EMILY DICKINSON: KUNST ALS SAKRAMENT
1855 feiert Walt Whitman – seiner Unsterblichkeit im Einssein mit dem Kosmos gewiß – sich selbst in seinem später als „Song of Myself“ betitelten Eingangsgedicht der Leaves of Grass. Nur drei Jahre danach unternimmt es – von vereinzelten früheren Versuchen abgesehen – Emily Dickinson, zaghaft ihrem Erleben von Unsterblichkeit in Versen Gestalt zu verleihen. Sich von allen Konventionen befreiend, lädt Whitman in freien Versen den Leser ein, an seinem Erleben teilzuhaben, sich mit ihm als Teil des Kosmos der Unsterblichkeit zu vergewissern. In fast unbeholfener Weise bedient Emily Dickinson sich der einfachsten dichterischen Form des ihr vertrauten protestantischen Kirchenliedes oder der Ballade, um sich des Erlebens, das ihr eine Ahnung der Unsterblichkeit schenkte, zu vergewissern und es sprachlich zu gestalten. Während Whitman mit prophetischer Pose seinen Leser überzeugen will, begnügt die Dichterin Neuenglands sich damit, die nächsten Freunde an dem teilhaben zu lassen, was sie durch die dichterische Gestaltung ihres persönlichen Erlebens gewonnen hatte. Es dauerte lange, bis die Herausforderung eines Walt Whitman als Teil einer Tradition amerikanischen Dichtens und Denkens Anerkennung fand. Es dauerte noch länger, bis das Werk Emily Dickinsons überhaupt seinen Weg an die Öffentlichkeit fand. Heute zählen beide – in all ihrer Verschiedenheit – zu den bedeutenden Dichtern der Neuen Welt. Im Einzelnen durchaus aus der besonderen Geschichte dieser Neuen Welt zu verstehen, dokumentiert Emily Dickinsons Werk eher deren Vielgestaltigkeit als deren auf charakteristische Merkmaler zu reduzierende Eigenheit. Elf Jahre nach Walt Whitman geboren, nur drei Jahre nach ihm zu dichten beginnend, kann Emily Dickinson nicht ohne weiteres als Repräsentantin einer nächsten Stufe in der Entwicklung amerikanischer Verskunst nach Walt Whitman, dessen Werk sie kaum kannte, betrachtet werden, sondern eher als eine Alternative, als andere Möglichkeit der Weiterentfaltung übernommenen Geistesgutes.
In überzeugender Weise haben u.a. George F. Whicher, Thomas H. Johnson und Allen Tate1 die Bedingtheit des Schaffens von Emily Dickinson durch die puritanische Tradition des Connecticut Valleys nachgewiesen und hat Conrad Aiken ihre Dichtung als Vorwegnahme von Vorstellungsweisen, die erst in unserem Jahrhundert Anerkennung fanden, dargestellt.2 Fraglich bleiben solche Einordnungen, wenn ein von dem Dickinsonschen so verschiedenes Werk wie dasjenige Whitmans in die gleiche Tradition eingereiht wird,3 oder aber der künstlerische Wert ihres eigenen Werkes – bei aller Bedeutung für die geschichtliche Entwicklung – in Frage gestellt wird.4 Seit dem Erscheinen der kritischen Ausgabe der Gedichte und der Briefe Emily Dickinsons5 hat sich die Forschung um alle erdenklichen Aspekte ihres Schaffens bemüht.6 Die Bestimmung des künstlerischen Wertes der Gedichte und die diesen berücksichtigende Einordnung in die Entwicklung amerikanischer Verskunst bleiben jedoch noch so lange offen, als die Kriterien zu einer solchen Bestimmung und zu einer solchen Einordnung der Befragung offen bleiben.
Während Poe, Emerson oder Whitman sich selbst mit der Tradition auseinandersetzten und sich von ihr abgrenzten, fehlen uns derartige Stellungnahmen von Emily Dickinson. Ihr Bezug zur Tradition kann – mit Ausnahme von gelegentlichen Äußerungen in ihren Briefen – nur indirekt durch ihr eigenes Schaffen erschlossen werden. Um so eher liegt es nahe, die Eigenart ihres Schaffens nicht aus ihrem Bezug zur Tradition, sondern durch die aus der Analyse des Werkes gewonnene Darstellung ihrer künstlerischen Leistung zu ermitteln. Ohne auf die durch die bisherige Forschung gewonnene Erkenntnis zu verzichten, soll unsere Einsicht in die Eigenart der Dickinsonschen Dichtung in diesem Sinne aus einer Analyse einer repräsentativen Auswahl von Gedichten gewonnen werden.
