MONUMENT
(23.2.1983)
alle leute geben diese hand,
gewährter ferne licht zu halten;
alle läuten, heben die wand,
gefährden sterne nicht zu zeigen nur:
brüll nicht ich ins maul der löwen,
füllst nicht du den bärn der tatzen,
um das mass des frasses aufzuessen?:
„alles beute leben band“ zum beispiel,
verzehrtem gerne nicht zu geigen nur:
wird das nicht zum wicht im felle,
wird nicht wer zur sicht im lauf der helle?:
alle häute graben ihren stand,
alle leute haben diesen rand,
um den frass des masses abzumessen.
Der Ausdruck „Gelegenheitsgedichte“ wird hier nicht ausschließlich in der üblichen Weise gebraucht, nämlich Gedichte bezeichnend, die aus einem bestimmten Anlass entstehen: Hier seien Gelegenheitsgedichte auch diejenigen, die im Vergleich zu meinen sonstigen, mehr systematischen Arbeiten (wenn auch von jener Systematik aus) eher meinen Launen unterworfene Wege gehen.
Dass die Gedicht datiert sind, heisst, dementsprechend, nicht, dass sie an einem bestimmten Tag geschrieben worden sind, sondern, dass sie an einem bestimmten Tag begonnen wurden.
Franz Josef Czernin, Nachwort
Christian Steinbacher: Franz Josef Czernin: „Gelegenheitsgedichte“
Oberösterreichischer Kulturbericht, 30. 7. 1987
– Franz Josef Czernin im Gespräch mit Michael Müller. –
Michael Müller: Herr Czernin, Sie haben Ihre literarische Produktion immer auch durch theoretische Reflektion begleitet. Sie haben Essays veröffentlicht, zuletzt in Ihrem Band Sechs tote Dichter; eine spektakuläre Aktion war es jedoch, mit der Sie vor allem poetologische Diskussionen ausgelöst haben: 1987 haben Sie im renommierten Residenz-Verlag gemeinsam mit Ferdinand Schmatz den Gedichtband Die Reisen publiziert, den Sie nachträglich als „literatursoziologisches Experiment“ decouvrierten: Sie ließen die Öffentlichkeit wissen, daß Sie in diesem Band „schlechte“ Gedichte veröffentlicht hätten. Worum ging es Ihnen bei dieser Aktion?
Franz Josef Czernin: Das liegt so weit zurück, daß ich schon gar nicht mehr darüber nachdenken will, ehrlich gesagt. Man kann diese Aktion natürlich theoretisch legitimieren, aber in Wirklichkeit war es eher der Ärger darüber, vollkommen übersehen worden zu sein, oder – etwas objektiver ausgedrückt – darüber, welche Kriterien herrschen und wie leicht es ist, Texte herzustellen, die überall veröffentlicht und rezensiert werden. Aber man kann nicht sagen, daß der Zweck der Aktion sehr klar war, noch, daß sie eine Wirkung hatte, die man als sinnvoll bezeichnen könnte. Sie ist genauso verpufft wie irgend ein anderes Medienereignis.
Müller: Für Sie selbst hatte diese Aktion aber immerhin den Sinn, in einem Materialienband, in Die Reise. In achtzig flachen Hunden in die ganze tiefe Grube, Ihre Kriterien für die qualitative Bewertung von Gedichten zu formulieren. Glauben Sie, daß tatsächlich objektive Kriterien dafür formulierbar sind?
Czernin: Ich glaube; es gibt diese Kriterien, aber sie sind nicht formulierbar. Sie sind durch Intuition begreifbar. Aber in dem Moment, in dem man Argumente dafür sucht, weil man sich oder andere zu diesen Kriterien überreden will, in diesem Moment spricht man notgedrungen eine äußerst mißverständliche und vieldeutige Sprache. Es mag diese Kriterien geben, aber sie müssen oder können nur mißverständlich ausgedrückt werden. Ich stelle mir vor, daß große Literaturkritiker in der Lage sind, so zu überreden, daß man eine Ahnung von der Objektivität dieser Kriterien bekommt. Allerdings nicht mehr als eine Ahnung.
Müller: Im Begleitband zu den Reisen kritisieren Sie an „schlechten“ Gedichten die fehlende Komplexität ihrer Strukturierung. Ist Komplexität für Sie eines der zentralen Merkmale eines „guten“ literarischen Textes – oder wäre das zu einfach ausgedrückt?
Czernin: Nein, das ist nicht zu einfach ausgedrückt: es ist wahrscheinlich nicht anders ausdrückbar. Aber wir hätten da wieder das erwähnte Problem, denn es könnte jemand mit gutem Recht einwenden, daß gerade „Einfachheit“ ein genauso gutes Qualitätskriterium sei. Man kann diese Argumente nicht ganz wörtlich lesen, das ist das Problem. Man muß sie in einen Kontext versetzen, in dem sie sozusagen schwebende Bedeutung bekommen, und jeder ist dann aufgerufen, sie aus seinen Erfahrungen irgendwie zu vervollständigen.
Müller: Kann man also sagen: Sie vertreten Ihr poetologisches System, in dem Komplexität einen hohen Wert darstellt; denkbar sind jedoch auch andere poetologische Ansätze, mit Wertsetzungen, die Sie aber für falsch halten?
Czernin: Nein, so würde ich das nicht ausdrücken. Auch für mich selbst stellt unter Umständen Einfachheit einen höheren Wert als, Komplexität dar. Es kommt eben auf die Umstände an. Zum Beispiel versuche ich gerade, für einen Freund, der Schauspieler ist, Chansons zu schreiben. Dabei ist Einfachheit auf einer sprachlichen Ebene geradezu ein wesentliches Kriterium. Hier muß die Komplexität auf eine andere Weise, gewissermaßen hinterrücks, auftauchen.
Müller: Die Komplexität läge in diesem Fall also nicht an der Oberfläche, wie bei Ihren Gedichten, die ja auf den ersten Blick sehr kompliziert wirken, weil sie die normale Syntax aufbrechen?
Czernin: Genau. Es ist eine sehr interessante Möglichkeit, die Komplexität zu verbergen, indem man einfach den normalen Sprachgebrauch in Anspruch nimmt und gar nicht exzentrisch wirken will.
Müller: In Ihrer Lyrik haben Sie aber einen andern Weg gewählt?
Czernin: Ja, vielleicht. Aber in dem neuen Band Gedichte gibt es auch Beispiele, bilde ich mir ein, die an der Oberfläche einfach strukturiert sind. Ich glaube auch nicht, daß die normale Syntax in meinen Gedichten völlig aufgebrochen wird – sie wird nur sehr komplex entfaltet, sie wird aber nicht durchbrochen.
Müller: Sind die Kriterien für gute und schlechte Lyrik, die man, wie Sie sagen, nicht formulieren kann, die es aber gibt, sind das sozusagen überzeitliche, dem „System Literatur“ innewohnende Kriterien, oder muß jede Epoche sie neu definieren?
