− Zu Reinhard Priessnitz’ Gedicht „reise“ aus dem Lyrikband Reinhard Priessnitz: vierundvierzig gedichte. −
REINHARD PRIESSNITZ
reise
ins zarte feuerland
des frühlings, mein tal,
das uns milde wärmt
und öffnet unseren wünschen
knospen; durch den sommer
weiter, sommersprossig die
wiese, und da kleben wir,
harz an harz; in den halb-
schatten des herbstnach-
mittags, dir durchs haar,
der uns die worte tönt;
bis in ein lappland der lip-
pen, dort, wo uns zärtlich,
als flocken, der schnee
treibt…
Vor zwanzig Jahren ist Reinhard Priessnitz’ einziger von ihm selbst zusammengestellter Gedichtband erschienen.
Mit der Veröffentlichung der ersten großen Arbeiten („+++“, „innerei“, „kleine genesis“ und „einiges“) in der Zeitschrift Akzente (1965) war Priessnitz schon zu einem Begriff für die aufgeschlossene Literaturkritik geworden. Sein Buch aus dem Jahre 1978 bestätigt seinen Platz unter den besten Dichtern der deutschen Sprache.
Für diejenigen, die ihn Mitte der Sechziger Jahre entdeckt hatten, wurde die Drucklegung jedes seiner Gedichte zu einem seltenen Ereignis. Seinen Freunden zeigte er manchmal „Sachen“, die er in Arbeit hatte.
Er war selbst auch Kritiker, schrieb zahlreiche Artikel über die literarischen Produktionen und Ausgaben seiner Zeit. So las man von ihm Aufsätze über H.C. Artmann, über die große Trakl-Ausgabe; er besprach Arno Schmidts Zettels Traum, Oswald Wieners Verbesserung von Mitteleuropa, Paul Celans Atemwende oder Hans Wollschlägers Ulysses-Übersetzung.
Als Mitarbeiter des österreichischen Filmmuseums kannte er das kompromißlose Kino von Eisenstein, Dsiga Vertow, W.C. Field, Karl Valentin bis Jonas Mekas, Kurt Kren und Peter Kubelka. Sein Zetterl-Interview mit Arnulf Rainer hat Helmut Heissenbüttel begeistert. Er unterstützte mehrere noch unbekannte Künstler mit Katalogtexten.
Als Dichter war er zu streng mit seiner eigenen Kunst. Wer weiß, wieviele Entwürfe er vernichtet hat? Der Nachlaßband seiner Werkausgabe beweist, daß sein lyrisches Werk doppelt so umfangreich ist, wie das vor seinem Erscheinen vorgelegene.
Als dreiunddreißigjähriger gab er dann vierundvierzig gedichte heraus. Wie Rimbaud von der Kabala beeinflußt war, liebte Priessnitz Buchstaben- und Zahlenkombinationen. E spielte gut Schach. Es ist also nicht unwahrscheinlich, daß bei seiner Titelwahl nicht nur der von ihm oft erwähnte E.E. Cummings mit seinen 100 selected poems, sondern auch sein eigenes Lebensalter Pate standen. Bis heute hat noch niemand das Ordnungsprinzip seines Bandes entschlüsselt. Die Gedichte folgen ja nicht chronologisch aufeinander.
Priessnitz schrieb auch Prosatexte. Nach der Veröffentlichung seines Gedichtbandes sammelte er Material zu einem Roman. Sein Verleger hat sein Werk und seinen Nachlaß in fünf Bänden herausgebrache. Priessnitz ist 1985 wenige Tage nach seinem vierzigsten Geburtstag an Krebs gestorben.
Fünf Jahre später habe ich in Paris ein Symposion über ihn veranstaltet. 3 Schriftsteller, Literaturwissenschaftler und Psychoanalytiker versammelten sich am Goethe-Institut und am Österreichischen Kulturinstitut, um sein Werk zu untersuchen. Inzwischen widmen sich mehrere Autoren der Erforschung seiner Arbeit. Eine Anzahl seiner Gedichte sind ins Französische übersetzt worden. An einigen Übersetzungen habe ich mitgearbeitet. Eine Auswahl wurde in den der deutschen Dichtung gewidmeten Band der Pleiade aufgenommen. Jedes seiner Gedichte verwebt ein weites und tiefes Wissen. Seine große Belesenheit gestattete ihm, Neues auf dem Boden seiner Kenntnis des Bestehenden zu schaffen.
