VERGESSENHEIT
(nach Petrarca)
Vergessenheit ist meines Schiffes Fracht.
Durch rauhe Flut in Winter-Mitternacht
Gleitet der Kiel an Sturz und Strudel fort.
Es sitzt mein Herr, mein Feind, am Steuerbord.
Und alle Ruder regen wild bewegt
Gedanken, welche Sturm und Tod verhöhnen.
Im Segel reißen Winde, die erregt
Von Hoffnungen, von Seufzern und vom Sehnen.
Die Tränenflut, die Nebel meiner Sorgen
Müssen die schon erschlafften Taue trinken,
Die mir einst Torheit und Verwirrung flocht.
Und meine beiden Sterne sind verborgen.
Ins Wellengrab muß alle Kunst versinken.
Und meine Seele glaubt an keinen Port.
Der vorliegende Band enthält scheinbar Unvereinbares. Von den ersten Gedichten des Studenten Franz Hessel aus ,Wahnmoching‘, dem Schwabing um 1900, zu dem Volksstück „Sturm auf Apollo“, an der „schönen, grauen Panke“ in Berlin um 1930 spielend, dürfte schwerlich ein gerader Weg führen. Die Vorstellungen vom Status der Kunst und ihrem Verhältnis zur Realität, wie sie die Lyrik im Umkreis Stefan Georges beherrschten, stehen vermeintlich zu wenigem in größerem Gegensatz als den Liedern, die Hessel 1922 im Bänkelbuch veröffentlichte, den Gedichten, die Ende der 1920er-Jahre in Zeitungen und Zeitschriften erschienen, und eben dem Volksstück in zehn Bildern, das in Coproduktion mit Stefan Großmann entstand und im Januar 1930 uraufgeführt wurde. Und dennoch: Auch wenn das Unvereinbare nicht zur Werkeinheit gezwungen wird, zeigen sich bei genauerem Hinsehen Kontinuitäten, Ähnlichkeiten der kulturellen Bezugspunkte, des Verhaltens zur Wirklichkeit und der Aufmerksamkeit für paradoxe Situationen und Umbrüche, die Korrespondenzen und Zusammenhänge im Heterogenen erkennbar werden lassen.
1901 erschienen zwölf Gedichte in Avalun. Ein Jahrbuch neuer deutscher lyrischer Wortkunst herausgegeben von Richard Scheid zu Muenchen. Hessel hatte sich bereits zum Wintersemester 1899/1900 an der Münchener Universität eingeschrieben, zunächst für die Jurisprudenz, danach für das Studium der Philosophie, Germanistik und Kunstgeschichte. Mit den Gedichten in Avalun erwies er sich als Lyriker auf dem Niveau der Zeit, der den Umgang mit Natursymbolen und Alliterationen ebenso beherrscht wie den produktiven Bezug auf lyrische Traditionen (z.B. das Tagelied mit dem „Buhlenscheidelied“) und die Gestaltung von Erfahrungen der Trennung und der Entfremdung. Ein bleibendes Charakteristikum von Hessels Lyrik ist das Paradox, hier noch selbstgenießend formuliert: „wie so schön ich leide!“ („Der Page“), und das Thema der Entfernung von Kind und Mutter, wobei der Mutter als „Mutter Erde“ („Heimkehr“) erotisch gedeutete Alleinheit und Ursprünglichkeit zugeschrieben wird.
Hessel war also vorbereitet auf die bemerkenswerte Nebenrolle, die er in ,Wahnmoching‘ spielen sollte, auf die künstlerischen und lebenskünstlerischen Ereignisse in den Kreisen um George, Wolfskehl, Klages, Schuler und die Gräfin Franziska zu Reventlow. Über die Gräfin Reventlow soll er mit Karl Wolfskehl bekannt geworden sein, dessen Wertschätzung Bachofens er – wenn auch nicht ganz ohne Ironie – teilte: Bezüglich einer Handschrift des Gedichts „Einladung“ unter dem Titel „Am Strande“, die er am 7. Mai 1903 an Franziska zu Reventlow sandte, schrieb er:
Dies, Frau Gräfin, ist das seltsame kind einer traumdurchwachten nacht. Ich wollte es vor dem klug beleuchtenden auge verbergen. Aber es will zu seiner mutter. Da ich nun dem mutterrecht anhange, so sei Ihnen die gewalt eigen über tod und leben dieses wesenlosen nachtgeschöpfes. Legen Sie die kühlen hände der weisheit auf die erhitzte stirn der thorheit. Ich fühle selbst das komische meines vielen Verselns. Gott helfe mir etc etc etc. Man lasse mir die reime zum rasen und die klänge zum tief-atmen, jagen und ruhn. – Ich werde dafür im Leben haltung zu wahren wissen. Bergen Sie dies tief in treue Schatullen vor den augen der klugen. Denn niemand soll wissen von meiner abhängigkeit. Diese verse sind zu wahr, zu wenig köstliches spiel. Ach, mir ist wirklich angst, zu früh erkannt zu werden. Aber ich kann nicht mehr zurückhalten, was schon wort geworden ist. Haben Sie geduld mit Ihrem verwirrten, dumpfen, überwachten Franz Hessel.
Die Gräfin hat Hessel, der seit dem November 1903 bis zum Frühjahr 1906 in einer Wohngemeinschaft mit ihr in dem berühmten Eckhaus an der Münchener Kaulbachstraße lebte, in ihrem Roman Herrn Dames Aufzeichnungen oder Begebenheiten aus einem merkwürdigen Stadtteil (1913) in der Figur des Willy porträtiert und wohl auch Züge Hessels für den Protagonisten, Herrn Dame, verwandt. Dort erscheint Delius (= Alfred Schuler) als „Hauptverfechter des matriarchalischen Prinzips“, werden Bachofen und die chthonischen Kulturen als Pflichtkenntnisse für Schwabing genannt und erinnert: „wenn Sie Ihr Griechisch noch nicht vergessen haben, werden Sie vielleicht wissen, daß Chthon der dunkle Schoß der Erde bedeutet.“ Doch es sind nicht nur die mit dem Bezug auf das matriarchalische Prinzip begründeten erotischen Bilder, die Wolfskehl zum „Hermopan“ für Hessel werden ließen.
Hinzu kommt das Interesse an alter deutscher Literatur, das in Wolfskehls Übersetzung der Ältesten deutschen Dichtungen (1909) Ausdruck fand, während Hessel im Sommer 1901 bei Wolfskehls Co-Autor Friedrich von der Leyen die Vorlesung „Althochdeutsch (für Anfänger)“ hörte. In Hessels Lyrik bekundet sich dieser Bezug ebenso mit den Tageliedern („Buhlenscheidelied“, „Ein Tagelied“) wie mit sprachlichen Anklängen, z.B. den Alliterationen („sie wiegen und wehn“, „Auf dunklen Wassern…“), deren Gebrauch er allerdings mit zeitgenössischer Dichtung gemeinsam hat und die er gelegentlich ironisiert („reime zum rasen“ im oben zitierten Brief an Franziska zu Reventlow).