Czernin: Das frage ich mich auch. So wie ich es gerade definiert habe, daß die Kriterien sozusagen da sind, aber nicht unmißverständlich ausgedrückt werden können, könnte das implizieren, daß sie auf eine seltsame Weise überzeitlich sind. Wenn man das allerdings behauptet, dann wird die Möglichkeit, einander mißzuverstehen, noch viel größer, vermute ich. Aber ich würde nicht von vorneherein ausschließen, daß diese Kriterien gattungsimmanent oder kunstimmanent sind, daß sie sich gar nicht so stark verändern, wie sich aus den sich stark verändernden Ausdrucksformen scheinbar schließen läßt.
Müller: In Ihren theoretischen Äußerungen haben Sie immer wieder betont, die Qualität eines Gedichtes hänge unter anderem davon ab, ob es die Sprache nur als Medium benutze, um irgend etwas „anderes“ ein Gefühl, eine politische Haltung – auszudrücken, oder ob die Sprache als Material ernstgenommen und funktionalisiert werde.
Czernin: Ja, aber das ist nicht nur meine Ansicht. Das ist doch Konsens, jedenfalls was Lyrik angeht. Bei Prosa scheint es komplizierter zu sein – obwohl ich glaube, daß es da auch nicht wesentlich anders ist.
Müller: Auch sogenannte bedeutende Literaturkritiker führen immer wieder das Kriterium an, es sei entscheidend, ob ein Gedicht „gefühlt“ sei oder nicht.
Czernin: Das ist das unbrauchbarste Kriterium überhaupt. Es postuliert nämlich eine Art mystische Übereinstimmung mit dem Gedicht, beziehungsweise mit dem Autor des Gedichts. Es läßt sich zwar von vornherein nicht ausschließen, daß so etwas auch mitspielt – aber als Kriterium kann man damit kaum etwas anfangen.
Müller: Der sogenannte „persönliche Stil“ wird ebenfalls oft ins Feld geführt. Wie denken Sie darüber?
Czernin: Ich kann mir das schwer als Vorsatz vorstellen. Wodurch würde sich das unterscheiden von einem Tick, den man sich langsam anerzieht? Von einem Manierismus? Davon hat man ja im täglichen Leben genug. Man ist sowieso dauernd viel zu eigenartig, zu beschränkt auch, und zu wenig fähig zu verschiedenen, ungewohnten Kombinationen.
Müller: Es werden heute kaum noch literarische Programmatiken formuliert, sei es von Autoren, sei es von Kritikern. Liegt das daran, daß der Literaturbetrieb alles schluckt, daß jeder schreiben kann, was und wie er will, daß es weder inhaltliche noch formale Tabus mehr gibt?
Czernin: Ja, ich habe manchmal den Verdacht, daß das Niveau literaturkritischer Auseinandersetzungen besonders niedrig ist. Was vielleicht damit zu tun hat, daß sich alles auch insofern in Beliebigkeiten auflöst, als fast niemand mehr klare Forderungen stellt – natürlich bei aller Zweifelhaftigkeit, die mit solchen Forderungen verbunden sind –, und niemand gewisse Dinge klar ablehnt oder klar gutheißt. Was die lyrische Dichtung betrifft, habe ich den Eindruck, daß alle Kriterien dermaßen beliebig sind, oder so verunklart werden, daß überhaupt nichts dabei herauskommt. Ich bin mir aber nicht sicher, ob das je anders war, denn diese Klagen über das mangelnde Niveau der Kritik gibt es, seit es die Kritik gibt. Und wahrscheinlich immer mit einem gewissen Recht.
Müller: Was ist der Grund für diese Ratlosigkeit der Literaturkritik im Bewerten oder Analysieren von Lyrik?
Czernin: Es ist wahrscheinlich das, was man „Stoffhuberei“ nennen könnte. Man fällt immer auf die sogenannte „Aussage“ herein. Wenn ein Dichter wie Erich Fried einen Satz gegen den Vietnamkrieg schreibt, dann gewinnt er schon deshalb, weil er eine Gesinnung ausdrückt, die viele in einem bestimmten Augenblick teilen. Als Qualität wird das offensichtlich der Lyrik zugeschrieben. Doch das ist ein Kurzschluß.
Ich will damit nicht sagen, daß das Ethische im Prozeß des Schreibens nicht existiert. Wenn es aber so etwas gibt wie eine Ethik, der man beim Schreiben folgt, dann zeigt sie sich darin, daß man die Bedingungen dessen, was man gerade tut, möglichst genau berücksichtigt, und nicht dadurch, daß man von vorneherein wieder nur das ausdrückt, was man unter normalen Umständen auch leicht denken könnte.
Müller: Diese „Stoffhuberei“ führt dann wohl auch dazu, daß die Literaturdiskussion der letzten Jahre, vor allem seit der Wende in der DDR, fast nur noch die politischen Einstellungen der Autoren und ihre „Lebensansichten“ thematisiert, nicht aber die literarische Qualität ihrer Texte.
Czernin: Ja, richtig. Und das ist natürlich nicht besonders interessant. Genauso wenig interessant, wie einen Fußballspieler über die Weltlage zu befragen, ist es, von einem Schriftsteller etwas dazu wissen zu wollen. – Andererseits, so stimmt das auch nicht ganz. Der herkömmliche Totalitätsanspruch an die Kunst hat ja auch etwas für sich. Man kann sich nicht selbst als reinen Spezialisten diskreditieren, weil man das ja nicht ausschließlich ist, wenn man Literatur betreibt, oder irgendeine Art von Kunst. Nur wird, glaube ich, das Gewicht falsch verteilt. Und außerdem könnte man ja aus dem Umgang mit der Kunst lernen, daß man meistens in viel zu großen und abgekarteten Wirklichkeitsbegriffen denkt.
Müller: Historisch kommt wahrscheinlich die Vorstellung, daß der Schriftsteller ein Fachmann für Gott und die Welt ist, daher, daß man meint, wer schreiben kann und etwas sagen kann, der muß auch zu allem etwas sagen können.
Czernin: Andererseits kann man ja nicht leugnen, daß man solche Bilder unwillkürlich ununterbrochen entwirft. Man denkt an Jugoslavien, man denkt an diesen Krieg, und schon bilden sich zustimmende oder ablehnende Aussagen, notgedrungen generalisierende Aussagen. Ich habe dabei allerdings meistens das Gefühl, daß ich eher gesprochen werde, als daß ich irgend etwas selbst erkenne. Wenn ich aber nichts dabei erkenne, kann ich mir die Aussagen eigentlich auch ersparen.
Müller: Wie stehen Sie zu dem Gespenst, das man „Postmoderne“ nennt?
Czernin: Manchmal glaube ich, ich verstehe, was damit angedeutet wird, worauf sich der Begriff bezieht, manchmal glaube ich das nicht. Wenn damit gemeint ist, daß man Anleihen bei der Literaturgeschichte macht, daß man zitiert, sozusagen mit Versatzstücken arbeitet, dann kann das in der Literatur eine interessante Methode sein. Das hängt wohl vom Autor ab. Für mich selbst ist es insofern ziemlich abliegend, als ich denke, man sollte in seiner Literatur keine Bildungsvoraussetzungen machen, oder höchstens als eine Konnotation unter vielen. Eine Literatur, die nur als Entschlüsselung von zunächst unerkannten Bildungstopoi funktioniert, würde mich nicht interessieren, weil sie ein Bildungsbürgertum voraussetzt, das ich nicht in mir finde.