Grundelemente ihres Dichtens
Keinem Leser kann die Analyse des 1.774 Gedichte umfassenden Gesamtwerkes zugumutet werden. Da sie aber selbst bei einer glaubhaften Begründung für die Auswahl einer begrenzten Anzahl von Gedichten erforderlich wäre, bleibt dem Interpreten nichts anderes übrig, als dem Leser zu versichern, daß er diese Voraussetzung – mit Hilfe der bisherigen Forschung – für sich erfüllt hat. Problematischer als die Auswahl der Gedichte ist ihre Gruppierung bzw. ihre Anordnung in einer Reihenfolge, durch die das Verständnis des Werkes sich schrittweise erweitern und vertiefen läßt. Die folgende Analyse begeht den für die Dickinson-Forschung bereits konventionell gewordenen Weg, wenn sie sich an markanten Themenkreisen orientiert und vorwegnehmend einige Grundelemente der sprachlichen Gestaltung zu erhellen versucht; sie ist sich jedoch in der Durchführung der Problematik solchen Vorgehens bewußt und erwartet vom Leser, daß er bereit ist, die thematischen und formalen Querbezüge in den einzelnen Abschnitten nicht als Abschweifungen zu verstehen.7
Zur Darstellung einiger Grundelemente von Emily Dickinsons Schaffen sei ein Gedicht gewählt, das zwar bereits einige wichtige Fragen zum Verständnis der Aussage aufwirft, dessen thematischer Anspruch jedoch nicht so weit ausgreift, daß es nicht erlaubt wäre, das Augenmerk auf seine formale Gestaltung zu konzentrieren. Es handelt sich um das wahrscheinlich 1862 – also auf dem Höhepunkt ihres Schaffens – entstandene Gedicht „I like to see it lap the Miles –“ (S. 585).
I like to hear/see it lap the Miles –
And lick the Valleys up –
And stop to feed itself at Tanks –
And then – prodigious step
Around a Pile of Mountains –
And supercilious peer
In Shanties – by the sides of Roads –
And then a Quarry pare
To fit its sides
And crawl between
Complaining all the while
In horrid – hooting stanza –
Then chase itself down Hill –
And neigh like Boanerges –
Then – prompter than a Star
Stop – docile and omnipotent
At its own stable door –
Es dürfte nicht schwer fallen, das „it“ des Gedichtes als Eisenbahnzug zu erkennen. Die bildhafte Umschreibung des Gegenstandes hat nicht den verhüllenden Charakter, der das Gedicht zu einem Rätsel machen würde. Mit Recht verweist Galinsky auf die scherzhaften umgangssprachlichen Umschreibungen der Lokomotive als „the iron horse“ oder als „Dampfroß“,8 die zur Zeit der Entstehung des Gedichtes, als der Gegenstand noch etwas Ungewöhnliches und Neues darstellte, dem Leser noch vertrauter gewesen sein dürften als heute und die eine unmittelbare Identifizierung möglich machen. Die ersten Herausgeber des Gedichtes verliehen ihm zu recht den Titel „The Railway Train“.9 Zwischen den Einzelbildern und dem durch sie eingeführten Gegenstand vermittelt das Bild des Pferdes. In der Art und Weise der metaphorischen Vermittlung liegt die besondere und charakteristische Leistung dieses Gedichtes, wie der Dichtung Emily Dickinsons überhaupt.
Die Enthüllung des Gegenstandes vollzieht sich schrittweise: Zunächst erscheint das „es“ als ein seltsames Tier; allmählich wird dieses als Pferd erkennbar, und erst in ihrer Gesamtheit lassen uns die wunderlichen Eigenschaften des Pferdes es als Bild für den Zug erkennen. Das gierige Verschlingen der Meilen, das Auflecken der Täler und – im minderen Maße – das Anhalten, um aus den Tanks das Wasser zu schlürfen, führt den Gegenstand in einer hyperbolisch ausgemalten Tätigkeit ein, die – gesteuert durch das Wohlgefallen, das der Sprecher des Gedichtes an ihm in der ersten Hälfte der ersten Zeile zum Ausdruck bringt – seine Sonderlichkeit in übermütig-komischer Weise aufleuchten läßt.