Die Lyrik um 1900 dürfte ihm spätestens im Umkreis Wolfskehls, auch im exklusiven Organ des George-Kreises, den Blättern für die Kunst, bekannt geworden sein. Hinweise darauf geben nicht nur die Themen der frühesten Gedichte, sondern auch wörtliche Zitate, wie die Wendung „ferner Sterne“ („Einer Fernen“), die aus Hofmannsthals Gedicht „Manche freilich…“ (1896) kommt, das in den Blättern für die Kunst erschienen war. Auch die Erinnerungen des Dichters und Übersetzers Johannes von Guenther an die Kreise der Münchener Boheme um 1900 belegen den wirksamen Einfluss der Lyrik Stefan Georges auf den jungen Franz Hessel – einen Einfluss, der besonders in Gedichtrezitationen zum Ausdruck gekommen sei:
Hessel war der erste, der ganz anders las. Er hatte die Vortragstechnik Georges: eine langsame, leidenschaftslose, manchmal fast psalmodierende Rezitation, die den sogenannten Sinn des Gedichtes unberücksichtigt ließ und sich ebenso wenig schmeichlerisch an die Bedeutung der Adjektive hielt. Jeder Buchstabe, jeder Vokal, jede Silbe, jedes Wort hatte in der Betonung gleichen Rang, höchstens die Reime wurden leicht überbetont und über dem Reimschluß lag eine geringe Zäsur, wobei Enjambements eigensinnig unterbetont wurden.
In dieser zum Absoluten erhobenen Verdichtung des vokalischen Versgebildes lag und liegt, so schien und so scheint mir, der tiefste Sinn und Glanz jeder Dichtung. […] Wenn Hessel Gedichte sprach, kam das Priesterliche im Dichter zu bedeutender, zu entscheidender Geltung, und das mußte ja auf den empfangsbereiten Geist eines jungen Menschen von erlösender Wirkung sein.
Wolfskehl und Hessel erfuhren eine Verbundenheit schließlich auch durch ihr Judentum. Hessel wechselte im Sommer 1903 zum Studienfach Orientalistik und studierte „die Quellen seiner eigenen jüdisch-orientalischen Herkunft“; im August 1903 besuchten Hessel und Wolfskehl den Zionistenkongress in Basel, was später im autobiographisch gefärbten Roman Der Kramladen des Glücks (1913) eine Darstellung fand. Die Außenseitererfahrung, die Hessel auch im Schwabinger Treiben machen musste und die nach 1933 für ihn existenzvernichtend werden sollte, hatte einen Grund in den Rassen-Ideologien von Klages und Schuler; in den Worten der Willy-Figur hat Franziska zu Reventlow diese Erfahrung artikuliert:
Sehen Sie, lieber Dame, ich habe gar nichts gegen die Enormen, ich verehre sie sogar aus der Ferne, und ziemlich hoffnungslos – denn sie schätzen meine Rasse nicht – sie lassen nur blonde Langschädel gelten, und ich sehe so äthiopisch aus.
Am 5. April 1903 sandte Hessel der Reventlow das Gedicht „Es ragt aus den zerschlissenen geweben…“ mit den Worten:
Dies namenlos schöne Gedicht gab der Moment, der sie heut furchtbar schnell im tramwagen an mir vorübertrug. Die blumen fand ich wieder in irgend einem schaufenster. Ich hoffe, dass die Beziehung zu der sogenannten Wirklichkeit nicht verletzt. Es grüsst Sie einer, der aufschreibt, was Ihr Wesen dichtet –
Hessel sollte, auch nach seiner Exmatrikulation im Januar 1904, noch bis März 1906 in München wohnen. Von April bis Mai 1904 verfassten er und Franziska zu Reventlow gemeinsam den Schwabinger Beobachter, „drei maschinengeschriebene Hefte, die den Mitgliedern eines kleinen Kreises von unbekannter Hand bei Nacht und Nebel in die Briefkästen geschoben wurden“. Die „schwabinger cäsarenwoche“ und die „Schwabinger Walpurgisnacht“ spielen nahezu Wort für Wort auf jene Personen und Ereignisse ,Wahnmochings‘ an, die Franziska zu Reventlow später in Herrn Dames Aufzeichnungen humorvoll erläuterte.
1905 veröffentlichte Hessel im Berliner S. Fischer Verlag den Gedichtband Verlorene Gespielen. – Der Band stellt eine durchgehende Komposition der Texte dar, wenn er auch in seiner graphischen Gestalt den Ansprüchen eines Stefan George nicht genügt hätte. Die Gedichte sind in acht Gruppen angeordnet, die den Charakter von Zyklen haben, innerhalb derer noch Korrespondenzen zwischen einzelnen Texten zu bemerken sind. So antwortet auf das Gedicht „Stimme der Toten“ das auf der gegenüberliegenden Seite stehende „Mich aber…“, Analoges gilt für „Der neue Pygmalion“ und „Da ich rief…“, „Fastnacht“ und „Am Abend…“, „Erinnerung“ und „Vergessenheit“, wo die Korrespondenzen besonders deutlich sind, sowie für „Versunken…“ und „Noch ist…“ Dieser zyklische und dialogische Aufbau des Gedichtbandes lässt die Einzeltexte miteinander in Beziehungen treten und nimmt in diesen Zusammenhang auch Älteres und Übersetzungen von Dichtungen anderer Autoren auf. So werden fünf der Avalun-Gedichte verändert einbezogen: „Wem einmal erglänzten…“, „Der Page“, „Buhlenscheidelied“, „Reich war ich sonst…“ und „Hinüber“; hier bietet der vorliegende Band die Möglichkeit zum Vergleich der Textfassungen.
Zwei Sonette sind Petrarca-Übersetzungen, darunter „Vergessenheit“, das in wörtliche Bezüge mit dem eigenen Gedicht „Erinnerung“ gesetzt wird.
Der erste Zyklus „Totenklage“ ist Hessels „Versuch, das Andenken seiner Lieblingsschwester zu wahren“, und Gestaltung „des schwesterlichen Ideals“, kulminierend in der Zeile: „Du mütterliche, meine Schwester-Braut“. Zugleich verweisen hier herrscherliche Sprachgebärden und syntaktische Eigenheiten auf den Duktus Stefan Georgescher Gedichte („Mein Freund und mir durch dieses Blut verwandt“); Hessels Mantel-Symbolik tritt auf („In deinen Mantel heim, an deine Brust“), deren Bedeutung vielleicht durch die Beschreibung der Erscheinung des Lehrers in dem Erinnerungsstück „Hermes“ am besten erläutert wird. Die eindringliche Wahrnehmung der toten Mutter in Der Kramladen des Glücks: „Nun sah er auch, daß die Decken Mund und Kinn verbargen“, hat ihre Parallele im Vers: „Die Lippen deckte schon das Leichentuch“, bedeutungsvoller noch ist die Entsprechung zwischen der Vision des Bedrohtseins anlässlich der Trauerfeier für die orthodox jüdische Großmutter und den Versen:
Mein Volk, es wird mir bang
Um dich, daß deine Freude ohne Klang,
Daß deine Schmerzen eng wie deine Gassen.