Müller: Was halten Sie von den Experimenten der 50er und 60er Jahre, also von der Konkreten Poesie, oder von Heißenbüttels Entwicklung des Textbegriffs? Sind diese Experimente für Ihre Literatur von Bedeutung?
Czernin: Ja, das war ein Hauptteil meiner – wenn man das so sagen darf – ästhetischen Sozialisation. Ich habe mich jahrelang damit beschäftigt, vor allem mit den Arbeiten der Wiener Gruppe, mehr als mit Heißenbüttel oder anderen Deutschen. Ich habe dadurch eine Art Selbstbewußtsein für das bekommen, was ich selber machen wollte. Für mich war das ganz entscheidend. Es gab damals für mich auch einen Zusammenhang zwischen zeitgenössischer Philosophie und dem Schreiben, diese Literatur war für mich auf der Höhe der Zeit.
Müller: Die Experimente der Konkreten Poesie, aber auch anderer Formen experimenteller Literatur, sind meiner Meinung nach seit einiger Zeit an ihre Grenze gelangt. Dennoch schreiben manche Autoren immer noch konkrete Literatur, perpetuieren also diese Art von Literatur, und andere, wie Oskar Pastior zum Beispiel, sind ins Kunsthandwerkliche abgewandert, schreiben ein Palindrom-Buch nach dem andern. Glauben Sie, daß dabei noch etwas die Literatur Befruchtendes herauskommt?
Czernin: Ich glaube, daß das historisch ist, daß man davon eigentlich nichts wesentliches mehr erwarten kann. Aber man kann sich da auch täuschen; manches kommt ja nach einer Weile plötzlich in einer unerwarteten Form wieder. Aber im Moment kommt mir das alles nicht sehr fruchtbar vor. Die Basis der Konkreten Poesie war von vornherein zu schmal, scheint mir. Wenn sich Gomringer auf Mallarmé berufen hat, dann war das, höflich ausgedrückt, sehr vereinfachend. Ich würde eher sagen, daß Mallarmé Gomringer enthält, als daß Gomringer Mallarmé in einer sinnvollen Bedeutung dieses Worts enthält.
Müller: Was heißt das, die Basis war zu schmal?
Czernin: Ich kann mir vorstellen, daß es irgendwann mal schadet, wenn man es nicht versteht, mehrere verschiedenartige Traditionen der Literatur in seine eigene Literatur zu integrieren. Damit meine ich nicht eine Art von postmodernem Zitieren, sondern innerliches Verarbeiten der Konsequenzen. Und das war mit dem Reduktionismus, der in der Konkreten Poesie gesteckt hat, nicht möglich. Die meisten Traditionen wurden von ihr von vornherein nicht beachtet, und deshalb ist die Konkrete Poesie eine historisch ziemlich klar eingrenzbare und sehr kurzzeitig fruchtbare Phase gewesen – ganz ähnlich wie der deutsche literarische Expressionismus, der sich auch auf bestimmte Dinge kapriziert hat und die meisten anderen Dinge einfach ignorierte, so daß sie nicht mal mehr per Negation oder rhetorische Andeutung enthalten waren.
Müller: Gibt es in der Literatur etwas wie Fortschritt oder Entwicklung?
Czernin: Es gibt eine Entwicklung. Man kann sagen, es verändert sich etwas, aber nicht im Sinne einer Entwicklung zum Höheren. Aber sicher bin ich mir da nicht. Wenn man sehr alte, primitive Formen von Literatur ansieht, tut man sich ziemlich schwer, ohne ein Fortschrittsmodell auszukommen.
Müller: Es gibt also eine Ausdifferenzierung der literarischen Mittel, die man als Fortschritt bezeichnen könnte?
Czernin: Ja, und zugleich als Verlust von Naivität. Aber wenn man Literatur als Erkenntnisform ernst nimmt, dann ist ja der Verlust von Naivität kein Verlust im eigentlichen Sinn, sondern eher ein Gewinn.
Müller: In welchem Sinne ist Literatur eine Erkenntnisform?
Czernin: Das ist eine Frage, die mich ununterbrochen beschäftigt und die ich auch durch meine Literatur zu beantworten versuche. Gerade deshalb fällt es mir schwer, darüber etwas in wenigen Sätzen zu sagen… Kunstspezifische Erkenntnis hat jedenfalls etwas mit dem Totalitätsanspruch der Kunst zu tun. Idealiter ist etwa in einem Gedicht für alles gesorgt, steht alles miteinander in wechselseitiger, konstruktiver Beziehung: sinnliche Wahrnehmung und Begriffliches, oder bildliche Vorstellung und Reflexion, oder die Vorgänge des Selbst-Begreifens und des Welt-Begreifens, oder auch die raumzeitliche Dynamik des Verstehens in ihrem dialektischen Widerspruch zu den Begriffen.
Müller: Im Vor-Wort zu Ihrem 1992 erschienenen Gedichtband, der lakonisch Gedichte heißt, bezeichnen Sie Ihre Texte als Teil einer„systematischen Erforschung der Dichtkunst“. Das klingt sehr wissenschaftlich. Sind Dichtung und Wissenschaft für Sie vergleichbar?
Czernin: Ich verstehe den Begriff „erforschen“ nicht wissenschaftlich. Ich meine damit das Herausfinden von Möglichkeiten oder das Erschöpfen möglichst vieler Aspekte; „erschöpfen“ ist natürlich zweideutig. Mit Wissenschaft hat das nichts zu tun. Ich nenne das Ganze ja „Die Kunst des Dichtens“, das hat einen leicht didaktischen und zugleich einen barocken Aspekt. In diesem barocken Sinn könnte man es auch als Wissenschaft bezeichnen. Aber keinesfalls wie die Naturwissenschaft; „wissenschaftlich“ in diesem Sinn sollte eigentlich gar nicht anklingen.
Müller: Aber eine gewisse Grundintention teilen Sie mit der Wissenschaft, nämlich die Systematik. Während sonst in der Literatur oft irgendwelche Formen in irgendwelchen Texten einfach angewendet werden, versuchen Sie immer Rechenschaft darüber zu geben, in welchem systemischen oder paradigmatischen Rahmen diese Formen stehen.
Czernin: Ja, das ist mir wichtig. Dafür sollte der Band Gedichte erste Beispiele liefern. Ich habe allerdings auch im Vorwort gesagt, daß ich nicht weiß, ob ich darüber hinauskommen werde, weil ich mir gar nicht klar bin über den Begriff „systematisch“. Ich weiß nur, daß ich bestimmte Strophenformen, Reimformen und rhetorische Operationen immer wieder miteinander verbinde und mir dabei klar darüber zu werden versuche, wann und unter welchen Umständen ich welche miteinander verbinde.