Die großen Dichter dieses Jahrhunderts haben die Wege der Psychoanalyse gekreuzt. Die einen wurden von ihr angezogen, die anderen abgestoßen. Priessnitz gehörte zu den ersteren. Das heißt nun nicht, daß er von ihr beeinflußt wurde oder sie auf ihn angewendet werden sollte. Die Berührungspunkte liegen tiefer. Wo, soll an zweien seiner Gedichte gezeigt werden.
„reise“
dürfte aus dem Jahr 1968 oder 1969 stammen. Es ist ein Liebesgedicht. Das Wort „reise“ kommt in mindestens zwei anderen Gedichten vor: In „privilegium minus“ („unsere reise, als rose, // vielblättrig, blühte wo immer / wir führen, königin irrfahrt, / “). Hier führt die Reise vom Narzißmus des Traums bis zu seinem Auseinanderbrechen. In „kapitän siebenstrophig“ hat Priessnitz eine ironischere Reise beschrieben („meiner rose fehlt wind“), womit er, ernüchtert, auf „Das trunkene Schiff“ antwortet. Auch spielen beide Gedichte auf Becketts unbewegliche Reisen an, nimmt doch der irische Dichter in „Mercier et Camier“ der Metonymie den Wind aus den Segeln. („Ne te fie jamais au vent qui gonfle tes voiles, il est toujours périmé). Im Gedicht „schluss“, „wo die reise nun nächtigt“, lagert sie auch in den Wörtern „riesig“ und „reisig“.
Das Liebesgedicht „reise“ weist eine seltsame Ansammlung von Pronomina auf. Das „ich“ ist nur durch das Possessivpronomen in „mein tal“ vertreten. Dafür tritt das „wir“ (im Nominativ und im Akkusativ) auf. Dann gibt es da noch die zweite Person in „dir durchs haar“. Es fällt auch auf, daß diese Fürwörter oft an eine erotische Geographie oder Meteorologie des Körpers geknüpft sind, z.B. in „mein tal“, „das uns milde wärmt“, „wo uns zärtlich, als flocken, der schnee treibt“. Die Oppositionen zwischen dem „ich“ und dem „wir“ sind nicht immer symmetrisch angelegt. So geht die Reise zuerst in „mein tal“, von dem dann aber gesagt wird, daß es „uns milde wärmt“. Eine ähnliche Asymmetrie findet sich in den Zeilen 10 und 11 vor: Die Reise des Gedichts fährt „in den halbschatten des herbstnachmittags, dir durchs haar, der uns die worte tönt“. In der zweiten Zeile eignet sich also das Ich einen Ort („mein tal“) an. In der zehnten Zeile ist dieser Ort klar am Körper des Liebesobjekts („dir durchs haar“) angezeigt. Beide Zeilen heben den Objektstatus des Anderen hervor. Das Objekt gehört zum Subjekt. Auf der grammatikalischen Ebene stehen sich also in der zweiten und dritten Zeile „mein“ und „uns“ gegenüber, in der zehnten und elften „dir“ und „uns“, wobei „mein“ und „dir“ das Objekt determinieren. Das Subjekt schreibt sich das Objekt zu („mein tal“, „dir durchs haar“). Dabei ist das Subjekt doppelt vertreten – durch die Abwesenheit des Ichs und durch den Plural „wir“. Wer „wir“ sagt, impliziert, daß er es nur von sich aus tun kann. Aber die Identität seines Selbst ist nicht gewisser als die des „wir“. Was diesem Identitätsmangel abhilft, ist das Objekt des Anderen, dessen sich das Subjekt in der poetischen Durchdringung bemächtigt. Man findet dieses Verfahren, das auch an den Kubismus erinnern mag, schon bei Joyce, der im Ulysses eine Art Organsprache entwickelt, wenn er Eigennamen mit Sinnesorganen (Auge, Ohr, Lippen, … ) verschmilzt.