Der Zyklus „Traum und Gestalt“ lässt mit der Überarbeitung der früheren Fassung von „Der Page“ Hessels Gebrauch paradoxer Wendungen deutlich erkennen: „Ich bin doch frei. – Wie bin ich doch gefangen!“ und bringt Beispiele für seine Aufnahme biblischer Themen: „Der Seher“, mit Bezug auf das 4. Buch Moses, und antiker Mythen: „Der Mittagstraum“, mit Bezug auf die Orpheus-Gestalt (vgl. insbesondere Ovid: Metamorphosen), sowie „Der neue Pygmalion“. Das Gedicht „Der König“ spielt auf die Rede „Aus einem Trauerspiel“ von Karl Wolfskehl an, die 1900/1901 in den Blättern für die Kunst erschienen war.
Die Gruppe „Lieder“ enthält die beiden Tagelieder („Buhlenscheidelied“, „Ein Tagelied“), deren Modell im Kramladen des Glücks ebenfalls erwähnt ist: „Ich wache ein paar Meter von ihnen [Gerda = Franziska zu Reventlow, und Stan = Bohdan von Suchocki], wie der Wächter im Tagelied, der Stundenzähler ihrer Liebe“, und wohl eine typische Situation Hessels beschreibt. Vergleichbar ist die Sängerrolle in „Ständchen“: „Du sollst nicht wissen, daß ich noch wache“; hier mag Hofmannsthals Browning-Bearbeitung „Hörtest du denn nicht hinein…“ den Prätext bilden.
Unter den Widmungen befindet sich das an die Gräfin Reventlow gerichtete Gedicht „Einladung“, die Gestaltung der Pan-Episode aus „Apuleius“ (Der goldene Esel) mit „An Psyche“ und schließlich mit „Froschkönig“ eine der Hesselschen Adaptionen Grimmscher Märchen. Hessels Interesse für Märchen und romantische Sammlungen von Volksdichtung fand ebenfalls Erwähnung in Herrn Dames Aufzeichnungen, wo Willy „Märchen“ und „ein Gedicht aus des Knaben Wunderhorn“ vorliest sowie einen unerschütterlichen Verehrertyp „den standhaften Zinnsoldaten“ nennt.
Die Fremdheitserfahrung in der Realität gegenüber dem Traum, das Verlassen der Kinderheimat und der Verlust der Lebenseinheit wird insbesondere zum Thema des Zyklus Fremde, dessen erstes Gedicht im Vergleich die antike Göttererfahrung zu beschreiben versucht und ihr gegenüber endet: „Und kann das allernächste nicht begreifen –.“ Die Fremdheit dessen, der einmal den Traum des Ganzen erfasst hat, sprechen diese Texte in mehrfacher Variation aus, und daneben gelingt mit Rotes Laub ein leichtes und zugleich bedeutungsvolles Lied, das mit der Wendung seiner letzten vier Zeilen dem charmanten Witz anakreontischer Dichtung des 18. Jahrhunderts gleichkommt.
Der letzte Zyklus Wiederkehr antwortet auf „Fremde“ nicht mit eindeutigen Bildern zurück gewonnener Einheit, sondern folgt eher der Bestimmung: „Dir bleibe dein Geheimnis deine Ehre.“ Der junge Künstler darf seinen „Traum“ noch nicht offenbaren; das abschließende Gebet betrifft die Disposition der künftigen Haltung, die jeden kommenden Tag als „Du Erster und Einer“ anreden und damit in seiner singulären Bedeutsamkeit begreifen soll.
Im selben Jahr wie der Band Verlorene Gespielen erschien Hessels Zyklus Die sieben Raben. Lieder zu einem Märchen im Münchner Almanach. Ein Sammelbuch neuer deutscher Dichtung, herausgegeben von Karl Schloss. Wie in der später in der ,Nachtwache‘ Von den Irrtümern der Liebenden (1922) erzählten Märchenfassung verbindet Hessel das Grimmsche Märchen „Die sieben Raben“ mit dem anderen „Die sechs Schwäne“. Die sechzehn Lieder des Zyklus enthalten nicht nur mehrfach Dialoge, der auch in „Verlorene Gespielen“ auftretende Typus des Rollengedichts bewirkt den Eindruck mündlicher Rede, und mit der Zuspitzung des Geschehens gegen Ende gehen die Einzelgedichte in dramatische Wechselreden über („Das Volk“, „Die Raben“, „Verwandlungen“, „Die sieben Brüder“). Die entscheidende Rede der bis dahin stummen Königsgattin und Schwester der verwandelten Raben bleibt unausgesprochen, der Gedichtzyklus bricht genau vor ihrem Beginn ab: „nun spricht die Königin – nun schweigt!“ Hessel hat hier die Sprache seiner frühen Lyrik in vielen ihrer Schattierungen genutzt, um eine Folge von Liedern vorzutragen, die, jenseits einsamen lyrischen Sprechens, auf künftige Möglichkeiten voraus deuten, wie sie z.B. der Rundfunk für das Hörspiel eröffnen sollte.
Nachdem Hessel noch drei Gedichte – darunter eins aus dem Band Verlorene Gespielen in der 1907 erschienenen zweiten Auflage von Hans Benzmanns Anthologie Moderne Deutsche Lyrik publiziert hatte, war die Phase seiner frühen Lyrik im Zusammenhang der Münchener Moderne abgeschlossen. Hessel, der 1906 nach Paris ging und 1919 Lektor des neugegründeten Berliner Rowohlt Verlags wurde, sollte erst 1922 wieder Gedichte veröffentlichen. Nun sind es aber Chansons, die in dem von Erich Singer herausgegebenen Bänkelbuch erscheinen und den „einfühlsamen Beobachter der kleinen Büromädchen. Verkäuferinnen, Modelle, Mannequins und großen Damen“ Worte finden lassen, die seine Protagonistinnen sprechen oder besser singen könnten. Der Abschied vom hybriden Anspruch großer Kunst („Einst war ich berühmt in der Malerei“), beschleunigt durch die Macht der sozialen Realität, ist liebevoll-ironisch gestaltetes Thema, das den „Dichter“ nicht auslässt („Der Frühlingsdichter“), Münchener Erinnerungen aufnimmt („Arie“) und durchaus den Ton des Wunderhorns („Ein Tüchlein…“) und die Bilder des Symbolismus („Marianne“) nicht vergessen hat. Zwei der Lieder nahm Hessel 1926 in den Band Teigwaren, leicht gefärbt auf: „Der Frühlingsdichter“, mit der einzigen Änderung „Käfern“ statt „Faltern“ im vorletzten Vers, und „Arie“.
Dass der Absolvent des traditionsreichen Joachimsthaler Gymnasiums die Kultur der griechischen Antike mit seiner Gegenwart in Beziehung zu setzen verstand, zeigt die Episode aus Hesiods Theogonie, die unter dem Titel „Vatermord“ im November 1922 in der von Stefan Großmann und Leopold Schwarzschild herausgegebenen Zeitschrift Das Tage-Buch erschien. Dort findet sich auch, im April 1923, das „Lied nach der Verhandlung“. Im August 1924 veröffentlichte Hessel seine Übersetzung des Baudelaire-Gedichts „A celle qui est trop gaie“ (Nummer V der „Pièces condamnées tirées des ,Fleurs du mal‘“) unter dem Titel „An die viel zu Frohe“ in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift Vers und Prosa des Rowohlt Verlags.