Müller: Erforschen bedeutet also, Sie versuchen herauszubekommen, wie reich die Möglichkeiten sind, die man auf allen sprachlichen Ebenen hat, von der Semantik über die Rhetorik bis hin zu Gedichtformen?
Czernin: Genau. Ich setze mir dabei jeweils einen Rahmen und schränke dadurch die Möglichkeiten ein, und versuche dann innerhalb dieses Rahmens möglichst geschickt zu sein – „geschickt“ allerdings auf so etwas wie ein unbekanntes Ziel hin, auf das, worauf alle diese Verfahren hinauslaufen sollten.
Müller: Sind die großen Experimente dieses Jahrhunderts, wie Expressionismus, Dada oder Konkrete Poesie, Vorläufer Ihrer Erforschung der Möglichkeiten der Dichtkunst?
Czernin: Vorläufer würde ich nicht sagen. Diese Literaturrichtungen haben innerhalb eines bestimmten Rahmens eben etwas bestimmtes erforscht. Daß der Rahmen, den ich mir stecke, mir selbst weiter erscheint, bedeutet ja nicht, daß er das tatsächlich ist. Denn es ist ja nicht absehbar, wie sich diese Möglichkeiten durch mich selbst, durch meine eigenen Angewohnheiten einschränken. Wenn ich die Form des Sonetts erforsche, dann erforsche ich ja nicht allgemein die Form des Sonetts, sondern ich tue das gebrochen durch meine persönlichen, lang antrainierten Verfahrensweisen – ob ich will oder nicht, und ich will natürlich gar nicht so gern.
Wenn meine Verfahrensweisen mit der Form des Sonetts zusammentreffen, erzeugen Sie etwas, was natürlich nicht die Erforschung des Sonetts ist. Insofern, wenn ich ein „konkretes“ Gedicht schreiben würde, was innerhalb eines solchen Systems durchaus passieren könnte, dann hätte ich natürlich viel weniger getan als eine ganze Epoche, die innerhalb der „Konkreten Poesie“ alles mögliche erforscht hat, wenn auch auf mehrere Autoren verteilt.
Müller: In dem 1985 erschienenen Band Die Kunst des Sonetts haben Sie ein einziges Wortfeld, das Feld „Wald/Holz“ in 196 Texten immer wieder variiert und permutiert. Weshalb haben Sie dafür ausgerechnet die Gedichtform des Sonetts gewählt? Liegt das daran, daß die poetologische Theorie des Sonettkranzes ebenfalls eine Metaphorik aus diesem semantischen Feld benutzt, von „Wurzel-“ und „Stammsonett“ spricht?
Müller: Das hat auch eine Rolle gespielt, aber ich habe die Form des Sonetts vor allem deswegen gewählt, weil alle diese Gedichte, und auch das ganze Buch, ein stark reflektierendes Element haben, und das herkömmlicherweise auch für das Sonett charakteristisch ist. Man sagt ja „Gedankenlyrik“ dazu, ein unglücklicher Ausdruck, aber er hat etwas damit zu tun, daß man sich sozusagen reflektierend, nachdenkend weiterbewegt.
Müller: Die Kunst des Sonetts ist gewissermaßen ein totales System: Es wird sprachlich über einen Weltausschnitt gesprochen, diese Äußerungen werden variiert, dann wird über die Sprache gesprochen, und schließlich wird sogar über einzelne Gedichte im Buch selbst gesprochen – bestimmte Gedichte bestehen ja nur aus Zeilen wie „Die 9. Zeile des 98. Sonetts“. Es wird eine potentiell endlose Folge von Metaebenen aufgebaut, so daß sozusagen eine Art geschlossene, alles enthaltende Welt des Sprechens über einen Wirklichkeitsausschnitt entsteht.
Czernin: Ja, das stimmt. So habe ich mir das auch vorgestellt. Es gibt auch ein Sonett, das besteht aus den Ordnungszahlen für alle anderen Sonette, da hat man quasi das ganze Buch auf einer Seite.
Das ist ein Metasonett über alle Sonette. Es ist eine romantische Idee, wenn man so will; diese Art von Reflexion der Reflexion und Potenzierung der Reflexion hat für die Romantiker eine große Rolle gespielt.
Dazu kommt noch ein anderer Aspekt, nämlich der, daß man etwas in einem einzigen Feld abhandelt, das dann pars pro toto für alles andere steht. Das ist das, was Benjamin „romantische Ironie“ nennt. Man hat eine Grenze, und gerade weil diese Grenze so deutlich ist, ahnt man etwas von dem – oder kann es beziehen auf das –, was außerhalb der Grenze liegt.
Müller: Innerhalb der engen Grenzen eines poetischen Systems wie der Kunst des Sonetts wird also ein Modell der ganzen Welt errichtet?
Czernin: Ja, genau. Es gibt einen Film, in dem ein Gärtner amerikanischer Präsident wird. Dieser Gärtner äußert immer nur irgendwelche Begriffe aus der Pflanzenwelt, aber jedermann bezieht es auf politische oder sonstige Zusammenhänge. So ähnlich könnte man auch behaupten, daß ich, wenn ich über Pflanzen spreche, über ganz andere Dinge spreche. Ein Gespräch über Bäume muß ja nicht ein Gespräch über Bäume sein.
Müller: Soll auch die Kunst des Dichtens, von der ja der Band Gedichte nur ein Anfangsstück ist, ein ähnliches System wie die Kunst des Sonetts werden?
Czernin: Bei der Kunst des Sonetts bin ich sehr weit in die Richtung gegangen, zu sagen, das einzelne Gedicht ist nur ein Element, und eigentlich ist das ganze Buch Das Gedicht. Das einzelne Gedicht kann man hier fast austauschen, in vielerlei Hinsicht, und das ist weit entfernt von der ebenfalls romantischen Vorstellung, das einzelne Kunstwerk sei ein durchgebildeter Organismus, wo alles an seinem Platz stehe, und wenn man nur eine Sache weglasse, stürze es in sich zusammen. Das ist natürlich ein Ideal, das anzweifelbar ist, aber es ist ein interessantes Ideal.
Bei der Kunst des Sonetts hab ich mich sehr weit von dieser Idee entfernt, und zudem das „Organische“ des Wortfeldes, das sich ja auf Pflanzen bezieht, fast kontrastiert mit den mechanischen Permutationen und mit dem brachialen „Zurichten“ dieser organischen Entitäten. Bei den neuen Gedichten dagegen hat jeder Text seine eigene Gestalt, und die ist relativ bestimmt, auch wenn es sehr viele Gestalten gibt, die einander ähnlich sind.
Müller: Der Band Gedichte ähnelt den Sonetten insofern, als sich auch in ihm einige wenige semantische Felder – wie „Landschaft“, „Körper“, „Kleidung“, „Haus“ etc. – hindurchziehen.
