische Sprachen, Linguistik und Ethnologie, entschieden. 1930 ging er für ein Jahr nach Palästina, um Arabisch zu studieren, wobei er auch Ägypten, Griechenland und Zypern besuchte. Im Jahre 1935 promovierte er in Arabistik. Nachdem sich sein Hauptinteresse auf die Anthropologie verlagert hatte, spezialisierte er sich eine Zeitlang auf Eskimos und ethnische Gruppen in Nordsibirien, ging dann für ein Jahr an die Universität Wien, um 1936 das Studium der sozialen Anthropologie in London und Oxford aufzunehmen.
Steiner sah Prag und seine Eltern 1938 zum letzten Mal. Vor der deutschen Annexion der Tschechoslowakei im März 1938, die ihn zum Flüchtling machte, wurde er von seinem Vater finanziell unterstützt. Als dies unterbunden wurde, verdankte er seinen Lebensunterhalt einem emeritierten Professor der Altphilologie, Christopher Cookson, der ihn neun Jahre bei sich aufnahm und ihn praktisch als Pflegesohn adoptierte. (Vor dem Ersten Weltkrieg war Christopher Cookson der Tutor eines anderen herausragenden Dichters deutscher Sprache gewesen, nämlich der des Rhodes-Stipendiaten Ernst Stadler, der als deutscher Soldat im ersten Jahr dieses Krieges sterben sollte.) Mit Ausnahme eines Aufenthalts in den Karpaten hinderte der Kriegsausbruch Steiner an anthropologischer Feldarbeit. Er fand jedoch eine Teilzeitbeschäftigung am Londoner Afrika-Institut, während er seine Studien am Magdalen College und dem Institut für Soziale Anthropologie in Oxford fortsetzte. Vor dem Krieg verlobte sich Steiner mit einer Neuseeländerin; diese Beziehung führte jedoch ebensowenig zu einer Ehe wie seine späteren Liebesaffären.
Da er für eine Dozentur eine britische Promotion vorweisen mußte, blieb Steiner den überwiegenden Teil seines Erwachsenenlebens Student – sieben Jahre vor seiner Abreise nach England und nochmals vierzehn Jahre in England. Ein weiteres großes und für ihn charakteristisches Unglück widerfuhr Steiner noch vor dem Schicksalsschlag, der ihm in seinen eigenen Worten „das Herz brach“, nämlich die erst nach dem Krieg erhaltene Nachricht vom Tod seiner Eltern im Jahre 1942 in Treblinka. Seine Dissertation Über die Soziologie der Sklaverei – „Ich habe dieses Thema gewählt, weil es ein Opfer sein sollte“, hatte er Iris Murdoch geschrieben – hätte seinem Betreuer A.R. Radcliffe-Brown zufolge im Herbst 1942 abgeschlossen sein sollen. Im April 1942 packte Steiner das ganze Material für seine Doktorarbeit, bestehend aus Aufzeichnungen und Literaturangaben, die er in vielen Jahren in der Bibliothek des Britischen Museums zusammengetragen hatte, in einen Koffer, der zwischen Paddington und Oxford aus dem Gepäckwagen eines Zuges gestohlen wurde, Das Material wurde nie wiedergefunden. Obwohl Steiner es unter großen Schwierigkeiten und mit verminderter Energie in den folgenden Jahren wieder zusammensuchte, erhielt er seinen englischen Doktortitel erst 1949, als er schon schwer erkrankt war. Diese Krankheit hatte ihn kurz nach der Nachricht vom Tod seiner Eltern ereilt. 1946 war er auf einem Spaziergang in der Umgebung von Oxford zusammengebrochen. Der Ohnmachtsanfall wurde als Nervenzusammenbruch diagnostiziert, obwohl es in Wirklichkeit der Beginn eines Herzleidens war, dem er später erliegen sollte. 1949 kam er mit Herzbeschwerden ins Krankenhaus, die schließlich zu einer Thrombose führten. Diese Krankheit vergönnte ihm in den drei verbleibenden Jahren seines Lebens nur kurze Ruhepausen.
Ich kannte Steiner während der letzten fünf Jahre seines Lebens, in denen er zwischen einer Unterkunft in der Norham Road 10 in Oxford und einem Zimmer oder einer kleinen Wohnung von Freunden in Notting Hill Gate pendelte, wo sich der größte Teil seiner umfangreichen Bibliothek befand. Auf einem seiner letzten Briefe an mich stand eine unleserliche Adresse in Highgate. Steiner soll verschlossen gewesen sein und die Angewohnheit gehabt haben, seine verschiedenen Freunde, Frauen und Männer, niemals zusammenzubringen. Dennoch erinnere ich mich daran, daß bei mehreren Treffen mit ihm in London auch andere Freunde von ihm, beispielsweise Elias Canetti, zugegen waren. Auch war er zu mir und meiner Frau, wir haben 1951 geheiratet, immer offen, obwohl er viele Freunde hatte, die er uns gegenüber nie erwähnte. (Warum hätte er das auch tun sollen?) Ich erinnere mich an einen grausamen Aprilscherz, vermutlich 1950, als irgend jemand anrief, um Steiner mitzuteilen, daß sein Gedichtband erschienen sei, obwohl es nicht stimmte und niemals wahr werden sollte. Ich erinnere mich auch daran, wie er uns nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus nach dem schlimmsten seiner Zusammenbrüche sagte, daß die unterbrochene Lebenslinie in seiner linken Hand wieder zusammengewachsen sei. So wie er zwischen Einsamkeit und Geselligkeit schwankte, konnte die Hinnahme seines frühen Todes plötzlich einer überschwenglichen Hoffnung auf ein neues Leben mit Heirat und Kindern weichen. Ebenso konnte er meine Frau, die doch viel jünger und unerfahrener war als er, fragen, welche von zwei Frauen, die wir kennengelernt hatten, er ihrer Meinung nach heiraten sollte. Dies hätten wir für Naivität oder Frivolität gehalten, wenn wir nicht gewußt hätten, daß es seinen Ursprung in der „Verzweiflung über die Unmöglichkeit“ hatte. „Sinn der Geselligkeit“, lautet eine Bemerkung Steiners, (ist es), „viele Menschen zu haben, von denen man sich zurückziehen kann. Freunde ermöglichen die Freuden der Einsamkeit. Einsamkeit eines Menschen, der keinen kennt und den niemand liebt, ist bloß eine bittere Zwangslage, die nichts mit geplantem Leben, Kultur und Frömmigkeit zu tun hat. Die andre Einsamkeit aber ist Krone und Zweck all jener menschlichen Beziehungen, die man bewußt pflegen kann.“ Auf ihn selbst bezogen, muß diese Bemerkung allerdings wegen der beiden letzten Worte relativiert werden, denn die dauerhaftesten und tiefgehendsten Beziehungen können nicht „bewußt gepflegt“ werden, und eine solche Beziehung wurde Steiner in seinen späteren Jahren durch Unsicherheit, Verluste, Überarbeitung und Krankheit vorenthalten.
Iris Murdoch schilderte Steiner als „einen der witzigsten, fröhlichsten, süßesten Menschen, die ich je getroffen habe“; außerdem als „eine vergnügte, glückliche Person, sehr sanft, voller Gefühl“. In David Wrights Gedicht wird er als „kaustisch“ beschrieben. Steiners Gedichte und meine Erinnerungen an ihn bestätigen, daß er all dies tatsächlich war, süß und „kaustisch“, vergnügt und traurig, „sehr sanft“ und sehr scharf, wenn es darum ging, Unaufrichtigkeit, Selbstgefälligkeit und Heuchelei zu entlarven. Weder seine außerordentliche Gelehrsamkeit noch sein Schwanken und seine Zurückhaltung änderten etwas daran; auch nicht die körperliche Erschöpfung und Schwäche in seinen letzten Jahren, Im Oktober 1951 schrieb er mir aus Oxford: „Ich wünschte, ich hätte im Süden bleiben können. Diese zehn Wochen waren wirklich herrlich. Ich habe mich so gut erholt, daß ich wie in besseren Tagen schwimmen, tanzen und trinken konnte. Und die Spanier sorgten dafür, daß ich mich prächtig amüsierte. Ich werde nach Spanien zurückkehren, sobald ich etwas Geld auf meinem Konto habe. Warum soll ich mich in diesem furchtbaren Klima quälen?“ Trotz seiner Krankheit gab er das Rauchen nicht auf und kehrte tatsächlich in den folgenden Sommerferien zu einem letzten Urlaub nach Spanien zurück.
Obwohl er sich in Großbritannien nie ganz heimisch fühlte, nicht nur wegen des unangenehmen Klimas, sondern auch wegen des Imperialismus, der so viele „minderwertige Rassen“ zu Sklaven gemacht hatte, liebte er die englische Literatur und die Höflichkeit der Briten, die seiner eigenen Vorliebe für Freiheit und Distanz in persönlichen Beziehungen entgegenkam; doch befürchtete er, daß die Höflichkeit den Verlust imperialer Größe möglicherweise nicht überdauern würde.
Verschiedene wissenschaftliche Beiträge Steiners erschienen in Zeitschriften und in Chambers Enzyklopädie zwischen 1938 und seinem Tod am 27. November 1952 im Alter von erst 43 Jahren. Von Hunderten von Gedichten erschienen zu seinen Lebzeiten nur sechsundzwanzig in Zeitschriften und Anthologien. Fast sein ganzes Frühwerk, das Prosa, Dramen und etwa achthundert Gedichte umfaßte, wurde in Prag zurückgelassen und ging verloren, als seine Eltern verhaftet wurden. Dank Elias Canetti hätte 1949 ein Gedichtband Steiners im Verlag von Willi Weismann, der 1948 Canettis Roman Die Blendung wieder herausgebracht hatte, erscheinen sollen; doch kam das Buch nie über die Druckfahnen hinaus und konnte auch sonst nirgends untergebracht werden, obwohl sich Steiners dortiger Lektor, der Kritiker Rudolf Hartung, der auch weiterhin Steiners Werk verbunden blieb, sehr dafür einsetzte. Nach diesem Rückschlag unterließ es Steiner fast ganz, neue Gedichte zu schreiben, doch arbeitete er weiterhin bis zu seinem Tod an neuen Fassungen früherer Gedichte.
Kein Buch Steiners erschien zu seinen Lebzeiten, obwohl er 1935 eine Übersetzung aus dem Tschechischen veröffentlichte. Selbst sein anthropologisches Werk Taboo, das auf seinen Oxforder Vorlesungen basiert, wurde erst 1956 veröffentlicht; und seine große anthropologische Studie, die Dissertation Über Formen der Sklaverei, ist ebenso wie eine spätere Arbeit über die soziologischen Schriften von Aristoteles und der Großteil seines dichterischen Schaffens bis zum heutigen Tag unveröffentlicht. Von den zwei posthum erschienenen Gedichtbänden beschränkt sich der spätere auf die Gedichtfolge Eroberungen, die eine Feier der wichtigsten Stationen und Hauptanliegen seines Lebens darstellt und überwiegend in den frühen Vierzigern geschrieben wurde, aber unvollendet blieb. Von 1943 an hielt er seine Reflexionen in einem vorwiegend aphoristischen Prosawerk fest, das er Feststellungen und Versuche nannte. Eine kleine Auswahl daraus wurde 1988 unter dem Titel Fluchtvergnüglichkeit (Flugasche-Verlag, Stuttgart) veröffentlicht. Während ich dies schreibe, scheint dies das einzige Buch Steiners zu sein, das in den deutschsprachigen Ländern – oder irgendwo sonst – erhältlich ist.
Steiner veröffentlichte auf englisch einen literarischen Essay über Robert Musil und schrieb längere Essays über das Werk Rilkes sowie über Status und Funktion der poetae minores. Außerdem übersetzte er für die Anthologie Die Lyra des Orpheus Gedichte von Blake, Yeats und T.S. Eliot aus dem Englischen. Diese Anthologie stellte Dichtung der Welt vor. Obwohl seine Fassung des Eliot-Gedichts „Marina“ die beste Eliot-Übersetzung ins Deutsche darstellt, die ich je las, wurde sie nicht in die deutschen Ausgaben von Eliots Werken aufgenommen.