Das Bild der ersten beiden Zeilen wird auf der visuellen wie auf der auditiven Ebene wirksam. Neben der schnellen Bewegung wird das Geräusch des Aufleckens evoziert. Sich wahrscheinlich dieser Tatsache bewußt, bietet die Dichterin in ihrem Manuskript „hear it“ als Alternative zu „see it“. Zu „hear it“ passen auch die Bilder in den Zeilen 11, 12 und 14. Andere Bilder lassen sich besser dem „see it“ zuordnen. Die Bedeutungsweite wird durch die Alternative bereichert. Das Mitlesen der Alternative vermittelt hier – wie anderswo in den Gedichten Emily Dickinsons – einen zusätzlichen Reiz.
Sprachsymbolisch wird das im Bild aufgefangene auditive Element durch die Lautung und Rhythmisierung der Zeilen realisiert. Fünfmal erscheint in den ersten beiden Zeilen /l/, dreimal in alliterierender Stellung, in zwei Paaren in syntaktisch paralleler Stellung („lap“ / „lick“; „Miles“ /„Valleys“). Unterstützung findet dieses lautmalende Element durch die Kombination mit /k/ („like“ / „lick“) und /p/ („lap“), wobei der letztere Laut allein eine Bindung über die Zeilen hinaus herstellt: 1: „lap“, 2: „up“, 3: „stop“, 4: „prodigious step“, 5: „Pile“, 6: „supercilious peer“, 8: „pare“. Rhythmisch wird die Schnelligkeit des Vorganges durch die Parallelisierung der von „I like to see it“ abhängigen kurzen Satzglieder wirksam, wobei die Ergänzung um eine Infinitivkonstruktion in der dritten Zeile das Anhalten nach dem Bewegungsvorgang sinnfällig werden läßt. Berücksichtigen wir dazu noch, daß in der zweiten Zeile das Bild der ersten eigentlich nur wiederholt wird, dabei aber die Bildhaftigkeit teilweise, sie interpretierend, mit der Ersetzung von „Miles“ durch „Valleys“ aufhebt, und die dritte Zeile durch „Tanks“ – das allgemein einen Wasserbehälter bedeutet, aber speziell für den Wassertank zur Versorgung von Lokomotiven benutzt wird – einen ersten direkten Hinweis auf den im Bild gemeinten Gegenstand gibt, so zeigt sich bereits in diesen drei einleitenden Zeilen des Gedichtes, wie Emily Dickinson mit den einfachsten sprachlichen Mitteln in der Art ihrer Verbildlichung einen Teil ihrer Welt in seiner Eigentümlichkeit Leben gewinnen läßt. Virtuos – und doch auf scheinbar einfache Weise – nutzt sie einmal die verschiedenen Bedeutungsmöglichkeiten der Sprache, zum anderen die verschiedenen Ebenen der Bildhaftigkeit sowie die Möglichkeiten, sie in der klanglichen und rhythmischen Form der Sprache selbst aufleuchten zu lassen.
Als Versform bedient die Dichterin sich des ihr vertrauten „common meter“, einer verbreiteten Form des protestantischen Kirchenliedes. Diese mit der Ballade identische Form zeichnet sich u.a. aus durch die starke Akzentuierung des Abschlusses der zweiten und vierten Zeile, sowie die dadurch mitbedingte Singbarkeit. Doch greift Emily Dickinson wohl hier – wie in einem Großteil ihrer anderen Gedichte – zu dieser Form, weil deren Einfachheit ihr in der Variation die größtmögliche Freiheit zur spielerischen Anpassung von Laut und Rhythmus an die jeweilige Aussage gewährt.
Die erste Strophe von „I like to see it lap the Miles“ erfüllt das Schema des „common meter“ in bezug auf die Folge der Versfüße in idealer Weise: 4-3-4-3. Einige Freiheiten erlaubt sich die Dichterin in bezug auf den Reim. Wie die Folge von „up“ / „step“ unvollkommener Reim bleibt, sind auch in den entsprechenden Folgen in den übrigen Strophen nur die auslautenden Konsonanten identisch. Innerhalb der Strophe bilden die ersten drei Zeilen nicht nur durch die oben behandelte Zusammengehörigkeit der Bilder eine Einheit, sondern auch durch die Form des Verses. Durch die Zeichensetzung – und wahrscheinlich auch durch die Großschreibung – wird der Abschlußcharakter des Zeilenendes besonders betont,10 die Parallelität der Aussagen in den drei Zeilen dadurch unterstrichen, aber auch durch die Verwendung nur einsilbiger Worte – mit der Ausnahme von „Valleys“ – das schon durch die Lautwahl gegebene Sinnfälligwerden der Bewegung unterstützt.