Czernin: Zwischen diesen Feldern bestehen metonymische Beziehungen, wenn man so will: Der Körper ist das Innerste, dann kommt die Kleidung, dann das Haus, dann die Landschaft. Diese Felder sind wie die verschiedenen Schichten eines einzigen Gegenstands.
Müller: Ihre Gedichte, zumindest die Sonette, zeichnet aus, daß sie ihre Übertragbarkeit selber wieder als Bestandteil der Texte thematisieren, und das auf mehreren Ebenen.
Czernin: Ja, das stimmt. Wahrscheinlich ist das bei den neuen Gedichten sogar noch stärker. Zum Beispiel könnte in einem Gedicht die Relation drinstecken. daß sich Kopf zu Arm so ähnlich wie Wipfel zu Zweig verhält. Ähnliche Relationen kommen nun in verschiedenen Formen vor. Man bildet dann sozusagen ein abstraktes Modell, in das alle diese Relationen hineinpassen und überträgt sie aufeinander. Und zwar nicht so, wie normalerweise in Gedichten, wo man einen Vergleich findet, und dieser Vergleich ist sozusagen die Perle, die man gefunden hat, und die steht dann für eine Ähnlichkeit, die man in der vorgegebenen Wirklichkeit entdeckt hat; man sieht dabei aber nicht die Mechanik oder das System des Vergleichens, das es ja auch geben muß, um den Vergleich mit jener Wirklichkeit überhaupt zu erzeugen. Das ist vielleicht der Unterschied, daß es in meinen Arbeiten noch diese zusätzliche Ebene gibt.
Müller: Durch ihre Komplexität sind Ihre Texte für „ungeübte“ Leser nicht ganz einfach verstehbar. Ist diese Rezeptionsschranke der Preis, den Sie bezahlen für die Entwicklung dichterischer Verfahrensweisen? Oder für „Qualität“ in Ihrem Sinne?
Czernin: Es ist mir kein angenehmer Gedanke, aber es scheint so zu sein. Das liegt aber sicher auch daran, daß fast niemand mehr Gedichte liest, daß man nicht mehr an solche Texte gewöhnt ist – vielleicht war man es aber auch noch nie. Man muß als Leser ein Gedicht immer wieder durchgehen, man muß mit ihm arbeiten. Man kann ein Gedicht nicht von A bis Z lesen. Man kann auch meine Gedichte nicht so einfach herunterlesen.
Müller: Literatur, die nicht einfach zu rezipieren ist, muß sich oft den Vorwurf gefallen lassen, sie sei elitär, nur für einen kleinen Zirkel Eingeweihter bestimmt. Würde Sie dieser Vorwurf stören?
Czernin: Er würde mich stören, aber ich fände ihn ehrlich gestanden unsachlich. Elitär wäre es, wenn ich auf irgendwelche Bildungsgüter anspielen würde, von denen ich nicht voraussetzen kann, daß sie jedermanns Sache sind. Das empfinde ich als elitär und auch als geheimnistuerisch und esoterisch. Aber ich hoffe, daß auch jemand, der literarisch ungebildet ist, meine Texte lesen könnte, wenn er nur offen genug dafür ist. Denn ich verwende ja nur die Worte, die jedermann gebraucht.
Müller: Arno Schmidt hat für eine Unterscheidung zwischen „reiner“ und „angewandter“ Literatur plädiert, ähnlich wie in der Mathematik, wo die „reine“ Mathematik die Methoden entwickelt, die die „angewandte“ dann benutzt. Finden Sie diese Unterscheidung sinnvoll?
Czernin: Ja, sie scheint mir vernünftig, selbst innerhalb der eigenen Literatur. Wenn ich zum Beispiel diese Chansons schreibe, von denen ich gesprochen habe, dann ist das angewandte Literatur. Ich verwende die „reine“ Literatur als Ausgangspunkt, ich verwende, was ich dabei gelernt habe und benutze es in einem bestimmten Genre, wie ein Physiker eine bestimmte mathematische Methode.
Müller: Würden Sie sagen, daß die „angewandte„ Literatur die schlechtere Literatur ist?
Czernin: Nein, nicht im allgemeinen, aber es ist wahrscheinlich, daß sie die schlechtere Literatur ist, besonders wenn der, der sie anwendet, nicht derselbe ist, der sie entwickelt hat.
Müller: In solchen Fällen besteht dann die Gefahr, daß bestimmte experimentelle Formen zur bloßen Attitüde werden.
Müller: So etwas ist beim frühen Handke der Fall, wie Heißenbüttel einmal, ich glaube mit Recht, behauptet hat. Handke hat, wie man in Wien sagt, „gespranzt“, von der Wiener Gruppe vor allem, aber auch von anderen Leuten, und das dann auf eine poppige Weise hingerotzt, „angewandt“ eben.
Müller: Gibt es, neben der Wiener Gruppe und der experimentellen Literatur der fünfziger und sechziger Jahre, eigentlich noch andere Epochen oder literarische Strömungen, die für Sie von besonderer Bedeutung waren?
Czernin: Ja, vor allem die Barockliteratur, wenn man das so allgemein sagen kann. Deren Einflüsse sind nicht so systematisch, aber wenn ich Gedichte von Gryphius lese, begeistert mich das einfach. Und dann vor allem die erste Romantik, die Frühromantik. Philosophisch interessiert mich auch der deutsche Idealismus sehr, denn dort finde ich im Sprachgebrauch sehr viel von dem wieder, wie ich Sprache gebrauche. Besonders interessiert mich Hegel.
Müller: Als „Dichter“ oder als Philosoph?
Czernin: Ja, das ist fast eine historische Frage. Ich würde aufgrund meiner eigenen Lektüre .dazu neigen, zu sagen, er ist Dichter, aber wer will schon ein für allemal festlegen, worin dieser Unterschied genau besteht.
Müller: In ihrem Essay-Band Sechs tote Dichter reflektieren Sie bestimmte Aspekte des Werks von Raoul Hausmann, Franz Kafka, Karl Kraus, Robert Musil, Georg Trakl und Reinhard Priessnitz. Zählen Sie diese sechs Autoren zu Ihrer literarischen „Ahnenreihe“?
Czernin: Bis auf Hausmann würde ich sie zu meiner Ahnenreihe zählen. Trakl gehört ganz sicher dazu, und Musil auch, wenn auch mehr per Negation, weil mir seine Art von realistischer Prosa sehr fremd ist; nah ist mir auf der anderen Seite sein Reflektieren über das eigene Schreiben. Ich bin mir auch gar nicht sicher, ob der Mann ohne Eigenschaften so gelungen ist, wie heute, da dieser Roman eine Art Heiligtum darstellt, allgemein angenommen wird. Vor allem den zweiten Teil, wo versucht wird, den Realismus zu verlassen, oder halbherzig zu verlassen, halte ich für nicht gelungen.
Müller: Eine ähnliche Technik, wie Sie sie in den Gedichten verwenden, nämlich die Elemente eines semantischen Feldes immer neu zu kombinieren und zu permutieren, haben Sie auch in Ihrem ersten, 1991 erschienen Theaterstück benutzt, das genauso lapidar wie die Gedichte einfach Das Stück. Ein Theater heißt. Ist dieses Stück schon aufgeführt worden?