„Meine Heimatlosigkeit ist die Welt“, schrieb Steiner in seinem Aphorismen-Buch. Eine der vielen Bedeutungen dieser wenigen kryptischen Worte erklärt bis zu einem gewissen Grad, warum sein Werk bis jetzt noch keine Heimat gefunden hat. Obwohl er von deutschsprachigen Schriftstellerkollegen, die bedeutendsten eingeschlossen, und von einer Handvoll Kritikern anerkannt wird, ist Steiner der allgemeinen Leserschaft praktisch unbekannt. Also ein „Dichter für Dichter“, werden einige entgegnen; aber ein „Dichter für Dichter“ zu sein, ist zunächst einmal eine Empfehlung, die so gut ist wie irgendeine andere – und, so wie die Dinge im Moment liegen, sogar eine verläßlichere, als ein Dichter für Feuilletonisten zu sein. Von wenigen Ausnahmen abgesehen – zum Beispiel Johannes Bobrowskis Sammlung seiner Lieblingsgedichte in deutscher Sprache, die er für seinen eigenen Gebrauch kompilierte und die erst posthum veröffentlicht wurde −, sind Steiners Gedichte in den Standardanthologien nicht vertreten. Auch fehlt sein Name in den maßgeblichen Literaturgeschichten und Nachschlagewerken zur deutschen Literatur. Und selbst das anerkannte akademische Spezialgebiet „Exil-Literatur“, das sich explizit mit heimatlosen deutschsprachigen Schriftstellern befaßt, hat keinen Platz für ihn gefunden. Mit der einzigen, an der Universität Fribourg in der Schweiz entstandenen Doktorarbeit von Alfons Fleischli über Steiners Leben und Werk, die ich für meine biographische Skizze herangezogen habe, scheint das akademische Interesse an Steiners Werk in den deutschsprachigen Ländern erloschen zu sein.
Es ist schwer zu entscheiden, ob die schiere Unverfügbarkeit seiner wenigen posthum erschienenen Bücher Ursache oder Folge dieses Zustandes ist. Beide Gedichtbände, sowohl die Auswahl Unruhe ohne Uhr des Jahres 1954 als auch der zehn Jahre danach erschienene Zyklus Eroberungen, wurden unter der Schirmherrschaft der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in einer Reihe veröffentlicht, die Werken galt, von denen man glaubte, daß sie neben den Produktionen allgemeiner Verlagshäuser nicht bestehen könnten; und ich habe die zwei Rückschläge erwähnt, die nahelegen, daß Bücher tatsächlich Schicksale haben – Schicksale, die im Falle Steiners unentwirrbar mit dem Pech und dem Mißgeschick verbunden sind, das er während seines ganzen Lebens erlitt. Die meisten seiner besten und charakteristischsten Gedichte wurden im Schatten des Todes geschrieben – seines eigenen und des allgemeinen in Europa −, auch wenn sie sich diesem Schatten durch die Bejahung der Liebe und durch die religiöse Hinnahme des Schlimmsten widersetzen. Diese Besonderheit trug dazu bei, daß den Gedichten keine Beachtung zuteil wurde.
Die Mißachtung von Steiners Werk in den deutschsprachigen Ländern kann weder seiner frühen Emigration noch dem Umstand, daß er selbst nie in Deutschland und nur kurz in der Republik Österreich lebte, zugeschrieben werden. Das gleiche gilt für Paul Celan, einen der Dichterkollegen, die Steiners Werk schätzten, der zudem zu den etabliertesten deutschsprachigen Dichtern seiner Zeit zählt. Erich Fried – Flüchtlingskollege Steiners in England und Erfolgsdichter im Nachkriegsdeutschland −, der Steiners Werk bewunderte, brachte Gedichte von ihm auf Matrizen in Umlauf, noch bevor auch nur eines von diesen veröffentlicht worden war, und schrieb einen erhellenden Essay über sein Werk, Nelly Sachs, die in Schweden lebte, erhielt den Nobelpreis als deutschsprachige Dichterin nicht trotz, sondern eher wegen ihrer Emigration. Wenn es nebensächliche Gründe für Steiners Vernachlässigung gibt, dann haben sie mit Anachronismus und Unzeitgemäßheit zu tun und daher mit den Unfällen, Mißgeschicken und Katastrophen, zu denen er neigte. Wenn seine eigene Gedichtauswahl 1949 tatsächlich erschienen wäre, hätte sie seinen Ruf höchstwahrscheinlich genauso gefestigt, wie es Celan drei Jahre danach mit der Veröffentlichung von Mohn und Gedächtnis gelang. Sie paßte zu Zeit und Klima. Im Jahre 1954, als die posthume Steiner-Auswahl erschien, war der Stern einer jüngeren Generation deutscher Dichter im Aufgehen; und im Jahre 1964, als sein zweites Buch folgte, waren die Politisierung der westdeutschen Schriftsteller und deren Beschäftigung mit Trends, Schulen und Bewegungen – auch die mächtige Gruppe 47, zu der Steiner nie eingeladen wurde – gegen ihn. Diese Beschäftigung wurde im folgenden Jahrzehnt derart ausschließlich, daß ein fast Gleichaltriger, der Dichter Ernst Meister, bis kurz vor seinem Tod im Jahre 1979 fast völlig in der Versenkung verschwand. Meister emigrierte nicht, sondern lebte in seiner Heimatstadt, wo er fast als Regionaldichter gelten konnte, während unter Dichtern die Heimatlosigkeit wie eine Seuche grassierte. Meisters Werk, so idiosynkratisch wie das von Steiner, mußte wiederentdeckt werden, während Steiners Werk nicht nur wiederentdeckt, sondern erst einmal entdeckt werden muß.
In diesem Zusammenhang ist Steiners eigenartige Diktion ein weiterer Faktor. Er selbst wies auf die Eigenartigkeit und Unangemessenheit des Deutschen, wie es im Prag seiner Generation gesprochen wurde, hin, indem er es abwertend mit dem Deutschen verglich, das in Rilkes und Kafkas Jugend gesprochen worden war, bevor das Prager Deutsch das Idiom einer sprachlichen und kulturellen Enklave inmitten der tschechoslowakischen Nation geworden war. Als Steiners erstes Gedichtbuch erschien, war der Umgangssprache ein verspäteter Durchbruch in der deutschen Dichtung gelungen – verspätet im Vergleich zu der englischen Dichtung, in der umgangssprachliche Ausdrücke schon seit Chaucers Zeiten viel häufiger verwendet wurden, Nicht nur in sprachlicher Hinsicht war Steiners Werk weit von dem entfernt, was in der deutschen Nachkriegsdichtung als „neu“ galt. Das Prager Deutsch unterschied sich auch von dem anderer deutschsprachiger Regionen und hatte mit Veränderungen in der Alltagssprache andernorts nicht Schritt gehalten. So enthalten Steiners Gedichte Wörter, die den meisten deutschen Lesern nicht vertraut sind, so daß Erläuterungen benötigt werden. Einige dieser Wörter entstammen dem Dialekt, andere wiederum sind Archaismen. Daher würden Leser, zumindest bei der ersten Lektüre, viele von Steiners Gedichten für gelehrt halten. Obwohl er sich auf die verschiedensten literarischen Quellen und Modalitäten bezog, nicht zuletzt auf die Bibel – die dank Luthers Übersetzung den meisten deutschen Lesern derart vertraut war, daß sie in die Umgangssprache eingegangen war −, diente seine Gelehrsamkeit einer allein ihm eigenen Vision und Sensibilität. In diesem Sinn war seine dichterische Praxis klassisch und unterschied sich keineswegs von der anderer gelehrter Dichter. (Die Gedichte von Ben Jonson zum Beispiel enthalten bis hin zu seinem populärsten Lied „Drink to me only…“ Anleihen von ebenso verschiedenartigen und verborgenen literarischen Quellen.) Anders ausgedrückt: Steiner war gleichermaßen ein Dichter des Herzens wie des Kopfes, wenn er seine besten Gedichte auch erst dann schrieb, als sein Herz bereits „gebrochen“ war.
