GRABREDE
unsere generation? eins immerhin
ist sicher: man kann sich große worte ersparen
auch lorbeerkränze
oder ehrensalut
die begeisterung, liebe anwesende, war groß
es war so, daß alles anders aussah
die zeit hatte eine andre geschwindigkeit
Brecht marschierte mit qualmender zigarre voran
alles was man tat oder unterließ, hatte ein präzises ziel
selbst der haarschnitt war polititsch
nichts erweckte den vertrauten eindruck
daß nichts zu verändern wär
man trank sich zu, nüchtern und engagiert
der postbote, er brachte welt in die köpfe
die gespräche wurden immer länger
doch immer wenn die zukunft greifbar nah schien
war der arm zu kurz
man bog etwas betreten um die ecke
die gegenstände sahen plötzlich aus
als wären es geknickte schwingen
die fragen häuften sich
das telefon von dr. Marx war stets besetzt
man saß nächtelang vor dem radio
man begann sich zu erinnern
einigen halfen kleine kellnerinnen
über die enttäuschungen hinweg
andere waren immer und überall dabei
und das waren auch unsre liebsten clowns
andere standen vor den kinos
andere vor dem paßamt
andere hatten nichts dagegen
andere stellten sich um auf pfeife
und was zu tun war
gründlich
wurde es zerredet
1.
Das Jahr 1989 hat die politische Landkarte Europas neu gestaltet. Ehemalige sogenannte Ostblock-Länder wie Polen, Ungarn und die Tschechoslowakei bewegen sich entschlossen in Richtung eines demokratischen Systems westlicher Prägung; die DDR ist in einem noch viel weiter gehenden Sinn nicht mehr das, was sie einmal war, und auch Rumänien hat sich mit einer blutigen Revolution von der Diktatur befreit.
Stichwort Rumänien: noch vor einem Jahr gab es nur gelegentlich Meldungen über das Land. Von Zeit zu Zeit wurden Schreckensnachrichten verbreitet; berichtet wurde von zerstörten Dörfern, von Kälte, Hunger und anderen unglaubwürdigen Zuständen – so unglaubwürdig wie jene Fernsehbilder, auf denen die Heckenschützen der Securitate zu sehen waren, wie sie auf friedliche Demonstranten schossen. In jenen Weihnachtstagen 1989 zeigte der kleine, in unseren Augen fast lächerliche Diktator der Welt sein wahres Gesicht. Panisch um den Machterhalt kämpfend, hinterließen Ceauşescu und seine Terroristen im Staatsdienst eine blutige Spur. So war Rumänien telegen geworden.
Im Aufwind der Geschichte wurde auch einer der bedeutendsten rumänischen Lyriker der Gegenwart, Mircea Dinescu, endlich salonfähig – als ein Autor, den die Geschichte aus dem Hausarrest geradewegs ins Rampenlicht der rumänischen Tele-Revolution und der Weltöffentlichkeit katapultiert hatte.
Was aber ist mit einem Dichter anzufangen, der den Tag, an dem Ceauşescu gestürzt worden ist, nach eigenem Bekunden nicht auf den Barrikaden, sondern – von gefährlicher Neugier getrieben – „nur“ auf der Straße verbracht hat, als plötzlich hoffender, fassungsloser Beobachter von Ereignissen, an die man in Rumänien schon nicht mehr glauben mochte?
2.
Die Rede ist hier vom rumäniendeutschen Lyriker und Erzähler Franz Hodjak, den man in der so nicht mehr bestehenden DDR besser kennt als bei uns: Im Ost-Berliner Aufbau-Verlag ist 1988 eine von Wulf Kirsten getroffene Auswahl seiner Gedichte erschienen, und im März dieses Jahres wurde Hodjak mit einem bedeutenden Literaturpreis der DDR, dem Georg Maurer-Preis, ausgezeichnet.
Es soll also die Rede sein von einem deutschen Schriftsteller, der immer noch im rumänischen Klausenburg (Cluj-Napoca) lebt – anders als die meisten seiner Kollegen und Landsleute, die schon seit einigen Jahren in die Bundesrepublik und (vielleicht auch deshalb) hier zu einigem Ansehen gekommen sind.
Es soll nicht von einem schreibenden Helden die Rede sein, sondern von einem Autor, der sich nie zu spektakulären politischen Handlungen oder Appellen verstanden hat. Politik hat er nie als eine Alternative, sondern als einen – unter anderen – wesentlichen Antrieb zur Literatur begriffen.