Czernin: Nein. Ich habe es zwar schon einige Male versucht, aber nicht sehr konsequent, weil ich nämlich ahne, daß es mit den derzeit üblichen Theaterpraktiken nur schwer vereinbar ist. Es geht ja vor allem darum, daß zwei Sprachen entwickelt werden, eine verbale und eine Körper- oder Gestensprache. Das heißt, die Schauspieler müßten in bestimmten Augenblicken genau vorgeschriebene Dinge tun, unter Absehung jeglicher Psychologie, oder, wie sie es wahrscheinlich empfinden würden, unter Absehung ihrer Freiheit. Sie müßten sich eigentlich ein wenig wie Marionetten verhalten. Die Dramatik soll aus dem Widerspruch oder manchmal auch aus der Kongruenz zwischen diesen Ebenen entstehen, der sprachlichen und der gestischen.
Müller: Das Theaterstück ist also insofern eine Erweiterung Ihrer poetischen Vorgehensweise, als Sie andere Zeichensysteme mit einbeziehen, die Gesten und die Mimik zum Beispiel?
Czernin: Ja, und zwar die, die für das Theater spezifisch sind. Ich stelle mir vor, daß das Stück überhaupt nur aufgeführt „lesbar“ ist. Als reiner Text ist es, glaube ich, ziemlich schwierig zu lesen, ziemlich mühsam. Es hat etwas sehr puristisches. Ich bin mir auch nicht sicher, ob man das ganze Stück aufführen müßte. Ich fürchte, es würde etwa vier Stunden dauern, und das würde wahrscheinlich nach einer gewissen Zeit unerträglich werden, weil es ja doch sehr abstrakt und sehr konzentriert ist.
Müller: In Ihrem Stück gibt es keine Geschichte, keine Handlung. Es gibt nur Situationen, die variiert werden. Sind Sie mißtrauisch gegenüber Geschichten, gegenüber dem Erzählen?
Czernin: Ich bin nicht prinzipiell mißtrauisch. Warum es beim Theater noch nicht dazu gekommen ist, daß ich sozusagen einen dramatischen Knoten schürze, der dann irgendwann gelöst oder durchschnitten wird, das weiß ich nicht so genau. Ich schreibe jetzt gerade Prosa-Geschichten, die zwischen Märchen und Tierfabel liegen. Diese ungefähr zwanzig kurzen Geschichten sind systematisch miteinander verbunden, und damit ist das nicht viel anders, als wenn ich Gedichte schreiben würde; hier wie dort ist es ein Spiel mit Klassifikationen, also mit Begriffen, die verschieden kombiniert werden.
Müller: Beim Publikum gibt es ja ein starkes Bedürfnis nach Geschichten. Lyrik dagegen wird relativ wenig rezipiert. Was ist der Grund für dieses Mißverhältnis?
Czernin: Vielleicht hat es mit dem Selbstumgang zu tun. Man erzählt sich selber ständig Geschichten über sich und über andere, mehr jedenfalls, als man sich Gedichte vorsagt über andere und über sich. Man macht sich ja auch seine eigene Biografie und die von anderen ungefähr in diesem Modell klar. Ich glaube, Oswald Wien er hat einmal gesagt, man brauche keinen realistischen Roman zu schreiben, denn man lebe sowieso die ganze Zeit so, als schriebe man einen.
Müller: Im Nachwort zu Ihrem Stück schreiben Sie, daß es von den Arbeiten des Bildhauers Richard Serra beeinflußt sei. Worin besteht dieser Einfluß?
Czernin: Beeinflußt würde ich nicht sagen, sondern nur, daß ich ein Gegenstück in ihnen gefunden habe. Die Ähnlichkeit besteht für mich darin, daß die Skulpturen von Serra genau an der Grenze zwischen einer physisch-wörtlich zu nehmenden Welt und einer – mit dem Begriff „Kunstwerk“ schon notwendig verbundenen – Übertragbarkeit stehen. Und auch auf der Bühne sind die Leute ja tatsächlich präsent. Deshalb ist es für mich auch nicht möglich, in einem Stück eine Geschichte zu erzählen. Die physische Präsenz der Schauspieler ist immer auch eine buchstäbliche Präsenz. Eine Geschichte macht dagegen die ganze Sache eindeutig zu einer Fiktion. Und der Witz bei aller Literatur, jedenfalls bei meinem Schreiben, ist ja der, daß man nie genau weiß, oder wissen soll, ob etwas wörtlich zu nehmen ist oder im übertragenen Sinn.
Müller: Oder auf beiden Ebenen.
Czernin: Ja, oder auf beiden Ebenen. Die antike Forderung nach der Einheit von Ort, Zeit und Handlung hat wahrscheinlich etwas mit dieser Präsenz zu tun, mit dieser Unmittelbarkeit, die nicht von vorneherein ausgeschlossen werden sollte. Bei einem Stück von Oscar Wilde, wo in irgendeinem Salon etwas stattfindet, und die nächste Szene spielt dann drei Wochen später, und wieder drei Jahre später endet das Stück, ist es ganz klar, daß man das als Fiktion zu lesen hat. Mich interessiert die Möglichkeit, das Theater unmittelbar-wörtlich und auch physisch als Präsenz zu empfinden.
Müller: Haben andere Künste, etwa bildende Kunst oder Musik, Einfluß auf Ihre Arbeit?
Czernin: Bildende Kunst nur mittelbar, glaube ich. Aber die Musik eindeutig. Ich wollte ursprünglich Musik machen, also komponieren, und habe dann gemerkt, daß ich zu spät mit meiner Ausbildung begonnen und außerdem nicht genug technisches Talent hatte, um das noch ordentlich zu lernen. Ich bin dann erst dadurch zum Schreiben gekommen. In der Musik sprechen mich alle – ich weiß nicht, ob das der richtige Ausdruck ist – „konstruktivistischen“ Ansätze sehr an. Dazu rechne ich zum Beispiel Bach.
Bei Bach muß jedes Motiv, das angeschlagen wird, in einer bestimmten verarbeiteten Form wieder vorkommen; jedes Element hat Folgen für jedes weitere Element. Bei Schönberg kann man das ähnlich feststellen, oder bei Webern, und natürlich auch bei gewissen seriellen Komponisten der 50er Jahre. Was zum Beispiel Bach angeht: In den Gedichten – aber vielleicht ist das nur mein eigener Irrsinn – glaube ich zu sehen, wie ich diese Verfahrensweisen übernehme.