Einer der literarischen Mythen, die eine besondere Bedeutung für Steiner besaßen, geht wohl auf eine Leseerfahrung in seiner Jugend zurück. Es handelt sich um Robinson Crusoe, der nicht nur im Zentrum eines Abschnitt von Steiners autobiographischer Gedichtfolge Eroberungen steht, sondern auch in „Über dem Tod“, einem seiner letzten Gedichte, in Gestalt des geheimnisvollen Marinekapitäns wieder auftaucht. Dies ist ein Beispiel dafür, daß literarische Quellen zu einem Teil von Steiners persönlichen Visionen wurden. (Ich habe die Erzählung einen Mythos genannt, denn genau das wurde sie für Steiner. War der Berufsliterat und Verfasser von Flugblättern, Daniel Defoe, ein poeta minor oder major? Defoe schuf, aus welchen Quellen auch immer, eine Erzählung, die für Steiner genauso mustergültig blieb wie die Epen Homers. Welches romantische oder post-romantische Genie hat denn mehr vollbracht?) Die Geschichte Robinson Crusoes hat in Steiners Gedichten einen derart hohen Stellenwert, daß sie etwas mit seiner Berufswahl als Anthropologe zu tun haben könnte und daher mit dem Verlauf seines ganzen späteren Lebens, mit seiner Beschäftigung mit „primitiven“ Völkern und mit seiner lebenslangen Suche nach einer Gesellschaft, in der Natur und Kultur keine unversöhnlichen Gegensätze darstellen. Eine vereinfachende Trennung von Literatur und „Leben“ hilft im Falle Steiners überhaupt nicht weiter, denn es ist ja gerade deren Verschmelzung, die sein Werk auszeichnet.
Der Versuch, Franz Steiner als Dichter oder als hervorragenden Gelehrten und Prosaisten, der er auch war, einzuordnen, scheitert an zahlreichen inhärenten Widersprüchlichkeiten, die er, wenn schon nicht auflösen, so doch zumindest im Gleichgewicht halten konnte, weil Kreativität von Konflikten und Widersprüchen erzeugt wird, die jedoch die Begriffe der Etikettierer und Klassifizierer überfordern. Wenn die unterschiedlichsten Dichterkollegen, von Gottfried Benn, Peter Huchel und Johannes Bobrowski bis hin zu Celan und Fried, im Gegensatz zu den Etikettierern und Klassifizierern mit Steiners Gedichten etwas anfangen konnten, dann deshalb, weil sie sich von der „Welt“ in Steiners Gedichten angesprochen fühlten. Sie scherten sich nicht um die Heimatlosigkeit und die Widersprüchlichkeit, die daraus resultierten, daß Steiner mehr als eine räumliche und zeitliche Behausung hatte.
Eine dieser Widersprüchlichkeiten wurde bereits angesprochen. Es ist die „Ironie“ schlechthin, daß sich Steiners Gedicht der geistigen und religiösen Heimkehr, „Gebet im Garten“, nicht gut ins Hebräische übersetzen läßt. Steiner scheint seit seinem Palästina-Aufenthalt von 1930 bis 1931 ein Zionist oder so etwas Ähnliches gewesen zu sein, der sich auf Grund seiner Abstammung für einen „Orientalen“ hielt, obwohl er in einer weitgehend assimilierten Familie aufgewachsen war und als deutschsprachiger oder englischsprachiger Schriftsteller nichtjüdischen Vorläufern und Traditionen kulturell kaum mehr hätte verdanken können. Im „Gebet im Garten“ wird die Heimkehr mit Hilfe des christlichen Mystikers Eckhart erreicht, auf den nicht nur der Epigraph für das Gedicht, sondern auch die zentrale Unterscheidung zurückgeht, die es Steiner ermöglichte, seinen Frieden mit dem Gott zu schließen, der, wie Celan schrieb, „all dies wollte… all dies wußte“ und schon im Alten Testament Sein Volk immer wieder bestrafte. Doch als Dichter – und auch als Ethnologe, Soziologe und Anthropologe – entzieht sich Steiner einer allzu leichten Einordnung in irgendeinen „Ismus“. Sein Zionismus unterschied sich von dem vorherrschenden dadurch, daß er die Integration und Partnerschaft der Araber in einer jüdischen Nation forderte, die auf dem gemeinsamen Heimatland dieser ethnisch verwandten „orientalischen“ Völker errichtet werden sollte. Seine Beschäftigung mit Formen der Sklaverei und der Unterdrückung liegt diesem Konzept zugrunde. Dies erklärt vielleicht, warum Steiner sich nie im Staat Israel ansiedelte oder diesen Staat auch nur besuchte, obwohl er seine wissenschaftlichen Bücher der Universität Jerusalem vermachte. Das Palästina, in dem er sich mehr zu Hause fühlte als irgendwo sonst, war das der ersten Siedler und der „Kibbuz“-Bewegung.
Die gleiche Beschäftigung und das gleiche Engagement machten Steiner zum Sozialisten; doch erneut kann der „Ismus“ in die Irre führen. „Die sozialistische Gesellschaftsordnung“, schrieb er in seinem Aphorismenbuch, „ist zu bejahen, nicht etwa, weil sie jedem Menschen Wohlstand gewährt; im Gegenteil, weil nun zum erstenmal in der Geschichte Menschen arm sein dürfen, ohne dadurch wehrlos zu werden. Sozialismus bedeutet nicht gleiche Verteilung der Güter, sondern daß der Besitz aufhört, Schutz des Menschen zu sein.“ Es erübrigt sich zu erklären, inwiefern sich diese Auffassung vom Sozialismus von jener unterscheidet, die sich auf Marx und Lenin beruft, die Steiner beide in seiner Jugend studiert hatte; es erübrigt sich auch aufzuzeigen, wie wenig sie mit sozialistischem oder kapitalistischem Materialismus in Einklang steht.
Steiners einziges anthropologisches Buch, Taboo, ist eine sanfte, gutmütige, aber gründliche Zerstörung fast aller Ideologien und „Ismen“, die die Anthropologie zu einer vergleichenden Wissenschaft gemacht haben. Von Robertson Smith und Frazer bis zu Freud und Steiners eigenem Lehrer, Radcliffe-Brown, wird keine Koryphäe des Faches von Steiners Ablehnung des vergleichenden Ansatzes ausgenommen und damit auch des Abstraktionsniveaus, das zu Analogien beispielsweise zwischen polynesischen Tabus und „sogenannten primitiven Merkmalen“ religiöser Ausübung im Pentateuch gelangt. Für Steiner war eine Kultur, die man analysierte und verglich, keine Kultur, die lebte und in der man lebte. Die gesammelten Daten mögen zwar valide und faszinierend sein, aber unsere Schlüsse daraus werden zwangsläufig von unseren eigenen Annahmen und Vermutungen bestimmt. Franz Steiners Skepsis gehörte nicht zur rationalistischen oder positivistischen Spielart, die die europäischen Intellektuellen mindestens zwei Jahrhunderte lang beherrschte. Vielmehr war es eine Skepsis, die sich gegen die Errichtung anscheinend rationaler Systeme auflehnte. „Die Wirklichkeit“, so versichert uns das Aphorismenbuch, „wohnt nur in den Rändern des Traums.“