So kommt es, daß Hodjaks Texte fast nie von jenen Menschheitsproblemen handeln, die Schlagzeilen machen. „Kleine“ Menschen und „kleine“ Probleme bereiten ihm mehr Kopfzerbrechen. Und auch der Ursprung seiner Texte liegt gewiß nicht in der genialischen Eingebung, die ihrem Stoff in einem großen Entwurf Gestalt gibt, sondern in der Ausdauer und Beharrlichkeit, mit der dieser Autor seine profane Arbeit erledigt. („Tata“, pflegte der Verlagslektor Franz Hodjak zum Schreiber dieser Zeilen zu sagen, als er dessen ersten Gedichtband für die Veröffentlichung vorbereitete, „an deinen Texten mußt du bosseln!“ Das war einer der ersten praktischen und gleichzeitig umfassenden Ratschläge in Sachen Literatur, die ich mir habe merken können.)
Diese Ausdauer aber, mit der Hodjak die letzten Jahre unter verschärfter staatlicher Bevormundung und Gängelei und von der deutschsprachigen Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt in Rumänien verbracht hat, die Hartnäckigkeit, mit der er (sich) am Schreiben festgehalten und dadurch (sich selbst und anderen) ein auf jede nur denkbare Weise eingeschränktes Sinn-Potential erarbeitet und vermittelt hat – diese Ausdauer und Hartnäckigkeit können zuweilen Symptome von Wahnsinn sein. In einer Welt des staatlich organisierten und aufrechterhaltenen Wahnsinns sind sie allerdings eher Zeichen des Widerstands, der Widerstandsfähigkeit eines Menschen, der – für sich und andere – mehr Kraft, mehr Sinn aus dem Tun des scheinbar Sinnlosen bezieht als aus der historisch zum Scheitern verurteilten Heldengeste. Wer in der literarischen Arbeit von Franz Hodjak, in seinem geduldigen, dickschädligen „Bosseln“ nichts anderes sieht als das Unterlassen von Kampfhandlungen gegen das politische System, das ihn und andere unterdrückt und bis an die Grenzen des Ertragbaren gedemütigt hat, sollte, so glaube ich, zuallererst seine Vorstellungen vom subversiven Potential der Literatur offenlegen.
Bei Hodjak jedenfalls sind die Ergebnisse jenes ärgerlichen, schweißtreibenden „Bosselns“ weder Weltverbesserungstexte noch sublime Verlautbarungen eines verstummenden Ichs (das mit dem Sprechen den anderen auch gleich das Handeln überlassen hat), sondern manchmal melancholische, öfter noch bissige Kommentare eines enttäuschten, eines illusionslosen Zeitgenossen, der weiß, daß des Menschen irdische Mühen schon immer vergängliche und leicht verderbliche Früchte getragen haben.
3.
Und wie so oft, wenn es um Dichter geht, ist auch bei Hodjak nachzutragen, daß alles ganz anders angefangen hat, als es heute aussieht. Dazu seien mir folgende Bemerkungen erlaubt, die ein bißchen tiefer in die Vergangenheit der rumäniendeutschen Literatur hineinreichen, von der man heute im binnendeutschen Sprachraum nur einige wenige Namen kennt und kaum etwas von deren Entwicklung. (Erlaubt sei mir auch der alles andere als wissenschaftliche Anspruch auf Präzision und Vollständigkeit meines Kommentars; da ich von Hodjak spreche, empfinde ich eher eine Verpflichtung zu unemanzipiertem, lustvollem Abschweifen als jene zum bedingungslos aufgeklärten Exkurs.)
Der rumäniendeutschen Lyrik, der es in den Nachkriegsjahren die eigene Sprache verschlagen hatte (sie bewegte sich – sofern veröffentlicht – an staatlichen Dogmen entlang oder bemühte sich bestenfalls um die Rückgewinnung überlieferter literarischer Formen), wurde im Jahre 1965 eine Erneuerung verordnet. Peter Motzan, einer der besten Kenner dieser Lyrik und gleichzeitig einer der besten Germanisten, die Rumänien in den letzten Jahrzehnten hervorgebracht hat, schreibt über die Auswirkungen des 9. Parteitags der rumänischen Kommunistischen Partei vom 19.-24. Juli 1965:
Das „seltsame Dogma von der Dekadenz der Formerneuerungen und der Fortschrittlichkeit konservativer Schreibweisen“ (…) wurde endgültig hinweggefegt. Eine zeitgemäße und elastische Realismus-Definition schuf Rezeptionsvoraussetzungen für die „Moderne“, ein nuanciertes und dialektisches Verhältnis zum literarischen Erbe holte zu Unrecht vergessene Autoren und Einzelwerke aus der Versenkung, das weltoffene Literaturklima förderte die Vielfalt der Stile und die Experimentierlust, führte zur Auslotung neuer Themenkreise, auch solcher, die bisher als „tabu“ galten.