Nach einer erneuten Pause von vier Jahren erschienen 1928 die Verse „Ungewißheit im Simplicissimus“, „Sommerregen“ in der Vossischen Zeitung, „Zehn Fennije der Kleiderschrank“ im Illustrierten Blatt und Vier Gedichte in der Literarischen Welt. 1930 erschien das „Mannequin-Lied“ im Tage-Buch; im selben Jahr stellte die dritte Auflage von Emil Singers Bänkelbuch in einer im Vergleich zur Erstausgabe von 1922 veränderten Lyriksammlung Hessels dessen Gedichte „Bekenntnis einer Chansonette“ und „Die muntere Mörderin“ vor. Schließlich erschien noch im Oktober 1934 in der Zeitschrift Die Dame das Gedicht „Die Gliederpuppe“.
Diese zuletzt genannten Publikationen und die „Vier Gedichte“ von 1928 reflektieren noch einmal die Spannungsfelder, in denen Hessels Lyrik steht. Unter den Titeln „Wenn wir erscheinen“, „Erechtheus“, „Poseidon“ und „Kalypso“ liegt der Versuch vor, das Erscheinen und die Erscheinung von Gestalten der griechischen Mythologie zu einer Sprache zu bringen, die 1928 möglich ist, vielleicht aus einem Beweggrund, wie ihn Emanuel im Kramladen des Glücks nennt:
Wir müssen bei den Göttern bleiben. Auch ihre erbärmlichste Fratze ist unsre Zuflucht vor den Gottlosen.
Die „erbärmlichste Fratze“ hätte Hessel nicht abzeichnen wollen, wohl aber den Kontrast von „Nuttenposen“ und „Schillers Wilhelm Tell“ in eine Strophe fassen („Bekenntnis einer Chansonette“).
Wie genau übrigens Hessel die Bestandteile der „Fratze“, die Deutschland seit 1933 bot, beobachtet hat, zeigen Verse, die Manfred Flügge überliefert und die „zwischen 1933 und 1935 entstanden“ sein sollen: „Nichtarisch ist mein Schätzelein…“
(…)
Andreas Thomasberger, Nachwort
zeigen die Gedichte und dramatischen Texte Franz Hessels eine im Vergleich zu seiner Prosaproduktion eher unbekannte Bandbreite seines Schaffens. Dieser Umstand macht den vierten Band der Werkausgabe zu einer Fundgrube, die innerhalb der Hessel-Forschung und -Editionsgeschichte einmalig sein dürfte.
Von den traditionsverpflichteten lyrischen Anfängen über jene Schaffensphase, die unter dem Eindruck und Einfluss der Schwabinger Bohème und der Künstlerkreise um Stefan George, Karl Wolfskehl und der Gräfin Franziska zu Reventlow stand, bis zur Chanson-Dichtung des 1922 erschienenen Bänkelbuchs und den verstreut publizierten letzten Gedichten der 1930er- Jahre Franz Hessels Entwicklung, seine Themenkreise und die Spannungsfelder seines Werkes werden in dieser Sammlung greifbar und nachvollziehbar. In der Lyrik wie in seinen wenigen dramatischen Texten wird das überaus bewusste Spiel des Dichters mit einem literarischen Ort zwischen Tradition und Moderne, zwischen klassischen Stoffen und seiner ureigenen Form der ironischen Distanz deutlich. Hessels Dramen und szenische Texte werden in dieser Edition erstmals nach ihrem Erscheinen wieder in Buchform und in zum Teil unveröffentlichter Typoskriptfassung publiziert. Für die vorliegende zweite Auflage konnte der editorische Anhang aufgrund neuer Textfunde deutlich erweitert werden.
IGEL Verlag Literatur und Wissenschaft, Klappentext, 2013
–Über den wiederentdeckten Dichter Franz Hessel. –
Es mag rätselhaft erscheinen, daß ein bedeutender, lesenswerter Dichter über lange Jahre vergessen bleibt, dann aber mählich von seinem Schattendasein erlöst und wiederentdeckt wird. Hat der Literat sich selbst ins Abseits gestellt? Ist er gewaltsam dorthin gedrängt worden? Oder sind die Ursachen vielmehr bei den Rezipienten zu suchen, die vielleicht erst lernen müssen, das Werk des sich der Popularität sperrenden Dichters mit gebührender Aufmerksamkeit zu lesen? Daß die Farbigkeit einer Dichtung, die ihrer Entstehungszeit durchaus gemäß und „aktuell“ war, im Laufe der vieles verändernden Jahre verblaßt und ihre Aussage-/Wirkungskraft verliert, ist allerdings das Schicksal weniger Literaten nicht. Wie aber, wenn Literatur aus der Zeit verschwindet, vertrieben von Ignoranz, von geistigen Verirrungen und Verwirrungen, irgendwann, nach einiger (möglicherweise langer) Zeit wieder aufersteht und nichts von ihrem Reiz, ihrer poetischen Kraft eingebüßt hat? Wäre das nicht der Beweis wahrer, zeitloser Kunstgröße?
Wir wissen: Kunst, Literatur versteht sich als ein Gradmesser, als ein Seismograph gegenwärtiger Angst- und Sehnsuchtsschwingungen. Die heutige Renaissance von Dichtern wie Robert Walser, Peter Altenberg, Alfred Polgar oder Italo Svevo kann als ein untrügliches Zeichen einer Hellhörigkeit für Zwischentöne, einer Hellsichtigkeit für Zwischenzeilen, einer Beachtung der kleinen Dinge alltäglichen Lebens, die die große Welt ausmachen, betrachtet werden. Lächerlich-grauenvoll offenbaren sich nicht selten die brüchigen Zusammenhänge dieser (verlorenen) Dinge, falls sie in ihrer Heterogenität und Widersinnigkeit aber überhaupt noch zu erkennen sind. Kann sich das Ich in der von Relativität und Vergänglichkeit geprägten modernen Wirklichkeit noch behaupten, Halt, Orientierung finden?
Geh doch um die Dämmerzeit durch die Straßen, sieh die blassen heimkehrenden Geschäftsmädchen, Burschen, die nebeneinander radeln und dabei ihre Arme kreuzen. Kinder beim letzten seligen Spiel, ehe sie ins Haus gerufen werden. Spüre das Abendfieber der wunderlich kleinstädtischen Großstadt in dem späten Rot hinter den Hochbahnbögen. Lerne spielend das Grausen von Inschriften an Hauseingängen: Zimmer für Tage, Monate und Wochen, Institut für funktionelle und seelische Störungen, Suggestion von zehn bis sechs, Haarwuchs, Lebensversicherung, Beinleiden, Frachtverwertung, Höhensonne in Kräuterbädern Seitenflügel rechts giftfreies Verfahren, Leichentransport an alle Orte der Welt, Preßluft, Briefmarkenexpertise, Müllereibedarf. Ist das nicht Quintessenz?… Das Leben ist überall für dich da, gratis zu jeder Tageszeit, nur laß dich nicht ein, genieße alles, besitze nichts. Besitz beraubt.1
Der Verfasser solch unbestechlicher, sentenziöser Sätze ist der lange vergessene und jetzt wiederentdeckte Dichter Franz Hessel (1880–1941), einer jener unauffälligen, leisen, mit subtiler Wortgewandtheit ausgestatteten Literaten, die wohl immer auf ihre Zeit zu warten haben, wissend, hoffend, daß diese aber unbeirrbar kommen wird, ja, kommen muß. – Ist sie nun da?