Die Beschäftigung Steiners mit diesen Themen ging in seine Gedichte ein, und zwar in ihre Substanz, so daß sein Engagement, seine Einstellungen und Ansichten nicht offen oder tendenziös zutage treten, Dies allein stellte schon ein Hindernis für ihre Aufnahme dar. Der „Zionismus“ oder seine eigene Auffassung vom Judentum können nur schwerlich aus irgendeinem mir bekannten Gedichttext, „Gebet im Garten“ ausgenommen, erschlossen werden. Der „Zionismus“ ist kaum vereinbar mit der in seinen späten Gedichten auffälligen, unauslöschlichen Liebe zu seinem realen Heimatland wenn er nicht gar in völligem Widerspruch dazu steht. Seine Liebe galt weniger seiner Geburtsstadt Prag als der böhmischen Landschaft. Mit Ausnahme von Babylon-London, das er, wenn auch ambivalent, in seinem Zyklus Eroberungen feiert, haben die meisten Gedichte dieses städtischen Schriftstellers die verschiedensten ländlichen Schauplätze – Erinnerungen an seine unermüdlichen Reisen und Wanderungen. Darin bestand seine dichterische Feldarbeit, auf die er weniger verzichten konnte als auf seine anthropologische Feldarbeit, zu der er sich ohnehin außerstande fühlte. Eine Liste der Orte, der die ersten Fassungen seiner kürzeren Gedichte ihre Entstehung verdanken – und Steiner notierte diese Orte immer, ebenso die Daten seiner ersten und späteren Fassungen −, würde eine höchsterstaunliche Ausdehnung über Europa, die Britische Insel und Kleinasien zutage fördern. An jedem Ort war er dank der phantasievollen Empathie, die er in anthropologischen Studien vermißte, mehr oder weniger zu Hause. Seine historische Reichweite war sogar noch größer. Sie umfaßte sowohl das antike Griechenland als auch das alte Israel und erstreckte sich bis nach Asien, Afrika und Nordamerika.
Aufrichtig wie er in all seinen poetischen und anderen Schriften zu sein versuchte, glaubte Franz Steiner nicht daran, daß es für ihn je eine Heimkehr geben würde, es sei denn eine religiöse und kulturelle. „Welch fremdling ist das leben in der welt“, schrieb er in einem unübersetzten Gedicht. In dem fragmentarischen Teil X seiner Eroberungen mit dem Schauplatz London-Babylon spielt er auf ein Gedicht von Louis MacNeice an, „The British Museum Reading Room“, indem er sich selbst in den Figuren erkennt, die dieser Dichter dort beobachtete:

Und unter den Totempfählen – der alte Terror −
Zwischen den riesigen, bogenförmigen ionischen Säulen
Rinnt aus großkiefrigen oder habichtähnlichen fremden Gesichtern
Die kehllautige Klage der Flüchtlinge.

Das rückblickende, wehmütig-sympathische Porträt von David Wright, das ich bereits erwähnt habe, charakterisiert Steiner auf leichter erkennbare Art:

ERINNERUNG AN FRANZ STEINER

Franz, kaum vierzig, schon ein alter Mann:
Versengt sah sein Gesicht aus. Ich bild’ mir ein,
Jene Verbrennungen – Bücher, Körper dann, Mitteleuropas
Alp, den keiner hier sich vorstellt −
Ließen jenes dürren Überlebenden Haut verdorren.
Immer unglückseliger Franz, Mann ohne Familie,
Verbannt aus seiner Sprache, weiterlebend.

Gebildet, voll Sarkasmus, Anthropologe, der

Freud töricht aussehen ließ (jenes Buch über Tabu,
Die Notizen und das Manuskript in Paddington verloren
Samt all der Arbeit, die nochmals zu machen war,
Gemacht auch wurde). Immer unglückseliger Franz,
Der stets die Spiegel in meinem Zimmer verhängte

− „Ich möchte’ nicht mein Gesicht zufällig sehen“ −
Dessen Ehrfurcht vor seiner wirklichen Berufung,
Das Abwägen der Silben von Wörtern für den Vers,
Der von dem Unbekannten zehrte, um bekannt zu machen,
Den Dilettanten, der ich war, ans Licht stets brachte.