(Was Motzan hier über das kulturpolitische Klima jener Jahre schreibt, klingt natürlich um einiges besser, um einiges entspannter und freier, als die Wirklichkeit aussah; aber vergessen wir nicht, daß sein Buch – das bislang einzige zu diesem Thema – 1980 unter wieder verschärften Zensurbedingungen veröffentlicht worden ist.)
Die relative kulturpolitische Entspannung machte es möglich, daß eine damals junge Generation rumäniendeutscher Lyriker den Anschluß an die europäische und natürlich vor allem an die deutsche Moderne wiederfinden konnte. Besondere Verdienste erwarb sich in diesem Zusammenhang die deutschsprachige Literaturzeitschrift des rumänischen Schtiftstellerverbandes, Neue Literatur, in deren Redaktion damals wichtige rumäniendeutsche Autoren arbeiteten (z.B. Paul Schuster – heute Berlin, Dieter Schlesak – Comaiore/Toskana u.a.).
Neben Bukarest, dem Erscheinungsort dieser Zeitschrift, gab es einige andere Brennpunkte des literarischen Lebens. In Klausenburg (Cluj-Napoca) z.B., einer kulturell traditionsreichen siebenbürgischen Universitätsstadt etwa von der Größe Aachens, mit einem relativ großen ungarischen und deutschen Bevölkerungsanteil, tauchten in den sechziger Jahren einige Studenten auf, die von den veränderten kultur- und studienpolitischen Möglichkeiten jener Jahre besser Gebrauch machten, als es den Politikern lieb sein konnte. Die Faszination der Literatur, die sich im begeisterten Aneignen einer fundierten literarischen Bildung niederschlug, verband sich mit einer zutiefst kritischen Einstellung gegenüber jeder Form von staatlich verordneter Autorität. Mehr noch, die Ablehnung jeder Form von Obrigkeit erhielt erst durch den lebendigen Umgang mit den Jahrhunderten der Literatur ihre besondere, über den Alltag hinausreichende Legitimation. Wenn aber andernorts, in Gesellschaften mit unvergleichlich mehr Freiräumen diese Protesthaltung politisch artikuliert werden konnte, so blieb sie in Klausenburg Erkennungsmerkmal einer Elite, die ihr Selbstverständnis aus der Literatur bezog. Namen wie Franz Hodjak, Bernd Kolf, Peter Motzan und Frieder Schuller sollten in der rumäniendeutschen Literatur lange Zeit eine wichtige Rolle spielen, bis die Aktionsgruppe Banat einige Jahre später von sich reden machte. Einen besonderen Stellenwert hatte in jenen Jahren die Klausenburger Kulturzeitschrift Echinox. Sie wurde von Studenten und jungen Hochschullehrern in drei Sprachen (Rumänisch, Ungarisch, Deutsch) herausgegeben und nahm mit der Zeit eine zentrale Rolle in der zeitgenössischen rumänischen Literatur ein (man spricht in Rumänien heute noch von der sogenannten „Echinox-Autorengeneration“).
Das Zusammenwirken von jungen Intellektuellen unterschiedlicher Nationalitäten, verbunden mit dem – so gut es ging – an bürgerliche Traditionen anknüpfenden Hochschullehrbetrieb (der auf das politische Tagesgeschehen – dem er doch auf Gedeih und Verderb ausgeliefert war – gelegentlich mit Herablassung blickte), ließ in Klausenburg eine Atmosphäre entstehen, die geistigen Auseinandersetzungen eine Zeitlang vergleichsweise mehr Spielraum bot als in anderen rumänischen Universitätsstädten.