Die vierte Zeile fügt sich in die Folge durch die Aufnahme des anaphorischen Auftaktes sowie durch die bereits erwähnten Bindungen des unvollkommenen Reimes und der lautlichen Analogie von „stop“ / „step“. Doch entzieht sie sich auf mehrfache Weise dem vorgegebenen Schema. Gegen dieses verstößt sie durch das Enjambement, das sie mit der ersten Zeile der nächsten Strophe verbindet, und durch die mit dem Zeichen gesetzte Zäsur nach dem ersten Jambus. Sie leitet ferner durch den Gebrauch des mehrsilbigen Wortes – das seine direkte Entsprechung in der sechsten Zeile findet – zu einem anderen, weniger bewegten Rhythmus über.
Die zweite Bildgruppe des Gedichtes umfaßt die Zeilen vier bis sieben. Die Inkongruenz von Bildgruppe und „Zeilengruppe“ (Strophe) wird von der Dichterin kunstvoll ausgenutzt, bzw. wird herbeigeführt, um der Aussage des Bildes eine wirkungsvolle, sie unterstützende sprachliche Form zu verleihen. Die durch Zeilen- und Strophenende nahegelegte Pause zeichnet das Warten des Beobachters auf das Wiederauftauchen des hinter den Bergen verschwundenen Zuges nach. Die Erwartung, die sich vielleicht nach dem „prodigious step“ einstellt, wird dabei auf einfachste und – da sie enttäuschende – humorvolle Weise aufgelöst. Ganz natürlich ergibt sich die Reduzierung der fünften Zeile auf drei Jamben durch das trotz der kürzeren Pause wirksame Enjambement. Eine ähnliche Wirkung wird angezeigt durch die mit dem Zeichen hervorgehobene Zäsur in der siebten Zeile: Die hochmütige Geste wird dadurch erlebbar gemacht, daß durch die mit der starken Zäsur isolierte zweite Zeilenhälfte in Parenthese gesetzt wird, als sei die in ihr vollzogene Lokalisierung des beobachteten Objektes zur Charakterisierung ihrer vermeintlichen Unbedeutendheit gedacht.
In ähnlicher Weise wie die bisher besprochenen dienen fast alle weiteren Abweichungen von dem Versschema dazu, die in der Aussage vergegenwärtigte Vorstellung auch in der formalen Gestaltung der Sprache sinnfällig werden zu lassen. Dazu gehört das Enjambement von der zweiten zur dritten Strophe mit der Aufteilung der nach dem Schema erforderlichen Einheit der Zeilen sieben und acht, um die neue Bildeinheit durch Zeilenanfang zu signalisieren. Dazu gehören ferner die variierende Gestaltung des Rhythmus und die Verteilung der Zäsuren, die die dargestellte Geschwindigkeit und das Anhalten des Zuges in der Sprache nachzeichnen.
Auf die vier Strophen des Gedichtes verteilen sich insgesamt fünf Bildgruppen, von denen die ersten vier jeweils ein Bildpaar umfassen. Nachdem die erste Bildgruppe die Bewegung des Zuges im Tal erfaßte, schildert die zweite das Umfahren einer Berggruppe und geht dabei von den Bildern der tierischen Nahrungsaufnahme über zu Bildern menschlichen Verhaltens. Auffallend sind dabei die diese Anthropomorphisierung tragenden mehrsilbigen Wörter „prodigious“ und „supercilious“. Sie ziehen die Aufmerksamkeit des Lesers bzw. Hörers neben ihrer Mehrsilbigkeit durch ihre Latinität in einer überwiegend dem germanischen Wortschatz entnommenen sprachlichen Umgebung und durch ihre Form auf sich. Der Gebrauch der Adjektive in adverbialer Funktion verleiht ihnen eine Selbständigkeit, die sie auch als direkte attributive Bestimmung des „it“ interpretieren läßt und ihnen dadurch zugleich größeres Gewicht an Bedeutung verleiht.11 Da – wie die Aussage des ganzen Gedichtes – die auch in dieser Bildgruppe vorgenommene Charakterisierung syntaktisch dem einleitenden „I like to see it“ untergeordnet bleibt, erhält die darin zum Ausdruck gebrachte Überheblichkeit einen humorvoll ironischen Akzent; das im Bild beschriebene Verhalten wird belächelt bzw. bereitet dem Betrachter Vergnügen.