Den Gebrochenen und Nicht-Besiegten, ich sehe ihn,
In komischer Courage am Telefon.
„Doch deine Stimme klingt so seltsam – Franz,
Stimmt etwas nicht?“
− „Ich rufe grad aus einer Zelle auf dem Bahnhof an.
Ich kriegte Nasenbluten. Mein Unterstes ist zuoberst,
Ich stehe auf dem Kopf“ – war die Erklärung,
Übersetzt von Hans Raimund

Die Gedichte, die ich zur Übersetzung auswählte, sind, bis hin zum Paradoxen, so verschiedenartig wie Steiners Anliegen und Quellen, da für ihn Trennung, Getrenntsein die conditio humana darstellten. Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß er nie einer poetischen Schule, Bewegung oder Gruppe angehörte. Seine Dichtung stand vielmehr in der deutschen Sprachtradition von Klopstock und Hölderlin über Rilke zu Trakl. Doch einer seiner Vorläufer war der Dichter Alfred Mombert, ein mythenbildender Visionär, der in der deutschen Dichtung ebenso ein Außenseiter blieb wie Steiner. In späteren Jahren distanzierte sich Steiner mehr und mehr von allem Romantischen dieser deutschen Tradition. „Keine geistige Strömung hat das Bild des Künstlers so verfälscht wie die Romantik“, stellte er fest; und das Werk von Adalbert Stifter und Franz Kafka, zwei Romanciers, die mit seiner Heimat verbunden sind, blieb für ihn genauso exemplarisch wie das irgendeines Lyrikers. Nicht nur wegen seiner anthropologischen Interessen hatten Werke wie das Baghavad Gita und das Tao Te King (oder wie immer das heute transliteriert wird) keinen weniger prägenden Einfluß auf ihn als sein Studium des Alten Testaments, der griechischen Antike und der europäischen Moderne, wobei er sich gleichermaßen mit Philosophie, Theologie, Mystizismus und mit schöngeistiger Literatur beschäftigte. In der deutschen Dichtung wurde er zum Spezialisten für die vorromantische, metaphysische oder Barockdichtung des 17. Jahrhunderts, und er besaß sogar eine Sammlung seltener Ausgaben aus dieser Zeit. Stark beeinflußt war er auch von der spanischen Dichtung jener und früherer Epochen. Vor allem im Haus von Christopher Cookson begann er, sich ebenso intensiv mit der englischen wie mit der deutschen Literatur zu beschäftigen. Und auch hier bevorzugte er jene Schriftsteller, die liebevolle Beobachter und Interpreten der sichtbaren Welt waren, gleichgültig, ob sie nun im romantischen Zeitalter gelebt hatten oder nicht. In Richard Jefferies fand er, wie seine Variationen über bloße Tagebucheinträge bezeugen, einen Gleichgesinnten, einen Chronisten disparater Einzelheiten, die er, wie Stifter, aus einem religiösen oder sogar mystischen Gefühl für Einheit festhielt. (Stifter ist gewiß der „edle mann“, auf den er sich als Vorläufer in „Erinnerung an den Böhmerwald“ bezieht.) Ein weiterer Geistesverwandter war Gerard Manley Hopkins.
In einem Brief schrieb Steiner: „Ich selbst habe mein Versuchen und Tasten nicht als Suchen nach etwas Neuem, sondern nach etwas verlorenem Altem empfunden… Das, was Sie als Möglichkeit nannten, existentielle Aussagen und Konkretes nebeneinander auszusprechen, das schien mir eben etwas Uraltes, das es wiederzufinden gilt.“ Als Dichter war Steiner radikal und traditionell zugleich – ein weiterer scheinbarer Widerspruch für jene, die in vorgefertigten Kategorien denken. Da er den individualistischen Genie- und Persönlichkeitskult der Romantik ablehnte, kümmerte es ihn herzlich wenig, ob man ihn für einen großen oder unbedeutenden Dichter hielt. Es war ihm auch gleichgültig, ob man ihn als modern oder altmodisch, wenn nicht aufgrund seiner Diktion und Syntax in bestimmten Kontexten gar als archaisch einstufte.
Eine Zeitlang schrieb er Balladen, die jedoch hier nicht aufgenommen wurden. In den dreißiger und frühen vierziger Jahren schrieb er stanzenartige Gedichte in selbst erfundenen Metren, deren Schemata er den Gedichten als Schlüssel voranstellte, wie es Klopstock im 18. Jahrhundert getan hatte, als er die griechischen Odendichter, die in ihren eigenen Metren geschrieben hatten, imitierte. Obwohl diese Versmaße im Englischen unbeholfen wirken können, habe ich zwei Gedichte dieser Art aufgenommen, nämlich „Ruthenisches Dorf“ und „Wandlung Flußabwärts“. Sie sollen als Beispiel dienen für die Verschmelzungen, die Steiner dem Getrenntsein entgegensetzte. In „Wandlung Flußabwärts“ wird eine unverwechselbare englische Landschaft, die Flußauen um Oxford, mit Hilfe eines deutschen und protestantischen Vorbilds aus dem 18. Jahrhundert in Kadenzen gefeiert, die auf Alkaios und Sappho zurückgehen – und dies von einem Dichter, der sich selbst für einen orientalischen Juden hielt!
Fast jedes Gedicht in meiner kleinen Auswahl ist, was Schauplatz, Diktion und Form angeht, so verschieden von den anderen, daß es eigentlich Anmerkungen erforderlich macht, wie sie etwa H.G. Adler seiner Auswahl beifügte, wenn nicht gar so ausführliche Erläuterungen, mit denen er den Zyklus Eroberungen versah. Im Gegensatz dazu glaube ich, daß ein Gedicht, wenn es sein Wesentliches nicht durch seine eigenen Wörter und Klänge, wie komplex und vieldeutig sie auch sein mögen, vermittelt, überhaupt nicht vermittelt werden kann. Als Übersetzer – und die Übersetzung setzt natürlich andere Wörter, andere Klänge und ist ein Akt der Interpretation – hatte ich in all seinen Gedichten mit Ausnahme der letzten gewisse Schwierigkeiten mit Steiners Adjektiven. „Wer eine längere wichtige und unvergeßliche Mitteilung machen kann, ohne Adjektive zu verwenden,“ schrieb Steiner, „ist gewiß ein großer Künstler – aber kein Iyrischer.“ An diesem Punkt unterscheide ich mich von ihm, da ich den Gebrauch von Adjektiven in meinen eigenen Gedichten auf das äußerste Minimum reduziert habe. Um der Klarheit willen scheinen mir Adjektive in der erzählenden Prosa tatsächlich wesentlich und unverzichtbar zu sein, wohingegen ich in Gedichten Beiwörtern mißtraue, die dekorativ oder überraschend sind, es sei denn das Überraschende gehört ebenso zu den Verben und Nomen wie zu den Adjektiven und Adverbien.
