– Zu Ernst Jandls Gedicht „Spruch mit kurzem o“ aus Ernst Jandl: Gesammelte Werke.Gedichte, Stücke, Prosa. –
ERNST JANDL
Spruch mit kurzem o
Ssso
Natürlich ist das keine Lyrik. Sondern ein dramatischer Abgesang als Schlag- und Stichwort: ein Finale mit der Keule, ein Gedicht wie ein Messer. Man glaubt es buchstäblich zischen zu hören. Jeder Laut zählt, jedes Öffnen der Lippen, alle Spielchen mit Zunge und Zähnen. Demonstrativ lang dehnt sich das dreifach scharfe „S“, ausdrücklich kurzangebunden gibt sich das einfache „O“. Einfach und, in dieser befehlsgewohnt anmutenden Strenge, naturgemäß weit offen. Nicht übertrieben laut aber stecknadelspitz. Und also eigentlich ziemlich ungemütlich.
Ein Liebesgedicht klänge anders, soviel ist sicher. Reim und Rhythmus fehlen völlig. Keine Umstände, soll das heißen, keine Sentimentalitäten, nicht einmal der Anflug eines Gefühls.
Jede Widerrede wäre zwecklos. Ringt einer die Hände, ballt da jemand die Faust? Wir wollen es nicht ausschließen, aber es gehört nicht zum Thema. Dies ist schließlich kein auf- und abschwellender Wechselgesang, auch kein einvernehmliches Raunen mit verteilten Stimmen. Liebevoll, verständnisvoll und, wartet nur ein Weilchen, allemal versöhnungsbereit? Nichts von alledem, so scheint es jedenfalls.
Dies ist, ohne Zweifel, ein Monolog: an niemanden gerichtet – ohne Glaube, ohne Hoffnung, ohne Liebe. Sagt Benn, so ironiefrei und pathetisch, wie das vor fünfzig Jahren ziemlich nachhaltig in Mode war. Außer bei Jandl vielleicht, der in den frühen sechziger Jahren die Produktion dort wiederaufnahm, wo er sie zehn Jahre zuvor unterbrochen hatte: bei Dada und den Expressionisten.
Klar, daß ein Aperçu wie diese Spruchdichtung von 1964 ohne seraphische Töne auskommen muß. Aber ganz ohne Ironie, ohne die selbstverliebte Lust am Spiel, ohne die List der alle Ausgänge bedächtig offenhaltenden contradictio in adiectu? Ein Schlußwort ohne Vorgeschichte? Natürlich und in Wahrheit ist dieses Gedicht ein Dialog. Zumindest die Einladung dazu. Keine Wechselrede eigentlich, sondern vorauseilender Teil einer Antwort: ein Fazit auf Widerruf, eine Bilanz für den Augenblick, als Einladung zu Überprüfung und Widerspruch. Und weder unfreundlich noch unversöhnlich. Keineswegs gemütlich, doch ein Angebot in Ehren. Es ist seit dem Abitur eines meiner Lieblingsgedichte, nicht bloß wegen seiner kaum zu unterbietenden Kürze. Freilich ist Jandls Gedicht, verglichen mit Christian Morgensterns unaufdringlichem Klassiker „Fisches Nachtgesang“, nachgerade geschwätzig.
Franz Josef Görtz, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Dreißigster Band, Insel Verlag, 2007
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