Die „reise“ wird doppelt unternommen. Von einem zum anderen, aber auch zusammen. Wenn sie vom einen zum anderen verläuft, kommt sie zu einer Reihe von Haltepunkten, die wir als Ausdrücke für das Objekt auffassen. Neben den beiden erwähnten können wir „knospen“, „sommersprossig“, „harz an harz“, „lappland der lippen“ aufzählen. Die beiden Reisenden teilen die Instanzen des Objekts, kommen dort einen Augenblick zur Ruhe. Diese Symmetrie steht der vorher genannten Asymmetrie gegenüber. Aber man merkt, daß den Liebenden nur vorläufige Rast gewährt wird. Insofern sie zusammen reisen, können sie an den Haltepunkten des Objekts nicht verweilen.
Zwischen zwei Schwellenlandschaften verläuft die „reise“. Beide Länder sind einer Jahreszeit zugeordnet und durch paradoxale Epithete gekennzeichnet. Zuerst geht es „ins zarte feuerland des frühlings“ und am Ende bis „in ein lappland der lippen“, wo das Eigenschaftswort „zart“ als Adverb „zärtlich“ wieder auftaucht. Man kann in den paradoxalen Charakterisierungen der beiden erotischen Landschaften eine Umkehrung erkennen. Die poetische Liebesbeziehung beginnt im „zarten feuerland des frühlings“ und erreicht ihre Akme im winterlichen „lappland der lippen“. Die traditionelle Dichtung verbindet mit der Winterreise den Tod. Man könnte aber sagen, daß die beiden Schwellenlandschaften wie bei einer projektiven Ebene im Unendlichen ineinander übergehen. Die erotische Geographie der „reise“ läßt sich nicht auf Körpermetaphern einschränken. Vielmehr alternieren in ihr die Orte der Begegnung mit dem Objekt und der offene Raum des Begehrens des Anderen. Nehmen wir als Beispiel folgende Passage (Zeilen 8-11): „in den halbschatten des herbstnachmittags, dir durchs haar, der uns die worte tönt“. Im Satzteil „dir durchs haar“ engt sich die Rede des Gedichts auf das vom Körper abtrennbare Haar, also auf einen Objektträger, ein. Dieser Redeteil wird aber von zwei anderen Satzteilen eingerahmt. Der „halbschatten des herbstnachmittags“, der an Rafael Albertis Rendezvous „im Erlenschatten“ erinnert, tönt uns die Worte. Diese durch das semantische Feld – „haar“, „tönt“ – ermöglichte Metapher bringt also das Genießen ins Spiel, das dem Anderen, der Sprache, fehlt: das Tönen, die Stimme, die Farbe, die Worte. Die Stelle könnte auf Rimbauds „Sonnet des voyelles“ anspielen, ein Gedicht, das von der Verbindung zwischen den Selbstlauten und den Farben handelt. In seiner Rimbaud-Biographie behauptet Enid Starkie, daß sich schon der französische Dichter bezüglich dieser symbolischen Beziehung zwischen den Lauten und den Farben auf eine lange Tradition berufen kann.
Man findet die selbe Alternanz von Engführung und Öffnung am Beginn und am Ende des Gedichts. Zeilen 1-4: „ins zarte feuerland des frühlings, mein tal, das uns milde wärmt und öffnet unseren wünschen knospen.“ Zeilen 12-15: „bis in ein lappland der lippen, dort, wo uns zärtlich, als flocken, der schnee treibt…“
Die „reise“ durchquert die vier Jahreszeiten, schließt sie aber nicht zum Kreislauf. Dieser Durchlauf der phallischen Diagonale bedient sich vier erotischer Metaphern. 1) „und öffnet unseren wünschen knospen“ (Frühling). 2) „und da kleben wir, harz an harz“ (Sommer). 3) „dir durchs haar“ (Herbst). 4) „in ein lappland der lippen“ (Winter). Alle vier Metaphern evozieren aber zugleich den Anderen der Sprache: die Knospen öffnen sich den Wünschen; die Liebenden kleben komisch „harz an harz“; der halbschatten, der die worte tönt; und das „lappland der lippen“: es ist erogene Zone, aber auch Ort des Sprechens.