Gleichzeitig schien es, in den späten sechziger und frühen siebziger Jahren, als könnten die jungen Intellektuellen Rumäniens den Zustand ihrer geistigen Unrast zumindest teilweise in die offizielle Politik von damals einbringen. Kurze Zeit vorher war Nicolae Ceauşescu mit ehrgeizigen Zielen und spektakulären Gesten an die Spitze des Landes getreten. Vor allem seine Weigerung, sich am Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts in die Tschechoslowakei zu beteiligen, brachte ihm Kredit in der Bevölkerung ein. Kein Intellektueller Rumäniens – gleich welcher Nationalität – wird je den 21. August 1968 vergessen, den Tag, an dem Nicolae Ceauşescu bei einer Kundgebung auf dem Bukarester Platz der Republik die Intervention als einen „Akt imperialistischer Aggression“, der „unerlaubten Einmischung in die inneren Angelegenheiten“ eines reformfreudigen „sozialistischen Bruderlandes“ brandmarkte. Es war damals durchaus keine Schande, der Kommunistischen Partei Rumäniens beizutreten; die Parteimitgliedschaft war eine Zeitlang gerade für aufgeklärte und politisch liberale Intellektuelle möglicher Bestandteil einer realen Alternative, einer Hoffnung auf Beteiligung an der Verwirklichung eines realen Sozialismus mit menschlichem Antlitz – wie Dubcek ihn in der Tschechoslowakei gerade vorantreiben wollte.
In dieser politischen und geistigen Atmosphäre hat Franz Hodjak zu schreiben begonnen; und mit ihm andere, annähernd gleichaltrige deutschsprachige Autoren wie Gerhardt Csejka, Bernd Kolf, Rolf Frieder Marmont, Peter Motzan, Frieder Schuller, Gerhard Schulz u.a. – vor allem aber die Lyrikerin Anemone Latzina, deren 1971 vom jungen Verlagslektor Franz Hodjak veröffentlichter Gedichtband Was man heute so dichen kann die Emanzipation der rumäniendeutschen Lyrik nicht nur von politischen Dogmen, sondern auch von den nicht weniger starken Zwängen einer traditionslastig-provinziellen oder einer die Moderne künstlich nachahmenden Literaturbetrachtung markierte. Ein Text aus diesem Gedichtband von Anemone Latzina mag für viele andere stehen, die in ihrer Wirkung auf gleichaltrige und jüngere schreibende Kollegen nicht zu überschätzen waren:
WIDERLICHE ERKENNTNIS
Ich hab noch nie ein Fenster zerbrochen
und noch nie an frischen Toten gerochen,
Ich hab noch nie Schildkröten gegessen
und hab noch nie im Kittchen gesessen.
Ich bin noch nie unter Bäumen aufgewacht
und hab noch nie Liebe im Meer gemacht.
Ich hab noch nie einem Neger die Hand gedrückt
und noch nie einen Menschen in den Tod geschickt.
Ich hab mich noch nie am 13. Mai verliebt
und noch nie vier blonde Kinder gekriegt.
Ich bin noch nie restlos lustig gewesen
und hab noch kein albanisches Buch gelesen.
Ich hab noch nie Absinth getrunken
und noch nie nach Traktorenfabrik gestunken.
Ich bin noch nie mit der Fünfer Terminus gefahren
und hab noch nie keine kleine Illusion begraben.
Ich hab noch nie LSD genommen
und hab noch nie einen Orden bekommen.
Ich hab noch nie Polonaise getanzt
und noch nie eine Dattelpalme gepflanzt.
Ich hab noch nie eine Katze erschossen
und hab noch nie Überfluß genossen.
Ich hab mich noch nie von innen gesehn
und werd – wahrscheinlich – nie Selbstmord begehn.
P. S. (Irgendwann werd ich ganz sicher sterben.
Dieser Text kann gekürzt und verändert werden.)
4.
Der poetische Lakonismus solcher und ähnlicher Gedichte, mit dem Anemone Latzina die Verletzungen des Individuums zur Sprache brachte, ohne sie gleichzeitig mit den Metaphern der Sklavensprache wieder zuzuschütten; das nüchterne Pathos, das sie in den Dienst der Sache (hier: des Gedichts) stellte, statt es dem Text überzuordnen; das Understatement, das nie in puren Zynismus umschlug – all dies hatte einen großen Einfluß auf die frühen Texte der jüngeren rumäniendeutschen Lyriker. Auch wenn man sich durch Temperament und Erfahrung für eine andere Schreibart entschied – man wußte: hier, bei Anemone Latzina, mußte man ansetzen, wenn man Gedichte schreiben wollte, die einerseits der erlebten Wirklichkeit Rumäniens und andererseits dem modernen Kunstcharakter deutscher Literatur gerecht werden wollten.