Es gibt ein Gedicht in diesem Band, das spielt mit dem Wort „zugefallen“. Man kann „zugefallen„ lesen in der Bedeutung, daß einem etwas zufällt, im Sinne von „Zufall“; wenn eine Tür zufällt, ist es eine andere Art von „zufallen“; man kann jemandem „zu Gefallen sein“, also jemandem helfen oder ihn in irgend einer Beziehung unterstützen, oder man kann auch sagen, so wie das Wort hier verwendet wird, bedeutet „zu gefallen“ „allzu sehr gefallen“ – das ist vielleicht die abliegendste Bedeutung. Und da dieses Wort am Anfang des Gedichts vorkommt, ist es wie ein Akkord, der aus diesen verschiedenen Bedeutungen besteht. Später aktualisieren dann andere Worte jede dieser Bedeutungen. Im nächsten Satz kommen dann zum Beispiel die Worte „Anklang finden“ vor, und das bezieht sich auf eine Bedeutung von „gefallen“, dann kommt das Wort „Tür“ vor in dem Gedicht, dann kommt „bestürzen“ vor, dann kommt das Wort „zuneigen“ vor. Der „Akkord“ verpflichtet einen gewissermaßen dazu, alle seine Elemente oder möglichst viele davon möglichst systematisch wieder aufzugreifen. Und das wieder in Worten natürlich, die selbst aus verschiedenen Elementen bestehen; in einem Gedicht entwickelt sich dann eine Interferenz dieser verschiedenen Stimmen. Das ist eine Art Polyphonie, soweit so etwas in der Sprache möglich ist.
Das Musikalische liegt also eben nicht darin, worin man üblicherweise das Musikalische vermutet, nämlich in Rhythmus und Klang. Es liegt in der semantischen Entfaltung. Von den verschiedenen Bedeutungen wird man beim normalen Lesen höchstens eine oder zwei aktualisieren, Deswegen sind das auch Gedichte, die man nicht vorlesen kann, die man vielmehr sehen muß, und dann vielleicht laut lesen, und irgendwann beginnt man vielleicht, dieses Spiel zu begreifen.
Müller: Nochmals zu Bach: Nicht umsonst heißt einer Ihrer Gedichtbände Die Kunst des Sonetts. Haben Sie sich in diesem Band an der Kunst der Fuge orientiert, also etwa dahingehend, daß Sie für das Sonett alle Möglichkeiten ausschöpfen wollten, die Bach für die Fuge ausgeschöpft hat?
Czernin: Nein, man kann die Analogie sicher nicht so weit treiben. Der Geist des Unternehmens ist das Entscheidende. Es gibt einen guten Aufsatz von Schuldt über die Ursonate von Schwitters. Er setzt sich darin kritisch mit der Ursonate auseinander, mit dem Argument, daß sie eigentlich keine besonders gelungene Dichtung sei, weil Schwitters die Sonatenform, die zur gleichen Zeit in der Musik nicht mehr unbefragt möglich war, einfach als Schablone übernommen habe, um Musik durch Sprache zu imitieren. Und das ist kein günstiger Ausgangspunkt. Bei mir ist die Analogie zu Bach ziemlich allgemein. Es ist nicht so, daß man sagen könnte, in irgend einer der Fugen ist das passiert, und das könnte jetzt in einem der Sonette auch passieren. So weit kann es nicht gehen.
Müller: Angesichts der immer größer werdenden Bedeutung der neuen elektronischen Medien wird oft ein „Ende“ der Literatur befürchtet. Glauben Sie, daß Literatur als spezifische Kunstform eine Zukunft hat?
Czernin: Ich glaube nicht, daß sich da viel ändern wird. Vielleicht wird man einmal Literatur vom Bildschirm lesen. Im Prinzip wird das aber weit überschätzt.
Müller: Sie selbst experimentieren ja ebenfalls mit Computern. Woran arbeiten Sie da? An einem Dichtungsprogramm?
Czernin: Ich habe vor einigen Jahren begonnen, ein Computerprogramm zu entwerfen, das aber nicht etwa Computertexte produzieren sollte, sondern ich habe – mir das einfach als Werkzeug vorgestellt. Ich wollte Eigenschaften von Texten analysieren können, sofern sie zunächst einmal nicht-semantisch sind. Ich wollte zum Beispiel wissen: In welchen dreisilbigen Wörtern kommen zwei Dentale und die Vokale A und O vor. Der Apparat sollte mir dann eine Liste aus meinen Texten oder aus einem Wörterbuch herausgeben. Später haben wir das Programm so erweitert, daß Fragen auch auf grammatikalische Strukturen bezogen werden können, allerdings mit dem schweren Nachteil, daß man sie selbst markieren muß. Wenn man den Text einschreibt, muß man also jedes Hauptwort mit H markieren.
Ich habe mir ziemlich viel erwartet von diesem Programm, aber es ist keine große Hilfe für mich. Ich habe mir erwartet, daß ich dadurch die Wörter meiner Texte übersichtlicher ordnen kann und dann weiß, wo ich was verwendet habe und wie ich es verwendet habe. Nur: der Arbeitsvorgang des Tippens, Herausholens und Ausdruckens ist äußerst mühsam. Ich habe mich jetzt mit dem Institut für künstliche Intelligenz in Wien in Verbindung gesetzt. Wir wollen das Programm so verbessern, daß man die verschiedenen semantischen und syntaktischen Kategorien nicht mehr eintippen muß, sondern daß der Computer sie automatisch erkennt, wie bei einem Übersetzungsprogramm. Das Programm wäre dann eigentlich ein Klassifikationssystem für semantische Phänomene, wie auch die Rhetorik eines ist. Ich bin nur jetzt nicht mehr so naiv, zu glauben, daß das meine Arbeit wesentlich erleichtern wird. Der eigene „Apparat“ ist offensichtlich sehr gut trainiert auf diese Sachen, man kann das relativ schnell selber machen.
Müller: Im Vorwort zu Ihrem Band Gedichte haben Sie noch zwei Bände zu dem Sonett-Projekt angekündigt, und dann werden Sie ja wahrscheinlich Die Kunst des Dichtens in Angriff nehmen.
Czernin: Was Die Kunst des Dichtens angeht, ist es natürlich unsicher, weil davon noch nicht viel mehr existiert, als in den Gedichten schon enthalten ist. Aber die Sonette sind schon länger fertig, und es ist eher ein Zufall, daß sie noch nicht erschienen sind. Der eine der beiden Bände ist eine Ausweitung auf vier oder fünf semantische Felder, aber dafür sind es weniger Gedichte, und die Gedichte stehen mehr als einzelne da, sind aber dennoch in einen Sonettenkranz integriert.
Den anderen Band nenne ich Zeitsonette. Die Konzeption dieser Texte ist aus dem ersten Teil entstanden. Ich habe mich dabei beschränkt auf Begriffe, die mit „Zeitvergehen“ zu tun haben, und zwar auf ganz abstrakte und allgemeine Begriffe, wie „sein“ und „werden“, „vergehen“ und „anfangen“, „aufhören“. Es ist das, was jeder analytische oder positivistische Philosoph als klassischen Mißbrauch der vorgegebenen Sprache klassifizieren würde – wenn man also die Hilfszeitwörter zu Entitäten aufbläst und aus den Paradoxa, die entstehen, wenn man mit Begriffen wie „anfangen“ und „aufhören“ kontextfrei umgeht, versucht, philosophisches Kapital zu schlagen. Von den Zeitgedichten habe ich wirklich hunderte gemacht, jeden Tag ein paar. Diese Produktionsweise hat zum Thema gehört: Die Zeit vergeht, und man macht immer wieder Sonette über das Vergehen der Zeit. Ich habe dann ein paar ausgewählt, etwa 40 oder 50, und sie geordnet, aber nicht streng systematisch, sondern nur, um einige verschiedene Wege zu zeigen.