Hessel, Autor eines Gedichtbandes, eines dramatischen Gedichtes, dreier Romane und eines Romanfragments, mehrerer Bände Kurzprosa, vieler Zeitschriftenbeiträge, hat es der Literaturgeschichte, einer Einordnung in bestimmte literarische Epochen oder Strömungen offensichtlich schwer gemacht. Selten wird man seinen Namen in heutigen Nachschlagewerken finden; schon die zeitgenössischen Literaturgeschichten hielten es kaum für nötig, ihn in ihre Annalen aufzunehmen. Taucht sein Name irgendwo einmal peripher auf, dann meistens im Gefolge seiner Freunde Walter Benjamin und Franziska zu Reventlow, vielleicht noch als jüdischer Exilschriftsteller, als Übersetzer großer französischer Literatur (u.a. Balzac, Baudelaire, Proust, Romains), als Lektor des Rowohlt-Verlages, Mitarbeiter der Zeitschriften Die Literarische Welt und Das Tagebuch, oder als Herausgeber des Schwabinger Beobachters und der Monatsschrift Vers und Prosa. Die Gründe für die Nicht- oder Kaumbeachtung der Hesselschen Dichtung deutete Oskar Loerke bereits 1926 an, als er sie in einer Rezension als „zwischen zu leicht und zu schwer“ charakterisierte.2 In der Tat scheint es das Unauffällige, Zarte, das weder „zu Leichte“ noch „zu Schwere“ von Hessels Œuvre zu sein was zu einem weiten Desinteresse geführt hat. Loerke hatte die Ratlosigkeit und Problematik gegenüber dem Werk Hessels fraglos treffend ausgedrückt, wenn er darauf verwies, daß es hier „gar nicht um Rang, sondern um Reiz“ gehe.3 Der artifizielle Reiz der Hesselschen Prosa war in Literaturkreisen jedoch kein Geheimnis. Zu Recht deutete etwa Kurt Tucholsky auf eine Verwandtschaft Hessels mit Robert Walser hin;4 beide Dichter widmeten sich meisterhaft und in ähnlicher Weise der „kleinen“ literarischen Form, Literatur, die nicht selten die Kritik von „Unbedeutung“ und „Zweitrangigkeit“ hervorgerufen hat. Walter Benjamin, den Hessel unverkennbar stilistisch beeinflußt hat, trat dieser Kritik heftig entgegen, denn die meisten ahnten gar nicht, „was sie einem Polgar, einem Hessel, einem Walser an ihren zarten oder stachlichen Blüten in der Öde des Blätterwaldes zu danken haben“.5 Mit Bewunderung sprach Benjamin davon, daß in Hessels Munde die Worte sich in „Magnete“ verwandelten, „die andere Worte unwiderstehlich anziehen“. Seine Prosa sei von „solchen magnetischen Ketten“ durchsetzt.6 Und der erwähnte Alfred Polgar rühmte Hessel als eine „reine Seele“, ein „reines Deutsch“ schreibend:
Unter seinem Blick und Wort wandelte sich die Finsternis rundum zu einer Nacht aus tausendundeiner, schrumpfte diese Welt voll Teufel zu einem Spielwerk zusammen, dessen Mechanismus zu betrachten, in ihm eingeschaltet zu sein, lohnt.7
War Hessel vornehmlich also ein Literat für wissende Literaten?
Für Hessel, diesen „gerissenen advocatus del“ (Polgar), bedeutete Literatur zeitlebens ein Sich-zur-Wehr-setzen gegen die ichüberwältigende, unbeständige Wirklichkeit, gegen die Zeitlichkeit; sie war Ausdruck der Suche nach einer hinter scheinhafter, vergänglicher Oberflächenwirklichkeit verborgenen ewigen, wahren Welt. Die enge Verknüpfung von Leben und Werk Hessels ist unübersehbar besonders eindrucksvoll bei seinen nun wiederveröffentlichten Romanen Der Kramladen des Glücks (1913), Pariser Romanze (1920), Heimliches Berlin (1927) und dem erst 1984 entdeckten Romanfragment Alter Mann (begonnen 1933).
In der Chronologie ihrer Entstehung schildern diese Romane Entwicklungsstufen im Leben ihrer Autors. Während Der Kramladen des Glücks Kindheit, Jugend und frühes Mannesalter beschreibt, begegnet uns in der Pariser Romanze der reife, in Heimliches Berlin der weise Künstler und Lebensphilosoph, in Alter Mann der vom Tode gezeichnete, in den glücklichen Erinnerungen lebende Hessel, verborgen hinter den Masken seiner Protagonisten Gustav Behrendt, Arnold Wächter, Clemens Kestner und Julius Küster.
Das Schicksal Gustav Behrendts im Kramladen des Glücks, sein Aufwachsen in einer großbürgerlichen jüdischen Kaufmannsfamilie, Konflikte aufgrund des Judentums, der frühe Umzug nach Berlin, die breit ausgeführten Erlebnisse in der Schwabinger Boheme um Gerda von Broderson, die verzweifelte Suche nach einer Existenz, der Zwiespalt von Traum und Wirklichkeit – all dies verweist deutlich auf die Biographie Franz Hessels:
Am 21. November 1880 als Sohn eines wohlhabenden jüdischen Getreidehändlers und späteren Bankiers in Stettin geboren, siedelte Hessel mit der Familie 1888 nach Berlin über. Nach dem Abitur ging er 1899 nach München, studierte dort Literaturgeschichte und beschäftigte sich intensiv mit Mythologie und Archäologie. Der Vater, der 1900 starb, hinterließ ihm ein erhebliches Vermögen, das ihm nun eine finanziell unabhängige Existenz ermöglichte. Ein freies Bohemeleben genoß Hessel vor allem im berühmt-berüchtigte Schwabinger Künstlerkreis um Stefan George, Karl Wolfskehl und besonders Franziska zu Reventlow, mit der er zusammenwohnte; beide gaben 1904 den Schwabinger Beobachter heraus, eine Zeitschrift, die sich des öfteren in kritisch-ironischer Weise mit dem Treiben der Kosmiker um George auseinandersetzte. 1905 erschien Hessels erstes Buch, Verlorene Gespielen, eine Sammlung neoromantischer, den frühen Tod der Schwester reflektierender Gedichte.