In der Metapher für diesen Ort („ein lappland der lippen“) kehrt der Dichter die herkömmliche Rhetorik um. Die Erfüllung der Liebe ließe in den Schlußversen eher Hitze und Glut erwarten als „flocken“ und „schnee“. Wir haben aber schon darauf hingewiesen, daß die Umkehrung in der Opposition der Signifikanten „feuerland“ und „lappland“ vorweggenommen ist. In der Eingangszeile ist das Feuer ja durch das Attribut „zart“ gemildert. Und dieses „zart“ taucht am Schluß als „zärtlich“ wieder auf. Auch wird der Gegensatz auf der Ebene der Referenz aufgehoben. Feuer- wie Lappland sind ja kalte Weltgegenden.
Trotz ihrer Polarität scheinen Feuerland und Lappland ineinander überzugehen. Diese Lesart kann nicht von vornherein ausgeschlossen werden. Dennoch verläuft die „reise“ nicht zyklisch. Sie hat an vier Stellen, die wir als Haltepunkte des Objekts erkannt haben, Station gemacht. Aber der Gedichtschluß zeigt, daß ihr Ziel nicht im Endlichen liegt: „dort, wo uns zärtlich, als flocken, der schnee treibt“.
Die phallische Bedeutung orientiert die Reise, peilt die Orte des Objekts an. Aber sobald ein Ort besetzt ist, verliert er seinen Wert als Ziel der Reise. Sie geht weiter. Schon im Gedicht „schluss“ „nächtigt“ die Reise nur. „reise“ schreibt sich in den Triebdualismus Freuds ein. In ihr entfaltet der Lebenstrieb seine Sinnlichkeit. Aber sie verschweigt auch nicht den Todestrieb, der die phallische Dynamik als Schein bloßstellt und die naturwerdenden Orte wieder auflöst: sie sind nur tönende Worte.
Der suspendierte Gedichtschluß bringt die Überraschung. Die Liebenden fügen sich in ihre Winterreise und lassen sich im unendlichen Raum als Flocken treiben. Genau dort, wo das „wir“ sich durchsetzt, beginnt die (winterliche) Entropie. Hölderlin hat die Vereinigung von Mensch und Gott als ihre Trennung gedacht. Musils Erzählung „Die Vollendung der Liebe“ endet ebenfalls in einer Schneelandschaft, und auch in ihr wird die Vereinigung vor dem Hintergrund von Zerfall gedacht. Man denkt auch an das Schneetreiben im Schlussabsatz von Joyces Novelle „Der Tote“ („The Dead“) in Dubliners. Für Priessnitz ist Liebe eine Reise ins Unendliche.
Im Unterschied zum platonischen Vereinigungsmythos entwirft dieses Gedicht einen Liebesbegriff, der die Trennung und Auflösung nicht fürchtet. Priessnitz hat in „reise“ mehrere Elemente seines „schneelieds“ verarbeitet. Auch „schneelied“ spricht von der Beziehung des Dichters zum Anderen, seinem „sprechenden spiegel“. Von diesem wird in der Eingangszeile gesagt, daß er sich blind spricht. So taucht dann auch das Objekt als Stimme auf, und auch die vom Objekt eingeschlossene Kastration: „spricht seine stimme / henne und hahn / wird wenn es schneit / das sprechen ein winter / schnitter und sense … “.
„schneelied“ endet mit folgenden Versen:
unter schneefall und schneefall
werden wir wandern
mein sprechender spiegel
klirrende fragen
im fallenden traum
Die Liebe zur Sprache und die Liebe zu einer Frau führen nicht zur Vereinigung, sondern zur Überschreitung in den durch das Schneetreiben symbolisierten unendlichen Raum.
[…]
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