Im Kontrast zu dem hochmütigen Umfahren der Berge wird die nächste Phase in der Fortbewegung des Zuges als mühsames Erklimmen einer Steigung umschrieben. Im ersten Teil des Bildpaares wird die von Menschen geleistete Arbeit des Streckenbaues auf das Durchfahren des künstlichen Einschnittes in die Erde übertragen, im zweiten Teil das mühsame Fauchen des Zuges sowohl in der metaphorischen Umschreibung als auch in der sprachlichen Realisierung durch Rhythmus und Lautwahl zur „horrid – hooting stanza“.
Auge und Ohr werden auch in dem nächsten Bildpaar angesprochen, das – nachdem die bisherigen drei, vier und fünf Zeilen in Anspruch nahmen – auf zwei Zeilen beschränkt bleibt und das durch die schon erwähnte verkürzte Einleitung sowie durch die rhythmische Gestaltung – wozu auch die Beschränkung auf drei Akzente in der ersten Zeile der letzten Strophe gehört – der wachsenden Geschwindigkeit des Zuges bei der Talfahrt sinnfällig Ausdruck verleiht. Genaue Beobachtung des Vorganges zeigt das Bild in der dreizehnten Zeile: Nachdem der Zug während der Bergfahrt seine größte Ausdehnung durch die größte Streckung der Kupplungen zwischen den Wagen gewonnen hat, laufen in der Talfahrt die Wagen zum Pufferkontakt auf die Lokomotive auf, was als Eindruck auf den Beobachter im Bild des Sich-selber-Jagens treffend wiedergegeben ist.12 In dem „neigh“ der vierzehnten Zeile wird das bildhaft als Tier umschriebene Objekt der Beobachtung mit der Vorstellung des Pferdes in Verbindung gebracht, erhält aber durch den Vergleich mit Boanerges eine Erweiterung in die mythologische Dimension. Im Neuen Testament verleiht Christus den Gebrüdern Jakobus und Johannes den Beinamen Boanerges, daselbst erläutert als „Söhne des Donners“.13
Die Bildhaftigkeit der vierzehnten Zeile wird in den abschließenden Versen wieder aufgenommen und erweitert. Die schon im mythologischen Bilde der Söhne des Donners implizierte kosmische Komponente wird in dem Vergleich mit der Pünktlichkeit des Sternes explizit gemacht.14 Gewissermaßen im Kontrast dazu steht das Anhalten des Zuges im Bild des Haltens vor der Stalltür. Die Pole des Kontrastes werden dabei in der Wortpaarung von „docile and omnipotent“ verdeutlicht und vertieft.
Bevor nach der Bedeutung der in ihrer formalen Entfaltung soweit verfolgten Aussage gefragt werden kann, bedarf es einer Vergegenwärtigung dessen, was die Eigenart der Gestaltung in diesen Zeilen ausmacht. Ausgangspunkt ist für Emily Dickinson nicht die Aussage, die sich auf organische Weise ihre eigene Form schafft oder der eine ihr gemäße Form zukommt, wie dies im 20. Jahrhundert bei den Imagisten und einem großen Teil anderer Dichter der Fall sein sollte, sondern eine der einfachsten traditionellen Versformen. Doch mit dem, was ihre eigene Zeit noch als Verstoß gegen die Regeln, die für diese Form gelten, betrachtete, leistet sie einen bedeutsamen Beitrag auf dem Wege von der traditionellen zur modernen Dichtung. Sie macht sich die Abweichungen von der Regel zunutze, um in der Wahl der Worte, in der Syntax, in der Lautung, in dem Rhythmus am Sprachkörper etwas der Aussage Analoges erlebbar zu machen. Die beschriebene Geschwindigkeit des Zuges entspricht dem schnellen Rhythmus, sein Anhalten wird zum Anhalten des Sprachflusses, das Umfahren der Berge wird zu einem übergreifen in eine andere Versgruppe, das Geräusch des bergauf stampfenden Zuges zur horrid-hooting-stanza, nicht nur im Bild, sondern in der Strophe selbst. Die Form, die auf diese Weise zwischen dem traditionellen Vers und dem Freivers entsteht, kann als kunstvoll betrachtet werden, bedeutet aber auch eine gewisse Künstlichkeit, insofern die dadurch erreichte Wirkung nicht primär von der Form oder der Aussage her bestimmt wird, sondern durch das Spiel mit einer von der Aussage zunächst unabhängigen Form zustande kommt. Der Spielcharakter ist allerdings der Aussage insofern wieder angemessen, als das, was beschrieben wird, dem Sprecher im Gedicht Vergnügen bereitet, und die Bewegungen des Zuges von ihm als eine Art von Spiel betrachtet werden.