„Was ist mir mein Dichten?“, fragte Steiner im Aphorismenband Feststellungen und Versuche. „Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, was die vier Impulse sind, die mich zum Dichten bringen: der Wechsel der Jahreszeiten, die Leiden der Menschen, die Schönheit der Frauen, Trost und Glück des Gebetes. Ohne eins der vier würde die Erlebniswelt, in der mein Dichten besteht, nicht sein. Ich könnte oder würde dann nicht dichten. Mein Dichten würde aber nicht beeinträchtigt, wenn ich keine Männer sehen, wenn ich Fröhlichkeit und Wunscherfüllung von Menschen nicht mehr feststellen könnte.“ Und weiter: „Das Gedicht, das ich schreibe, ist für mich etwas zwischen Gemälde und Gebet; das Gedicht, das ich lese, entweder etwas zwischen Musik und Beichte oder etwas zwischen Gebot und Erinnerung.“ (Nachdem er in seinen letzten Jahren als Dichter nahezu zum Schweigen gebracht worden war, begann Steiner zu zeichnen und zu malen.)
Über diese beiden Äußerungen muß nachgedacht werden, doch lenken sie nicht von den Vorgängen in den Gedichten ab, wie es irgendeine Erläuterung meinerseits tun würde, zumal sich meine Kenntnis Steiners auf einen Bruchteil seines Werkes beschränkt und viele seiner Quellen – die einzig verläßlichen Verständnishilfen – von der Forschung noch nicht aufgedeckt wurden.
Im Falle des Gedichts „Der Aufseher“, das hier aufgenommen wurde, weil es für Steiners Beschäftigung mit Formen von Sklaverei und Unterdrückung so zentral ist, bin ich mir noch nicht einmal sicher, ob ich kompetent genug war, es zu übersetzen. Die alttestamentarischen Quellen sind wohl offensichtlich; doch gibt es eine mögliche Zweideutigkeit in Steiners Gebrauch des Wortes „Herr“ – im Deutschen sowohl „Gebieter“ als auch „Gott“ −, die ich weder wiedergeben noch auflösen konnte, ohne dem Gedicht eine Interpretation aufzuzwingen, deren Richtigkeit ich mir nicht sicher sein kann. Da Steiner sich aus Zurückhaltung – „Gebet im Garten“ stellt hiervon die einzige Ausnahme dar – das Nennen Gottes in seinen Gedichten untersagte, kann ich nur vermuten, daß der weltliche Oberherr dieses Gedichts, wenn nicht der Aufseher des Gedichttitels, sowohl Gottes Wille repräsentiert als auch ihm dienen könnte. Dies würde mit dem Übereinstimmen, was uns „Gebet im Garten“ über Steiners religiösen Glauben sagt; doch ist diese Übereinstimmung keine adäquate Basis für die Annahme, daß die Zweideutigkeit auch in dem früheren Gedicht vorherrscht.
Ein weiteres Rätsel ist, warum Steiner seinen Philoktetes auf Zypern ansiedelte, während die mir bekannten Fassungen dieser Sage die Insel Lemnos (oder Chryse) zum Ort seines Exils machen. Der Umstand, daß Steiner Zypern besucht hatte, kann nicht der Grund sein, da dessen Topographie und Landschaften im Gedicht nicht auftauchen. Es ist eher anzunehmen, daß Steiner sich mit dem verwundeten Wächter der Pfeile des Herkules identifizierte und seine Anteilnahme am Schicksal der Überlebenden europäischen Juden in die Sage projizierte. „Philoktet auf Zypern“ wurde nämlich zu einer Zeit geschrieben, als das unter britischer Herrschaft stehende Zypern am Abfangen sowie an der Internierung und „Repatriierung“ heimatloser jüdischer Flüchtlinge, die versuchten, nach Israel zu gelangen, beteiligt war. Da Steiner keine polemischen und auch keine unvermittelt aktuellen Gedichte schrieb – selbst sein bitteres Gedicht über das Kriegsende in Europa ist wegen derselben Anteilnahme zutiefst persönlich und zugleich mehr als persönlich −, wäre dies seine Art gewesen, den klassischen Mythos mit dem aktuellen Geschehen zu verknüpfen, Eine verwandte Funktion hat Homers Thersites im Gedicht „Spaziergang“.
Unausgesprochen enthält sein Gedicht „Elefantenfang“ die gleiche Art Allegorie, jedoch mit der für Steiner höchst charakteristischen Pointe, daß gerade die zahmen Elefanten die wilden angreifen und unterwerfen. Die Anspielung auf menschliche Gesellschaften ist unverkennbar. Steiners Überlegungen zu soziologischen und anthropologischen Fragen gingen in all seine späteren Gedichte ein, was auch immer ihr „Gegenstand“ war, der in der Dichtung immer etwas anderes ist als das Wesentliche oder die Thematik. „Lied von der Ruhe und sonst nichts mehr“ gehört zu einer Reihe von Variationen über Volksdichtung, die sich ganz unvermittelt auf seine ethnologische Arbeit beziehen. In einer Anmerkung zu diesen Variationen über Motive der Folklore „wenig bekannter Völker“ aus Nordamerika, Afrika, der Türkei und Baschkirien begründete Steiner, warum er keine Motive der „großen Nationen, die an den europäischen Kriegen teilnahmen,“ ausgewählt hatte, und grenzte seine Variationen von den Imitationen von Volksliedern ab, die im Zeitalter der Romantik, ganz besonders und ad nauseam in den deutschsprachigen Ländern, so weit verbreitet waren. Steiners Variationen brechen mit den Pseudonaivitäten dieser Balladen- und Liedermode des 19. Jahrhunderts. In ihrem Respekt vor dem Ausgangsmaterial sind sie keineswegs gönnerhaft und tragen unverwechselbar Steiners Handschrift, indem sie mit der ihm eigenen Sensibilität – süß und scharf zugleich – verschmolzen sind.