Nicht, daß es den Rumäniendeutschen damals an Informationen über die zeitgenössische deutsche Literatur in Ost und West, in Österreich und in der Schweiz gefehlt hätte. Einen so selbstverständlichen Umgang mit den Büchern moderner Autoren wie er hierzulande möglich ist, konnte man zwar nicht pflegen; aber die relativ liberale Informationspolitik machte es ein paar Jahre lang möglich, in den Universitätsbibliotheken Hugo Friedrich und Levi-Strauss in der richtigen Reihenfolge zu lesen; wenn in den Literaturseminaren von Trakl und Werfel die Rede war, weil gerade der deutsche Expressionismus „dran“ war, brüteten die Interessiertesten unter den Studenten außerhalb der Uni auch über Hans Henny Jahnn oder Carl Sternheim. Und in den Buchhandlungen kauften die Literaturbesessenen unterm Ladentisch und für relativ viel Geld Taschenbuchausgaben von Hans Magnus Enzensberger ebenso wie von Ernst Jandl, Neuerscheinungen von Günter Kunert ebenso wie von Volker Braun oder Karl Mickel.
Und noch etwas erscheint mir in diesem Zusammenhang bemerkenswert: Literatur – auch jene von Zeitgenossen wurde fast mit einer Art von Gläubigkeit aufgenommen, die allerdings mit platter Verehrung herzlich wenig zu tun hatte. Es war eine Gläubigkeit, die zu den vielen und verschiedenen Idolen nicht etwa hinaufsah, sondern diese als ebenso viele und verschiedene Möglichkeiten ansah, den begrenzten Spielraum, der vorhanden war, mit Leben und Bewegung auszufüllen. Ein Glauben an die Literatur, der auch mit einer Art von Staunen unterlegt war – darüber, daß es all das gab, was in den Büchern und wie es in den Büchern stand. (Man kann verstehen, was ich damit meine, wenn man sich vor Augen führt, daß noch wenige Jahre zuvor Schule und Universität einen von den Strickmustern des sozialistischen Realismus geprägten Literaturbegriff vermittelt hatten.)
Spielräume war denn auch der gewiß programmatisch gemeinte Titel eines Gedichtbandes von Franz Hodjak, den der Autor gern und fälschlicherweise als seinen ersten bezeichnet, obwohl ihm schon 1971 eine schmale Sammlung von Texten vorausgegangen war (Brachland), in denen der Autor hierin eher expressionistischen Modellen verpflichtet – eine aus unbekannten Gründen dunkle Welt heraufbeschwört.
Den Titel dieses 1974 erschienenen Gedichtbandes liefert folgendes Gedicht, das die damalige Situation der jüngeren rumäniendeutschen Lyrik treffend beschreibt:
SPIELRÄUME
die freiheit
die täglich
uns spielraum
gewährt
ist immer so groß wie
der spielraum
den täglich
wir der freiheit
gewähren
Der Spiel-Raum, um den es hier geht, die gesellschaftliche Toleranz wie der Frei-Raum des Gedichts – so könnte man die Aussage dieses aphoristisch knappen Textes umschreiben – ist Sache eines sich (noch) als Subjekt begreifenden Individuums. Individuum und Gesellschaft stehen sich (noch) nicht unbedingt als feindliche Kräfte gegenüber. Noch ist von einem „wir“ die Rede; von einem „wir“, mit dem sowohl die Verwalter der Freiheit als auch die Verwalteten gemeint sein können. Natürlich konnte der Text schon zum Zeitpunkt seines Erscheinens in Rumänien nicht mißverstanden werden im Sinne einer simplen, „sozialistischen“ Identifikation des Individuums mit den Ideologen. Freiheit bedeutet immer zuerst die Freiheit des Andersdenkenden – ein Gedanke, den wir in dieser Formulierung Rosa Luxemburg verdanken; Toleranz ist immer praktizierte Toleranz – eine Idee, die man auch aus der Kirche kennt. Beide standen der in Rumänien und anderswo herrschenden Ideologie nicht fern – dem Wortlaut nach und auf dem Papier. Daß Franz Hodjak diesen Gedanken (mit dem erwähnten Hintergrund) sozusagen aus dem Parteiprogramm kommentarlos, fast „nackt“ und mit einer nahezu zufälligen Zeilenbrechung übernimmt und zu einem „Gedicht“ macht – das macht diesen Text zu einem gesellschaftskritischen Text. Er simuliert das kollektive Bewußtsein einer gemeinsamen Verantwortung für die Gesellschaft; einer Verantwortung, derer das gesellschaftliche Kollektiv längst schon enthoben worden war. Insofern täuscht der Text eine Gemeinsamkeit von Individuum und Staatsmacht, von Autor und Zensor lediglich vor – nicht ganz ohne die Hoffnung vielleicht, die vorgetäuschte Gemeinsamkeit könnte letzten Endes doch noch eine überzeugende Wirkung auf eben diese Staatsmacht, auf eben diese Zensur haben und die Komplizität des gemeinsamen Wissens um die öffentliche Freiheitslüge verwandeln in eine tatsächlich gemeinsame Suche nach der realen Utopie des Sozialismus mit menschlichem Antlitz.