Entsprechendes wie für Syntax, Wortwahl, Laut und Rhythmus gilt für die Bilder, deren sich die Dichterin bedient. Sie sind treffend auf die entsprechenden Phasen des beschriebenen Vorganges bezogen. In ihrer Auswahl waltet jedoch eine gewisse Willkürlichkeit, die allerdings in der Laune ihre Begründung findet, die in der ersten Zeile durch das „I like to see it“ zum Ausdruck kommt. In Whitmans „To a Locomotive in Winter“, einem Gedicht, das sich wie dasjenige Emily Dickinsons diesem Symbol des technischen Fortschrittes zuwendet und mit ihm gerne verglichen wird,15 bleiben die Bilder an der unmittelbaren Erscheinungsform orientiert und erhalten ihre besondere Ausrichtung durch die Aufforderung an die Lokomotive, sich mit dem Singen des Dichters zu verbinden: „Roll through my chant with all thy lawless beauty“. Die Lokomotive wird dabei zum „emblem of motion and power“. Auch bei Emily Dickinson werden die Geräusche bildhaft erfaßt und mehr noch als bei Whitman im Gedicht selbst realisiert. Aber weder die Bilder für die Geräusche noch für die sonstigen Erscheinungsaspekte des fahrenden Zuges sind darauf ausgerichtet, dem Gegenstand der Aussage eine Bedeutung zu verleihen, die der Kraft und der Bewegung in Whitmans Gedicht entsprächen. Die Bilder bewegen sich auf sehr unterschiedlichen Ebenen. Tierische wie menschliche Eigenschaften werden in den vergleichenden Bildern angesprochen; aber sie implizieren mehr als das, was die Sprecherin selbst zu sehen vermag, wenn dem Zug Hochmütigkeit zugesprochen wird, da er auf seinem Gleiskörper an den Hütten vorbeifährt, oder wenn sein Durchfahren des Erdeinschnittes als das Ausheben der Erde selbst erscheint. Nicht wie bei Whitman wird das Mächtige, Bestaunenswürdige im Bild erfaßt, sondern das Ungewöhnliche als etwas Kurioses, das dem Betrachter in seiner Kuriosität Vergnügen bereitet. Es dominiert das nicht gerade naheliegende Bild, wodurch die Kritiker immer wieder veranlaßt wurden, die Dichterin mit den metaphysical poets zu vergleichen.16 Das Bild verstärkt nicht einen Eindruck, der jedem zugänglich wäre, sondern entdeckt neue Aspekte. James E. Miller umschreibt diese Art der Verbildlichung als „startling juxtapositions in language“, die eine „intensified awareness“ hervorrufen, „that penetrates beneath the commonplace: the language jars us into seeing deeply where the eyes merely glanced before.“17 Es bleibt die Frage nach der tieferen Einsicht, die nach dieser Äußerung Millers gewonnen wird. Wird eine solche jeweils im einzelnen Bild oder in der Gesamtheit der Bilder gewonnen? Der Einwand, den Richard Chase an Hand von „I like to see it lap the Miles“ erhebt, verdient in diesem Zusammenhang Beachtung. „The phrase ,punctual as a star‘ is successful on every possible account, but that is because it entirely escapes the tone of the rest of the poem, and has in fact nothing to do with the poem at all. The trouble is that the grace, the quickness, the fancy, or even the metaphysical wit which the poem is supposed to convey cannot be achieved by straining after them, as this poem was. These verses were written by a woman who had a large capccity for play and who played, in fact, almost on principle, but who had also a final incapacity which usually, though not always, made inspired poetic play impossible for her.“18 Chase macht nicht deutlich, warum gerade das Bild des pünktlichen Sternes erfolgreich ist. Wesentlich in seiner Aussage jedoch ist, daß er in dein Spiel mit der Ungewöhnlichkeit der Bilder ein zu künstliches Bemühen sieht, das keiner einheitlichen Konzeption der Einbildungskraft entwächst. Doch – so ließe sich fragen – hat dieses Spielen mit bloßen Möglichkeiten, das Chase veranlaßt, Emily Dickinsons Dichtung als Rokoko zu charakterisieren, nicht seinen eigenen Sinn? Gerade in „I like to see it lap the Miles“ läßt sich dieser Sinn nicht unschwer finden, wenn das Vergnügen, mit dem die Sprecherin den fahrenden Zug beobachtet, parallel gesehen wird zu der Vergnügen bereitenden ungewöhnlichen Verbildlichung der Einzelphasen des Vorganges. Nicht die tiefere Bedeutung, sondern die Art und Weise, dem Beobachteten eine Bedeutung abzugewinnen, wird zum Gegenstand des Gedichtes. Das heißt, daß, wie bei der sprachlichen Formgebung, auch in der Verbildlichung eine unmittelbare Realisierung der Aussage erfolgt. Das Finden des Bildes wird zum Stiften von Bedeutung.