Am Eingang meiner kleinen Auswahl steht ein einziges frühes Gedicht, das er im Alter von 20 Jahren in Palästina geschrieben hatte und das 1950, zwanzig Jahre danach, in einer wie üblich überarbeiteten Fassung von Peter Huchel in dessen Zeitschrift Sinn und Form veröffentlicht wurde. Diese Verzögerung ist kurz, verglichen mit der Zeit, die vergangen ist, seit Franz Steiners Werk geschrieben wurde, ohne je bekannt zu werden. Nur ein Bruchteil davon ging in Druck. Etwa die Hälfte der Gedichte meiner Auswahl wurden nie im Original veröffentlicht. Ich habe dieses frühe Gedicht ausgewählt, nicht weil es tatsächlich in einer Zeitschrift, und zwar in der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik, erschien, sondern weil dessen Stimmung, Thema und Kadenz Steiners reife Gedichte antizipieren; die Gedichte eines bereits „schweigsamen“, wenn auch noch nicht ganz zum Schweigen gebrachten Mannes mit einem tiefen Gefühl der Einsamkeit und einer gleichermaßen tiefen Liebe für die gewöhnlichsten Vorgänge im menschlichen und nichtmenschlichen Leben, für die einfachen Fundamente einer Gemeinschaft, die er an so weit wie möglich von seiner realen Heimat entfernten Orten suchen mußte. Die Wüste und die Hügel dieses Gedichts sollten wieder in Gedichten vorkommen, die gegen Ende seines kurzen Lebens geschrieben wurden; und die Erinnerung war ein ebenso charakteristischer Bestandteil von Steiners Arbeitsweise wie seine Gewohnheit, nach einem Zeitraum von vielen Jahren wieder zu früheren Fassungen zurückzukehren, denn seine „Unruhe“ wurde nicht von einer Uhr oder von einem Kalender beherrscht, und eine große Geduld war die Kehrseite seiner unauslöschlichen Rastlosigkeit. Kurz bevor er in das dichterische Schweigen seiner letzten Jahre verfiel, das hier nur von dem kleinen „Envoi“ oder „Zeichen“ gebrochen wurde, welches er seinen fertigen Gedichten hinzufügte, feierte er das grundlegendste der menschlichen Nahrungsmittel, das Brot, in dem rätselhaften Gedicht „Brot und Geige“. Jahre bevor er vom Tod seiner Eltern erfuhr, auf den er erst zwei Jahre danach in einem Gedicht antworten konnte, rief er sie mit „Schlaftrunken“ zärtlich ins Gedächtnis zurück. Dies Gedicht sieht ebenso wie das vor Kriegsende geschriebene Gedicht „Ein neues Jahr“ den für ihn schlimmstmöglichen Konsequenzen ins Auge, noch bevor dies von den Nachrichten bestätigt worden war.
Einige von Steiners Kritikern vermissen in seinen Gedichten „Spontaneität“, „Leidenschaft“ und „Dynamik“. Dies ist auf sein eigenartiges Verhältnis zur Zeit zurückzuführen, die für ihn eine größere Dimension besaß als für die meisten Leser und Dichter. Andererseits fand ein empfindsamer und erfahrener englischer Leser seines wohl uneingeschränkt leidenschaftlichsten Gedichts, „Gebet im Garten“, dessen Pathos „rhetorisch“, übertrieben und wahrscheinlich peinlich. Das ist eine Frage des Geschmacks oder des Temperaments; doch hat ein Teil der Poesie in King Lear, die geschrieben wurde, bevor die englischen Oberlippen so steif wurden, wie man es heute von ihnen erwartet, ein Pathos, das für die Maßstäbe des gesunden Menschenverstandes nicht weniger scharf, schneidend und übertrieben ist. Wie schon erwähnt, war sich Steiner bewußt, daß ihn dieses Gedicht wie kein anderes von ihm seiner gewohnten Zurückhaltung beraubt und den blanken Nerv seiner Pein und seines Glaubens bloßgelegt hatte. Diese Selbstentblößung war ein weiteres Opfer, das er als Überlebender seinen Leuten und seinem Volk zu schulden glaubte. Ein Tabu – das zu seinen Lebzeiten gegen das Schreiben von Gedichten nach Auschwitz, geschweige denn über die Vernichtungen dort und anderswo, erklärt wurde – ist in diesem Gedicht gebrochen worden, Erneut enthalte ich mich einer Interpretation, die eines Theologen bedürfte, der ich nicht bin. Für mich bleibt es eine der wenigen gültigen und angemessenen Antworten in der Dichtung auf Ereignisse, die buchstäblich unaussprechlich sind und jenseits von gesundem Menschenverstand, Anstand und realistischer Darstellung stehen.
Ich biete meine verspätete Auswahl und Übersetzung ohne bestimmte Hoffnungen und Erwartungen an. Wenn die Zeit für Steiners Gedichte 1954 oder 1964 schon nicht reif war, dann ist sie es vielleicht 1992 oder 1993 noch viel weniger, zumal sich nicht nur die Kultur, zu der Steiner unfreiwillig gehörte, in einem Zustand rapiden Zusammenbruchs befindet, sondern auch die Bildung, die den Zugang zu ihr ermöglicht. Aber Dichtung wie die seine hatte schon immer ihre Daseinsberechtigung außerhalb des normalen Kreislaufs von Angebot und Nachfrage. Das war sein Schicksal zu seinen Lebzeiten. Er ertrug es mit Geduld, Humor und illusionsloser Aufrichtigkeit, bis er sich ins Schweigen zurückzog wohlwissend, daß dies der einzige würdige Abgang war, der ihm noch verblieb. Sein Humor überlebt in einem Stück Nonsense-Dichtung, das er in seinem letzten Lebensjahr für einen Freund schrieb, ungeachtet dessen, was er als Scheitern empfand, das in der kurzen, ihm noch verbleibenden Zeit durch nichts mehr wettzumachen war:

FÜR L.

Bettdecken, sagte er, aus brauner seide,
Die ich nicht leide,
Sowie reime auf -rum
Bringen mich um,

Bellende katzen hingegen
Erschrecken mich nicht.
Ich mache ein leises gesicht
Und sage: meinetwegen…

Es ist jetzt ziemlich gleichgültig, ob oder wann seine lange Geduld belohnt wird. Er hat die Arbeit getan, die er tun mußte; und ich mußte an diese Arbeit erinnern, wenn auch nur mit einer kleinen Kostprobe, die aber ein verspäteter Wendepunkt in seinen posthumen Belangen werden könnte oder eine weitere Bestätigung seiner unentrinnbaren Heimatlosigkeit, ein Anfang oder ein Ende.

Michael Hamburger, Einleitung zu der Steiner gewidmeten Sondernummer der Zeitschrift Modern Poetry in Translation, New Series, no 2. Herbst 1992. Übersetzt von Walter Eckel.

 

Fakten und Vermutungen zum Autor + Kalliope

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

0:00
0:00