Die Münchener Boheme befreit-aufgewühlt hinter sich lassend (über die Schwabinger Verwicklungen und Skandale berichtet sehr genau Reventlows Roman Herrn Dames Aufzeichnungen), begab sich Hessel 1906 nach Paris. Abgesehen von einigen kurzen Unterbrechungen wohnte er bis 1913 auf dem Montparnasse, im Zentrum der avantgardistischen europäischen Kunstwelt. Er knüpfte Kontakte zu den dortigen Künstlerzirkeln (besonders zum Kreis um Wilhelm Uhde, Alfred Flechtheim und Jules Pascin, der sich im Café du Dôme traf), war befreundet mit Gertrude Stein, Paul Fort, Marie Laurencin und Henri-Pierre Roché, dessen vor allem durch die Truffaut-Verfilmung berühmt gewordenen Roman Jules et Jim das Dreiecksverhältnis Hessel-Roché-Helen Grund (die Käthe-Kollwitz-Schülerin, die Hessel in Paris kennenlernte und im Frühjahr 1913 heiratete) spiegelt.
Für Hessel wurde Paris zu einer „Schule des Genusses“, zu einer Schule des Planierens, zu einer Traumstadt, „wo nichts aufhört, wo das Vergangene dauernd miterlebt, ein ewiger Alltag, ein dauernder Abend“, wie es in seinem späteren Paris-Bericht „Vorschule des Journalismus“ (1929) heißt.8 Scharf beobachtend wandelte er durch diese Stadt, noch den alltäglichsten, gewöhnlichsten Dingen und Ereignissen eine poetische Aura verleihend:
Paris, das ist der schmale Gitterbalkon vor tausend Fenstern, die rote Blechzigarre vor tausend Tabakverschleißen, die Zinkplatte der kleinen Bar, die Katze der Concierge.9
Hessel entwickelte hier sein Lebens- und Kunstprogramm; sein Leben als flanierender, die Realität protokollierender Beobachter, als Zuschauer aus der Distanz heraus, ermöglichte durch das Nichteinlassen Anteilnahme an allem, verschaffte ihm die größtmögliche Weltoffenheit, ein Höchstmaß an Genuß, an Freiheit.
Literarisch verschlüsselt hat Hessel die Pariser Erlebnisse in seinem zweiten Roman Pariser Romanze, der nach dem Ersten Weltkrieg entstand, und als erstes Buch Hessels bei Rowohlt 1920 erschien. Wiederum ist es ein Roman der Erinnerung, die ein wesentliches Motiv, ein Movens seines Schreibens überhaupt ist, denn erst aus der zeitlichen und räumlichen Distanz konnte Hessel über eine Wirklichkeit verfügen, sie ordnen, ohne sich zu heftig auf ein Leben einlassen zu müssen, das ihm dadurch Leid, Ängste und Nöte bereitet hätte. In vier Briefen an seinen Pariser Freund Claude (eine Spiegelung des realen Freundes Roché), geschrieben in den Kriegsjahren 1915 bis 1916, zunächst während der Rekrutenausbildung, später aus einem polnischen Grenzort, vergegenwärtigt der Erzähler, Arnold Wächter, zurückliegende Pariser Erlebnisse – in deren Mittelpunkt seine zarte Liebesbeziehung zur Mädchenfrau Lotte steht –, die eine Gegenwelt schaffen zu seinem gegenwärtigen qualvollen Soldatenleben. Daß die Briefe gleichzeitig die letzten Lebenszeugnisse des Schreibers sind, deutet bereits der Untertitel des Romans, „Papiere eines Verschollenen“, an. Oskar Loerke nannte die Pariser Romanze 1921 in einer Rezension eine „natürlich fließende Erzählung“, die bei uns „selten geworden“ sei. Das Buch „ließe sich leicht in französischer Sprache geschrieben denken“.10 In der Tat sind es vor allem Werke der französischen Literatur, mit denen die Pariser Romanze in ihrer poetischen Kraft, sich der verlorenen Zeit zu widersetzen, zu vergleichen wäre; besonders mit Prousts A Ja recherche du temps perdu oder Alain-Fourniers Le Grand Meaulness.
Hessel, während des Ersten Weltkrieges Landssturmmann im Elsaß und in Polen, kehrte nach dem Ende der unmenschlichen Schlachten in die andere innig geliebte Stadt, Berlin, zurück. Er arbeitete an Übersetzungen von Dichtern der französischen Literatur (Stendhal, Balzac, dessen Comedie humaine er edierte, und Casanova, wobei die Einflüsse des letzteren in Hessels 1922 erschienener Novellensammlung Von den Irrtümern der Liebenden erkennbar sind) und redigierte im Auftrag Ernst Rowohlts 1924 die Zeitschrift Vers und Prosa, von der allerdings nur ein Jahrgang erschien. Sie stellte in erster Linie neueste Dichtung vor, darunter Autoren wie Robert Musil, Robert Walser, Albert Ehrenstein und Rudolf Borchardt. Häufiger Gast im Hause der Hessels, einer im Tiergartenviertel gelegenen alten Villa, war Walter Benjamin, der Hessel mit Ernst Bloch und Siegfried Kracauer bekanntmachte. 1925 ging Hessel mit seiner Familie (er war inzwischen Vater zweier Söhne) für zwei Jahre nach Paris zurück und übersetzte dort zusammen mit Benjamin den zweiten und dritten Teil von Prousts A la recherche du temps perdu. Danach, wieder in Berlin, arbeitete Hessel als Lektor des Rowohlt-Verlages und schrieb neben diversen Rezensionen eigene Prosatexte, u.a. für die von Willy Haas herausgegebene Literarische Welt, die später in den Novellenbänden Nachfeier (1929) und Ermunterungen zum Genuß (1933) in einer Auswahl publiziert wurden.
In Berlin vervollkommnete Hessel seine „Kunst des Spazierengehens“, seine Poetik aus der Sicht des flanierenden Beobachters. Sein Buch Spazieren in Berlin (1929), das kürzlich wiederveröffentlicht worden ist – sicherlich eine der schönsten und eindrucksvollsten Beschreibungen der Stadt –, dürfte als ein Höhepunkt dieser Entwicklung anzusehen sein. Die poetologischen Grundlagen dieser Erzählform, der Parallelisierung von Flanieren und Lesen/Schreiben, hatte Hessel in seinem Essay „Von der schwierigen Kunst spazieren zu gehen“ (1932) entworfen. Flanieren sei „eine Art Lektüre der Straße“, bemerkte er;
… Menschengesichter, Auslagen, Schaufenster, Café-Terrassen, Bahnen, Autos, Bäume (werden) zu lauter gleichberechtigten Buchstaben…, die zusammen Worte, Sätze und Seiten eines immer neuen Buches ergeben.11
Dem Beruf des Schriftstellers stand Hessel zweifellos kritisch und skeptisch gegenüber. So heißt es in seinem oben genannten Essay:
Leute, die berufsmäßig beobachten, Maler und Schriftsteller, sind oft sehr störende Begleiter, weil sie ausschneiden und umrahmen, was sie sehn, oder es ausdeuten und umdeuten, auch oft plötzlich stehn bleiben, statt das Wanderbild wunschlos in sich aufzunehmen.