Dennoch leiten die Bilder den Leser über das hinaus, was ihren reinen Spielcharakter ausmacht. Der Vergleich der Lokomotive mit Boanerges öffnet eine mythologische, der mit dem Stern eine kosmische Dimension, die im Zusammenhang mit dem offenbar als Gegensatz zu verstehenden Wortpaar „docile and omnipotent“ Assoziationen wirksam werden lassen, die über den Spielcharakter der vorausgehenden Verbildlichung hinausgehen. „Das Paradoxon“, das Hans Galinsky in dem Wortpaar zum Ausdruck kommen sieht, zehrt nach seiner Ansicht „von einer unheimlichen Ahnung: die Maschine ist ,gelehrig‘, fügt sich ihrem menschlichen Erbauer. Aber schlummert nicht in ihr eine ,Allmacht‘, die den Menschen überwältigen könnte?“19 Eine Ahnung des Unheimlichen sieht Galinsky auch in der Verbildlichung der Bergfahrt des Zuges in den Zeilen elf und zwölf. Das Gedicht enthält für ihn demnach eine „Mischung von Komik und Unheimlichkeit“; diese Mischung bewirkt eine Spannung, die sich in den Disharmonien der sprachlichen Gestaltung für ihn widerspiegelt.20 Wieder wäre hier auf das einleitende „I like to see it“ zu verweisen, das die Interpretation des Bildes als Spannung zwischen Komik und Unheimlichem nicht duldet; dennoch kann – wenn sich auch die Struktur des Gedichtes nicht daraus ableiten läßt – die in der Assoziationskraft der Bilder liegende Möglichkeit des Unheimlichen nicht geleugnet werden. Eine mögliche Antwort liegt in der bisher umrissenen Gestaltungsweise der Dichterin, daß sie nämlich nicht ein Gedicht über die in der Technik liegende Ambivalenz schreibt, sondern deren Problematik erst in der spielerischen Verbildlichung des diese Technik verkörpernden Gegenstandes aufleuchtet, so daß Problemfindung identisch ist mit Formfindung. Durch den Spielcharakter des Formfindens entsteht auch eine Distanz gegenüber der Problemfindung. Dadurch, daß die Problematik erst im Spiel mit der Form Gestalt gewinnt, wird sie gewissermaßen „entschärft“ bzw. künstlerisch bewältigt. Die „metaphysial poetry“ Emily Dickinsons wird auf diese Weise bestimmt durch „metaphysical mirth“,21 was natürlich auch ein Ausweichen des metaphysischen Fragens in das ästhetische Spiel bedeuten kann. Gelungen ist das Spiel insofern, als seine Form das, was in ihr Gestalt gewinnt, bereits umschließt.
Die beiden in diesem Buche vereinten Studien erschienen erstmalig in den Bänden 17 und 18 des Literaturwissenschaftlichen Jahrbuches. Sie stellen die ersten Beiträge auf dem Gebiete der englisch-amerikanischen Philologie in dem Jahrbuch dar und sollen hiermit einer breiteren, anglistisch-amerikanisch interessierten Leserschaft zugänglich gemacht werden. Für Nachdrucke von Studien aus den kommenden Bänden entfällt der hier geltend gemachte Grund, da das Gebiet in seiner vollen Breite im Jahrbuch vertreten sein wird.