In diesem Zusammenhang war Freiheit, war Literatur (es bedeutete in Rumänien eine Zeitlang fast ein und dasselbe) nicht nur für Franz Hodjak eine Vertrauenssache. Es war manchmal auch der Versuch, die Gesellschaft und ihre Hüter davon zu überzeugen, daß man zu ihrer Veränderung mit den besten Absichten angetreten war; mit dem festen Vorsatz, das Geschäft dieser Veränderung nicht mit äußersten Mitteln zu betreiben, und mit der Hoffnung, es bestehe keine Notwendigkeit, zu diesen äußersten Mitteln zu greifen.
Viele von Franz Hodjaks früheren Gedichten lesen sich heute wie Entwürfe von vertrauensbildenden Maßnahmen mit literarischer Prägung. Vertrauen: es fehlte im Verhältnis der Menschen zu Gesellschaft und Staat, weil Gesellschaft und Staat dem einzelnen nicht mit Vertrauen begegneten, sondern ihn mit Kontrolle einengten.
Daß unter diesen Voraussetzungen Vertrauen nichts anderes war als Bestandteil einer staatlich organisierten Erpressung, blieb auch Franz Hodjak nicht verborgen. Diese sich allmählich vollziehende Entdeckung, der Verlust der letzten Illusionen von der Partizipation des einzelnen am gesellschaftlichen Veränderungsprozeß, ist sicher schmerzhaft gewesen. Auf Hodjaks Poetik hat er in mehrfacher Hinsicht einen großen Einfluß gehabt.
Wie sich Hodjaks Gedichte unter dem Eindruck dieser Enttäuschung verändert haben, läßt sich gut an zwei Texten zum gleichen Gegenstand ablesen, die in einem zeitlichen Abstand von etwa zehn Jahren entstanden sind. In dem 1976 erschienenen Gedichtband offene briefe steht ein Gedicht, das im Titel den Namen eines Dorfes aus der siebenbürgischen Heimat des Autors führt:
KELLING
in der dorfmitte an die
alle häuserzeilen
sich heranschreiben gerade
durch die chronik des staubs daraus
wächst kamille darin picken hühner
geschützt von den weißen hellebarden der kastanien
belagert von großen scharen von gänsen die
majestätisch ruhn in den samtenen falten der hitze
am tor bald verrufen bald gerühmt
von den lästerzungen des lattichs
im hof die legenden abgegrast von hasen
die wände geschmückt
mit den wappen der feuchtigkeit
gesegnet von seiner hoheit dem moderduft
empfängt stolz den hohen besuch
belangloser gäste
die burg trotzig und erschöpft wie
ein greiser bauer
dreimal umgebaut, steht zu lesen
im reiseführer, jetzt end-
gültig renoviert
in den weinfässern der himmel
ist ahnungslos blau
Hier wird eine Welt im Zerfall heraufbeschworen, die heruntergekommene Welt siebenbürgischer Dörfer, noch Jahre bevor Staat und Partei sich daran machten, diese Dörfer real und sozialistisch einzuebnen, organisch gewachsene Landschaft zu „systematisieren“; eine Welt, an deren Zerfall auch deren Bewohner durch Vergangenheitsfixierung, durch Festhalten an starren Lebens- und Denkformen beteiligt sind. Dennoch ist der Grundton des Gedichts poetisch-elegisch, nicht ganz weit entfernt von der Stimmung der Siebenbürgischen Elegie von Adolf Meschendörfer (1877-1963), eines Gedichts, das dem Selbstverständnis von Hodjaks Landsleuten mythische Dimensionen verlieh. Der Verlust dieser Welt mitsamt ihrer überkommenen Werte wird noch im Versuch seiner nüchternen Beschreibung als Schmerz empfunden, der nach Ausdruck sucht.