Hessel versuchte, mißtrauisch, diesem Bild des „ausschneidenden“ und „ausdeutenden“ Literaten nicht zu entsprechen; er wußte, daß das Dichten seine flanierende Lebenshaltung einschränken mußte, denn der ihm so wichtige „erste Blick“, mit dem er, einem staunenden Kinde gleich, Menschen und Dinge aufnahm – hierin ist er vor allem mit Peter Altenberg verwandt –, konnte ihm nur das Flanieren selbst verschaffen: die Weltsicht des Flaneurs wehrt sich gegen eine Einengung und Einschränkung der zu perzipierenden Wirklichkeit, wie sie das Sicheinlassen, das Besitzenwollen nach sich ziehen muß, denn es selektiert, verursacht eine „Hierarchie“ der Dinge.
Ein Hymnus auf den intendierten und propagierten besitzlosen Genuß ist Hessels, in Paris (also wiederum aus der Distanz) entstandener, in kompositorischer Hinsicht bedeutendster Roman Heimliches Berlin: „Genieße froh, was du nicht hast“ – das ist die Moral dieses Buches, die dem Alter ego Hessels, dem Philosophieprofessor Clemens Kestner, ein Gefeitsein gegen die Armut (nicht nur die materielle, sondern auch die geistige, seelische Armut) bedeutet und die er in einem geradezu sokratischen Tugenddialog dem jungen, lebens- und liebessuchenden Wendelin als existentielles Ideal darbietet. Erst die Aneignung beraubt den Dingen den Zauber, die Einzigartigkeit des „ersten Blicks“, macht sie, da Besitz nicht von ewiger Dauer sein kann, „sterblich“. Aber das Postulat nach dem besitzlosen Genießen betrifft nicht allein die Dinge der Realität, sondern ebenso die Menschen, ihre Beziehung zueinander. Die Philosophie des „Sichnichteinlassens“, des „Nichtbesitzenwollens“ fordert, wie schon die Pariser Romanze zeigt, eine distanzierte Liebe, die – indem sie frei von Besitzanspruch ist – auch frei von quälender Eifersucht wird. Allein aus der Haltung des besitzlosen Liebens heraus kann Clemens, als er von der Liaison seiner Frau Karola und dem jungen Wendelin erfährt, auch keine Vorwürfe finden. Auf Wendelins grundlegenden Einwurf: „ Wenn ich aber liebe, begehr ich doch. Wie kann man lieben, ohne besitzen zu wollen?“ entgegnet Clemens:
Du fragst erschütternd. Ist hier meine Schwäche? Ich habe es wohl nie begriffen, daß zum Lieben Besitzen gehört. Da müßte man sich ja das geliebte Wesen aneignen und also enteignen, und was man mit sich vereint, das ändert man. Ich aber möchte alles erhalten, wie es mir erst erschien.
Das von Hessel gezeichnete „heimliche“ Berlin ist der Ort des Humanen, Natürlichen, ist ein Gegenentwurf zur hektischen, lebensaufreibenden Großstadtwirklichkeit, die den technischen Fortschritt höher zu achten scheint, als den Menschen; es ist Widerstand gegen die Entfremdung der Moderne, gegen die Entfremdung von Mensch und Umwelt, es ist ein Refugium des Uralten, Mythologischen, Ewigen, ist Kinderland, Traumterritorium, antike Götterwelt, Paradies. Hessels Utopien lassen sich allerdings kaum als Projektionen der Weltflucht bezeichnen. Vielmehr sind sie die Folge einer Auseinandersetzung mit der Realität und sie versuchen wiederum, in diese Realität „einzugreifen“. In einer wahren „Wahrnehmungssucht“ wollte Hessel so viel wie möglich von der (Oberflächen-)Wirklichkeit aufnehmen, um dadurch zu beweisen, daß sich hinter der Fassade etwas verbarg, etwas Unvergängliches, Göttliches, das die „Wirklichkeit“ als Schein entlarvte.
In der schriftstellerischen Entwicklung Hessels kann man beobachten, wie er immer stärker versucht, durch sein Dichten, durch das Wort das Wahrgenommene, Darzustellende unvergänglich zu machen, indem er das Vergangene schreibend in Gegenwart verwandelt. Das gibt seinem Werk etwas Schwebendes, Zeitloses. Wo man diese „Zeitlosigkeit“ mit „Anachronismus“ gleichsetzt, kann der schwierige, oder gar unterbleibende Zugang zum Œuvre Hessels, das gerade in seiner Zeitlosigkeit seinen Anspruch auf Ewigkeit erhebt – und was sollte eine höhere Kunstleistung sein?! –, freilich nicht verwundern.
Den Riß zwischen Vorstellung und Realität dokomentiert und prägt nicht nur Hessels literarische Fiktion und aktualisiert die Beziehung Autor-Leser; Hessels Leben selbst mußte schließlich an ihm scheitern. –
Stoisch verharrte Hessel nach Hitlers Machtergreifung 1933 zunächst noch in seiner geliebten Stadt Berlin, getrennt von Familie und Freunden, von denen viele bereits ins Exil gegangen waren, und arbeitete inoffiziell – seine Bücher waren schon konfisziert – weiterhin als Lektor für den Rowohlt-Verlag, übersetzte u.a. den siebenbändigen Roman Jules Romains’ Les hommes de bonne vonalté. Erst kurz vor der Reichskristallnacht im November 1938 konnte ihn seine in Paris lebende Frau dazu bewegen, Deutschland zu verlassen. Als Grund seines so langen Ausharrens gab er Freunden an, „daß er sich nicht dazu berechtigt gesehen habe, als ein Bevorzugter dem Schicksal der Juden zu entgehen“. Nach Kriegsausbruch wurde er in ein französisches Internierungslager inhaftiert, kam aber wieder frei, da sein Sohn bereits französischer Staatsbürger geworden war. Obwohl sich Alfred Polgar und Wilhelm Speyer um eine Ausreise Hessels nach Amerika bemühten, zog dieser mit seiner Familie nach Sanary-sur-Mer, in ein Haus, das ihnen von Aldous Huxley zur Verfügung gestellt wurde. Als 1940 der deutsche Überfall auf Frankreich erfolgte, mußte sich Hessel erneut im Internierungslager melden. Nach Wochen der Inhaftierung im Lager von Les Milles kehrte er, zu Tode erschöpft, zu seiner Familie nach Sanary-sur-Mer zurück und starb dort am 6. Januar 1941. Sein gesamter literarischer Nachlaß galt lange als verschollen; erst 1984 wurden einige Aufzeichnungen und das Alfred Polgar anvertraute, 1933 in Berlin begonnene, größtenteils aber im französischen Exil entstandene Romanfragment mit dem Titel Alter Mann entdeckt. Dieser letzte, unvollendete Roman, der – wie Hessel notierte – zu einer Art „franziskanischer Apologie“, zu einer weiteren Manifestation des besitzlosen Glücklichseins werden sollte, schildert die letzten Lebenstage eines ehemaligen, nun verarmten Bankdirektors (hinter dem unverkennbar Hessel selbst steht), der, ausgelöst durch einen Brief seiner Tochter Lella, sein Leben in der Erinnerung an sich vorbeziehen läßt:
„Was besitz ich denn?“ dachte Küster. Amulette, Erinnerungsbehälter. Unbezahlbares, denn es würde mir ja nie jemand etwas dafür zahlen. Dinge, die keinen Tauschwert haben. Imponderabilien. Mehr wunderbar als schön.12
Küsters Erinnerungen sind unschwer als poetischer Rückblick auf Hessels Leben, zugleich auf das Leben seiner Frau Helen, die als Tochter des Alten im Romanfragment auftritt (wobei die Dreierbeziehung Roché-Helen Hessel-Franz Hessel reflektiert wird), zu entschlüsseln. Im Vergleich zu den früheren Romanen ist die IchBetrachtung Hessels – aus dem Bewußtsein des nahen Lebensendes heraus – nun allerdings deutlich vom Tode überschattet:
Er saß wie in einem Wartesaal, wie im leeren Raurri. Dies alles umher gehörte ihm nicht mehr oder genauer, er gehörte nicht mehr hinein. In diesem Raum war er schon ein Verstorbener.13
„Der Anspruch auf Geltung war und blieb seinem Wesen fremd. Vielleicht gibt dieser Wesenszug die Erklärung für den Zauber seiner Prosa und seiner Persönlichkeit“, bemerkte Helen Hessel rückblickend über ihren Mann.14 Tatsächlich scheint es diese Ambitionslosigkeit, das unbeirrbare Folgen seiner Ideale zu sein, das Hessels Volk einzigartig, zeitlos, wahrhaft macht. Nein, ein erfolgssüchtiger Modeautor war dieser Schriftsteller, dieser „scheue Kalligraph“ (wie ihn Peter Härtling nannte),15 sicherlich nicht; es mag begründen, warum seine Dichtung sich heute erstaunlich modern zeigt –: Wer eine Antwort auf die Frage nach Möglichkeiten eines lebens- und liebenswerten Daseins sucht – bei Franz Hessel ist sie zu finden.