Die Zusammenfassung der beiden Studien rechtfertigt sich aber vor allem von der Sache her. Emily Dickinson steht nach Ralph Waldo Emerson, Edgar Allan Poe und Walt Whitman am Ende der bedeutenden amerikanischen Verskunst des 19. Jahrhunderts und weist in vielerlei Hinsicht auf die moderne Dichtung vor. Mit Gedichten Hilda Doolittles führt Ezra Pound 1913 eine Dichtweise ein, die er als Imagismus bezeichnete und die zu dem entscheidenden Anstoß für die Erneuerung der anglo-amerikanischen Verskunst in unserem Jahrhundert werden sollte. Die beiden Dichterinnen bilden damit eine Brücke zwischen den beiden Jahrhunderten.
Emily Dickinson und Hilda Doolittle dürfen darüber hinaus aber auch als die hervorragendsten Persönlichkeiten in einer Reihe von Dichterinnen betrachtet werden, die die Geschichte der amerikanischen Verskunst in besonderer Weise markieren. Zu ihnen gehört Anne Bradstreet, deren Sammlung von Gedichten 1650 unter dem bezeichnenden Titel The Tenth Muse. Lately Sprung up in America den Anfang für die auf dem Boden der Neuen Welt entstandenen Verskunst setzte.
Aus der Feder von Phillis Wheatley, einer als Kind aus dem Senegal entführten Sklavin, stammt der erste Band afro-amerikanischer Gedichte, ihre Poems on Various Subjects, Religions and Moral von 1713. Neben Hilda Doolittle vermochte Marianne Moore die Verskunst ihrer Zeit durch eine eigene Note zu bereichern. Der Neuansatz in den sechziger Jahren schließlich wird mitgetragen von Denise Levertov, die als geborene Britin ihre neue Heimat in den Vereinigten Staaten fand.
Erst im Laufe unseres Jahrhunderts haben sich Frauen auch in zunehmendem Maße kritisch zu ihrer Dichtung und zu Dichtung im allgemeinen geäußert. Diesem Umstand ist es vielleicht mit zuzuschreiben, daß ihrem dichterischen Werk zuvor nicht in dem gleichen Maße wie dem ihrer männlichen Zeitgenossen die gebührende Aufmerksamkeit seitens der Kritik zugewandt wurde. In fast unverständlicher Weise unterwirft sich Emily Dickinson dem Urteil eines zweitrangigen Literaten und traut sich nicht, ihre Gedichte zu veröffentlichen. Erst in unserem Jahrhundert wird der Rang ihres Werkes erkannt. Das Schaffen Hilda Doolittles wird nicht wie das ihrer Zeitgenossen Ezra Pound oder T.S. Eliot von einem intensiven kritischen Bemühen begleitet und droht in der Zeit, da die Dichtung der anderen im Lichte ihrer Kritik ständig neu interpretiert wird, in Vergessenheit zu geraten.
Das Fehlen der kritischen Reflektion bei Emily Dickinson wie bei Hilda Doolittle wird ausgeglichen durch ihre Fähigkeit, eigenes Erleben durch Verwandlung geschauter Wirklichkeit in Wort und Bild der Dichtung transparent werden zu lassen. Die außergewöhnliche Intensität ihres Fühlens findet ihre Entsprechung im außergewöhnlichen Bild und in der Kühnheit ihrer Sprache. Sie erschließen damit Bereiche der Wirklichkeit und von Wirklichkeitserleben, die uns in der Dichtung ihrer männlichen Zeitgenossen weitgehend vorenthalten bleiben. Die durch sie als Dichterinnen der Verskunst erschlossene Bereicherung aufzuzeigen, ist das vornehmliche Anliegen der beiden in diesem Bande zusammengeführten Studien.
Franz H. Link, Vorwort
– Emily Dickinson: Kunst als Sakrament
Grundelemente ihres Dichtens
Natur
Liebe
Tod
– Bild und Mythos in der Dichtung Hilda Doolittles
Renate Stendhal: „Schreiben oder Sterben“ – H. D.
Ute Woltron: Der Garten der Frau in Weiß
Kurt Oppens: Emily Dickinson: Überlieferung und Prophetie, Merkur, Heft 143, Januar 1960
Kerstin Fritzsche: Die große Liebe lebte nebenan
Kai Grehn: Mögen sie Emily Dickinson?
Werner von Koppenfels: Ruhm ist unstete Speise auf schwankendem Geschirr
Emily Dickinson: The Poet In Her Bedroom.
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