Ganz anders geht Hodjak im folgenden Gedicht vor, das in dem 1986 erschienenen Band augenlicht steht:
KELLING 3
zehn etwa sterben im jahr
elf wandern ab in die stadt
zwölf fahren zum bruder.
die akazien, klein und verkrüppelt, blühn
mit dem mut der verzweiflung.
In diesem Gedicht ist die Topographie des Dorfes zusammen mit seinen Bewohnern verschwunden. Das Dorf, das für Siebenbürger Sachsen eigentümliche Lebensmilieu stirbt mit seinen Toten – wie auch mit seinen Land- und Republikflüchtlingen. Zu sagen ist nicht viel darüber, der Zustand verträgt keine Ornamentik.
So verändert sich Hodjaks Landschaftslyrik, deren wohl wichtigster Vertreter er unter den jüngeren rumäniendeutschen Autoren war, zunächst weg vom Elegischen und hin zu einem Lakonismus, der Poesie weder braucht noch verträgt. Wo Enttäuschung und Verbitterung herrschen, wo alte Werte verloren gehen und keine neuen Orientierungspunkte gefunden werden (können), dort bleibt ein einziger Gesellschafter übrig: das Nichts.
Hodjaks neuere Gedichte tänzeln förmlich um dieses Nichts herum: Welt-Satiren, Rituale des Grotesken, Zelebrationen des Absurden, Gesten einer traurig-komischen Sinnlosigkeit in einer Welt, die an lauter Sinn-Simulationen zugrunde zu gehen droht. Unter sinnlosen Lebensbedingungen hat auch die Logik der Sprache, auch einer poetisch transformierten Sprache, keinen Sinn mehr, so wie sich auch die reale Welt aus dem Geltungsbereich der Gesetze einer menschlichen Rationalität verabschiedet hat. Ein neueres Gedicht zu einem seiner frühen Lieblingsgegenstände (der siebenbürgisch-sächsischen Kirchenburg) fängt so an:
von oben gesehn gleichen die besserwisser
einem wald von schuhbandeln.
aus allen vier himmelsrichtungen kommen winde,
sagen willkommen, drücken uns die hand.
obacht, obdach, ohnmacht, onkel heißen sie.
das eintrittsbillett in die geschichte schenken wir uns.
(…)
(Michelsberger burg 2)
7.
Im „Nachsatz“ zu Hodjaks in der DDR erschienenem Gedichtband sehnsucht nach feigenschnaps schreibt Wulf Kirsten:
Wenn es der rumäniendeutschen Literatur gelungen ist, aus der provinziellen Enge und Zurückgebliebenheit auszubrechen und Anschluß an die lebendige, flexible Gegenwartssprache und die ihr einhergehenden Stiltendenzen zu finden, so ist dies zu einem guten Teil auch das Verdienst von Franz Hodjak (…).
Zu diesem „Ausbruchversuch“ der Rumäniendeutschen hat Hodjak nicht nur mit Gedichten maßgeblich beigetragen. Seit 1978 hat er in Rumänien vier Prosabücher veröffentlicht. (Mit noch unveröffentlichter Prosa beteiligt er sich am Klagenfurter Wettbewerb des Jahres 1990 um den Ingeborg Bachmann-Preis.) Seine Übersetzungen aus der rumänischen Lyrik (vor allem Ion Barbu, Ion Vinea, A.E. Baconsky) sind Musterbeispiele kompetenter, einfühlsamer Nachdichtung. Und nicht zuletzt hat Franz Hodjak als Lektor der deutschsprachigen Abteilung im Klausenburger Dacia Verlag viele junge rumäniendeutsche Autoren gefördert und Bücher gedruckt, die später, als westdeutsche Verlage sie in ihr Programm aufgenommen hatten, Aufmerksamkeit erregt haben.