Hartmut Vollmer, Neue Deutsche Hefte, Heft 195, 3/1987
Im Jahre 1929, als sich mein Vater als feinsichtiger Beobachter und munterer Beschreibender Berlins erwies, war ich, sein Sohn, ein zwölfjähriger Pariser Junge, für den der Vater ein entferntes, aber bewundertes Vorbild war.
In einem fünfseitigen Text, den ein deutscher Verleger erst vor wenigen Jahren in einem Literaturarchiv entdeckt hat, empfiehlt mein Vater seinen beiden Söhnen die Lektüre von Auszügen seines Werks. Wir könnten vielleicht, so seine Hoffnung, davon profitieren. Diese Mischung aus Bescheidenheit, Zärtlichkeit und Verantwortungsgefühl, die aus seinen Worten spricht, beeindruckt mich noch heute. Es ist, als erreiche mich ein Signal aus weiter Ferne und rufe in mir weniger ein Erbe als vielmehr eine Verpflichtung wach, die ich lange nicht eingelöst habe. Bei einem so ungewöhnlichen Paar, wie es meine Eltern waren, stand ich so sehr unter dem Einfluss der Persönlichkeit meiner Mutter, dass ich die meines Vaters verdrängt hatte.
1927 war Franz Hessel nach Berlin zurückgekehrt, während Helen, unsere Mutter, mit meinem Bruder Ulrich und mir in Paris geblieben und in die Rue Ernest-Cresson im XIV. Arrondissement gezogen war. Unser Vater pendelte oft zwischen den beiden doch so unterschiedlichen Städten, deren Gemeinsamkeiten er ebenso beschrieb wie ihre Gegensätze. Mein Bruder und ich haben damals etwas gehabt, was es heute nicht mehr gibt: eine Erzieherin. Für diese galt es, uns Franz Hessel nicht nur als einen Dichter, Schriftsteller und hervorragenden Übersetzer, sondern auch als einen Weisen darzustellen, der über Götter und Liebe mehr wusste als die meisten.
Franz Hessel war nahezu kahlköpfig, von kleiner Statur, doch sein Gesicht und seine Gesten wirkten sanft. Er war in meinen Augen ein etwas zerstreuter Denker, der für sich lebte und sich nur wenig mit uns befasste. Nicht eben redselig, achtete er jedoch sehr auf seine Ausdrucksweise und fand spielerisches Vergnügen in der kunstvollen Anordnung von Wörtern. Noch heute sehe ich sein Arbeitszimmer am Ende des Flures, in dem es immer stark nach Tabak roch. Bisweilen kam er heraus, um eine Passage aus der Odyssee vorzulesen, die er eben übersetzt hatte. Weit mehr als Grimms Märchen oder die Bücher von Wilhelm Busch waren die griechische Mythologie und Homers Heldenepen meine geistige Nahrung. Mein Vater hat in mir die Liebe für den Polytheismus geweckt, der das Göttliche nicht auf das einzigartige und Furcht einflößende Wesen des Ewigen Vaters reduziert, sondern uns der erschütternden Willkür von Athene und Aphrodite, Apollon und Hermes ausliefert. Siebzig Jahre nach seinem Tode ist er somit für mich zu einer Initiationsfigur geworden.
Allmählich nur habe ich also sein Werk kennengelernt. Zuerst Pariser Romanze, ein Loblied auf meine junge Mutter. Dann aber Spazieren in Berlin, für mich ein Übergang zwischen Louis Aragons bahnbrechenden Le Paysan de Paris und dem unvollendeten Passagenwerk seines Freundes Walter Benjamin. Franz Hessels Werk wurde allmählich lebendig für mich und wirft nun, im Einklang mit Bertolt Brecht und Walter Benjamin, ein prophetisches und melancholisches Licht auf das erste Drittel des vergangenen Jahrhunderts.
So erhielt es für mich allmählich eine Botschaft aus dem noch nicht von Nazi-Gräueln entwürdigten und zerstörten, hin zu dem endlich vereinigten und zeitgemäß geschönten Berlin des jungen einundzwanzigsten Jahrhunderts. Unter den verschiedenen Göttern seines geliebten Homer war Hermes für Franz Hessel – und nun auch für mich – der Erleuchtendste, der Humorvollste. Diesen herben und doch wackeren Humor finden wir in jeder seiner Zeilen. Dies hat auch sein bester Kenner, Bernd Witte, wohl erkannt.
Heute bin ich viele Jahre älter, als mein Vater gelebt hat. Mehr denn je scheint es mir nun notwendig, seine Botschaft weiterzutragen. Jahr um Jahr kommt sie mir näher. Ohne sie, so erscheint es mir heute, können wir die bedrohliche, gefährliche, zerbrechliche Gesellschaft unserer Zeit nicht bewältigen. Aus der Erschütterung, die er nicht überlebte, trifft sein Lächeln mich tiefer als jeder Schrei.
Stéphane Hessel, aus Gabrielle Alioth und Hans-Christian Oeser (Hrsg.): Im Schnittpunkt der Zeiten. Autoren schreiben über Autoren. Synchron Wissenschaftsverlag der Autoren, 2012
Gerd Rüdiger Erdmann: Gelebte Nonchalance
Frankfurter Rundschau, 5.1.2021
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