Müller: In diesem Jahr ist ein umfangreicheres Werk von Ihnen erschienen, die Aphorismen…
Czernin: Ja, es heißt Die Aphorismen. Eine Einführung in die Mechanik. Seinen Ausgangspunkt hatte dieses Projekt darin, daß mir all diese Aphorismensammlungen auf die Nerven gegangen sind, wenn also jemand Blütenlesen produziert und „Perlen vor die Leser wirft“. Man denkt sich dann immer, das seien großspurige Wahrheiten, denn das Seltsame ist ja der Wahrheitsanspruch der einzelnen Aphorismen.
Vor vielen Jahren habe ich mal eine Bemerkung von Oswald Wiener gelesen, der schrieb, man sollte die Produktion von Aphorismen mechanisieren, denn es stecke nicht viel dahinter; man habe immer das Gefühl, es handele sich um großartige Früchte langen Grübelns, aber das müsse gar nicht so sein. Und dann bin ich noch auf eine andere Geschichte gestoßen: Kurz nach 1900 hat Valéry in einer Literaturzeitschrift Aphorismen veröffentlicht, auf die Breton und Èluard mit Gegenaphorismen antworteten, um sie zu parodieren. Tatsächlich sieht Valery dabei nicht sehr gut aus. Wenn Valéry zum Beispiel schrieb, nachdem er offenbar lange darüber nachgedacht hatte, „Der Gegenstand eines Gedichts ist diesem ebenso fremd und ebenso bedeutsam wie einem Menschen sein Name“, dann haben Èluard und Breton dagegen geschrieben: „Der Gegenstand eines Gedichts ist diesem ebenso eigen und bedeutet ihm ebenso wenig wie einem Menschen sein Name“.
Wenn man über die beiden Sätze nachdenkt, weiß man eigentlich nicht, welchen man für wahrer halten soll, und was es überhaupt für Kriterien dafür gibt. Mich hat dann interessiert, welche Haltungen welche Sätze produzieren. Ich habe ein Klassifikationssystem entworfen, das diese Haltungen bezeichnet, und dann begonnen, mit meinem Freund Benedikt Ledebur Aphorismen zu produzieren und sie in das Klassifikationssystem einzuordnen.
Müller: Worin besteht das Klassifikationssystem?
Czernin: Es gibt neun Hauptkategorien, deren Namen schon andeuten, um was es geht. Eine heißt „Selbstdenker“, das ist eine rationalistisch argumentierende Haltung; eine zweite „Selbstbegrenzer“, das ist eine Haltung, die unter allen Umständen behauptet, daß etwas nicht über etwas anderes hinaus erweitert werden kann; dann gibt es „Selbstfaller“, das sind Skeptiker, manchmal auch Pessimisten, Nihilisten oder philosophische Materialisten, weiter gibt es „Selbsterhöher“, das sind philosophische Idealisten à la deutscher Idealismus, dann gibt es „Selbstteiler“, das sind die, die das Erkennen psychologisieren, ein bißchen wie Nietzsche, wenn man so will, dann gibt es „Selbstempfinder“, das sind Sensualisten, dann gibt es „Selbstfühler“, das ist eine Haltung, die sich auf Emotionen beruft, und schließlich gibt es „Selbstgläubige“, das sind die, die von irrationalen Annahmen ausgehen.
Jede dieser Kategorien bekommt einen Band zugesprochen, ein Band heißt also „Selbstdenker“, der andere „Selbstfühler“ usw. Nur die neunte Kategorie, die ich oben vergessen habe, aufzuzählen, der „Selbstdichter“, hat keinen eigenen Band, denn da das Ganze Dichtung ist, enthalten die einzelnen Bände diese Kategorie sowieso.
Müller: Was planen Sie in nächster Zeit?
Czernin: Ich schreibe gerade an einem Theaterstück. Allerdings bin ich diesmal viel weniger streng als bei meinem ersten Stück. Es beruht auf ihm. Aber ich wollte es nicht in dieser puren Form wiederholen. In dem neuen Stück spielt die Sprache die Hauptrolle. Gesten werden zwar angedeutet, aber nicht so rigoros vorgeschrieben. Es ist daher ein Stück, das sich leichter mit den jetzigen Theaterpraktiken vereinbaren ließe.
Ich habe dabei auch etwas gemacht, was ich vorher theoretisch abgelehnt habe: Ich beziehe mich auf ein allgemein bekanntes theaterhistorisches Faktum, nämlich auf den Sturm von Shakespeare, und setze voraus, daß dieses Stück gekannt wird. Allerdings glaube ich nicht, daß man es kennen muß, um das Stück zu verstehen. Aber es erleichtert natürlich das Verständnis. Und dann schreibe ich an einem Aufsatz über den Dichter Hegel, an der märchenhaften Prosa, und an den Chansons.
Müller: Zum Schluß noch eine Illustriertenfrage: Welche derzeitigen Schriftsteller schätzen Sie am meisten?
Czernin: Die Gedichte von Paul Wühr. Dann die Arbeiten meines Freundes Ferdinand Schmatz, und diejenigen Dieter Roths. Es gibt Prosa von Dieter Roth, die finde ich großartig, und auch wunderbare Gedichte. Über alle Maßen habe ich Priessnitz geschätzt, und die Wiener Gruppe, vor allem Oswald Wiener. Gerade in der Form, wie er konsequent seinen Weg gegangen ist, das imponiert mir sehr, auch wenn ich ihn nicht gehen könnte. Er hat versucht, sich in Gebieten auszubilden, die einem Dichter oder einem Geisteswissenschaftler eher fremd sind, von der Mathematik bis hin zur Computerwissenschaft. Das finde ich nachahmenswert; es ist wie eine moderne Variation des Mann ohne Eigenschaften. Wenn man fähig ist, auf mehreren Gebieten etwas zu tun, gewinnt man dadurch möglicherweise eine Art von Freiheit.
Schreibheft, Heft 42, November 1993
Franz Josef Czernin: Mainzer Poetikvorlesung 1
Frauke Tomczak im Gespräch mit Franz Josef Czernin: Literaturkritik ist eine Erkenntnisform
Erich Klein im Gespräch mit Franz Josef Czernin: „Ich bin nicht der Herr des Textes“
Ronald Pohl: Interview – Dichter Franz Josef Czernin: „Wie ordnet man Kräfte rund ums Wort?“
Der Standart, 7.1.2022
Sehr seltene Single einer österreichischen Band namens YOUNG SOCIETY, drei Singles hat man um das Jahr 1970 herum (immerhin bei Decca) gemacht, hier zu hören die B-Seite der Single Flowers – Songschreiber ist ein gewisser F.J. Czernin – er hatte damals Musik studiert.
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