Daß Hodjak erst jetzt mit eigenen Texten an die westdeutsche Öffentlichkeit gelangt, scheint mir etwas spät. Daß es nicht zu spät ist, möge dieser Gedichtband beweisen, an dessen Zustandekommen – was Auswahl und Anordnung der Texte betrifft – der Autor maßgeblich beteiligt war. Einen Herausgeber hat er nur so lange nötig gehabt, als er – durch Politik verhindert – die Zusammenstellung und Veröffentlichung seiner Gedichte nicht selbst bewerkstelligen konnte.
Werner Söllner, Nachwort
der die Lebens- und Überlebensumstände im rumänischen Ceauşescu-Staat genau registriert hat, treibt die Siebenbürgische Sprechübung des rumäniendeutschen Lyrikers Franz Hodjak voran.
Zum ersten mal werden seine Gedichte, die sechs Publikationen der Jahre 1974 bis 1988 entstammen, dem bundesdeutschen Leser umfassend vorgestellt, zusammen mit neuen oder nur in Zeitschriften veröffentlichten Gedichten.
Hinter diesen Gedichtzeilen lebt die Erfahrung der allmählichen Auflösung einer Sprachinsel. Die schwierige Position des „Draußen“ und „Drinnen“ hat das Wahrnehmungsvermögen und die Kritikfähigkeit dieses Mittlers zwischen rumänischer und deutscher Literatur sensibilisiert und geschärft – so beschreibt der Dichterfreund Wulf Kirsten die Kraftquelle der poetischen Figurationen des Sprachgrenzgängers Franz Hodjak. Sein lyrisches Repertoire umfaßt das Liebes- und das Landschaftsgedicht, das Tagebuch- und das Porträtgedicht, und seine Tonlagen sind vielstimmig: sarkastisch-satirisch, bänkelsängerisch, surreal verfremdet, lakonisch-unpathetisch oder bohemehaft-sentimental.
„Traumklar, oppositionell, einsam wahr“ sind die Gedichte (Frankfurter Allgemeine Zeitung).
Die vorliegende Auswahl wurde von dem aus Rumänien stammenden Lyriker Werner Söllner zusammengestellt und mit einem Nachwort versehen.
Suhrkamp Verlag, Klappentext, 1990
Harald Hartung: Schreibmaschine, sei mein Koch
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6. 8. 1990
Ernest Wichner: „die nachwelt winkt aus dem zug“
Süddeutsche Zeitung, 10. 10. 1990
Fitzgerald Kusz: Gleich wieder weg
Nürnberger Nachrichten, 26. 10. 1990
Hans Bergel: Franz Hodjak: „Siebenbürgische Sprechübung“
Südostdeutsche Vierteljahresblätter, Heft 3, 1990
Alexander von Bormann: „Weder Angriff noch Rückzug“
Neue Zürcher Zeitung, 7. 12. 1990
Klaus Hensel: Die Kür eines Altmeisters
Frankfurter Rundschau, 10. 1. 1991
Stefan Brams: An Texten ‚bosseln‘, um dem Wahnsinn zu widerstehn
Neues Deutschland, 10./11. 8. 1991
Dieter Schlesak: Utopie und Randphänomen. Zur rumäniendeutschen Lyrik der neunziger Jahre
Literatur und Kritik, Heft 279/280, 1993
Alexandru Bulucz: Erleidenslyrik
„Der Raum hat mich geprägt“: Interview mit Franz Hodjak in Usingen
Eine Lesung von Franz Hodjak aus unveröffentlichten Texten und ein Gespräch mit den Autoren Werner Söllner und Peter Motzan am 27.5.1992 im LCB.
Enikő Dácz spricht mit Franz Hodjak über Die Erfahrung der Bewegung
Peter Motzan: „Ich wohne in einem Türrahmen“
Ostragehege, Heft 35, 2004
Tom Schulz: Sehnsucht nach Feigenschnaps
Neue Zürcher Zeitung, 26.9.2014
Georg Aescht: Mühlen antreiben, doch welche? Franz Hodjak (70) weiß Letzteres nicht und tut Ersteres erst recht
Siebenbürgische Zeitung, 19.10.2014
Alexandru Bulucz: Meister der Erleidenslyrik
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.9.2024
Franz Hodjaks Laudatio zum Siebenbürgisch-Sächsischer Kulturpreis 2013 in der St.-Pauls-Kirche Dinkelsbühl.
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